2006-07-23

Die Hitzewelle hält an. Meinen täglichen Ausmarsch absolviere ich jetzt möglichst früh am Morgen. Bin heute – Sonntag – um halb sieben losgegangen. Das flach einfallende Licht streift erst gerade die höchsten Wipfel. Der wolkenlose blassblaue Himmel hängt reglos oben hin. Die Luft ist leicht und völlig klar, vom Vortag noch aufgewärmt. Die vielen Quellen und Bäche, deren beständiges Rauschen den Wald sonst erfüllt, sind versiegt, umso deutlicher vernehmbar das Knacken und Knistern im Gehölz, der allmählich aufkommende Jubel der Finken und Meisen. In der Windstille steht der Wald wie gebaut; oder auch – fällt es mir auf? fällt es mir ein? – wie gemalt. Nach jeder Wegbiegung tut sich ein neues Bild auf, Durchblicke bald wie in gothischen Kathedralen, bald wie in den Waldgemälden von Courbet, der ja nicht weit von hier vor der Natur gearbeitet hat.
Natur und Kultur sind, in meiner Wahrnehmung, für Augenblicke versöhnt. Es gibt in diesen Augenblicken nichts Störendes mehr, meine eigne Schwere schwindet, ist geschwunden, nichts kann oder muss zu diesem simplen Glück gesagt werden; es ist, und ich bin, ausser mir, in ihm. Das zu erfahren, es auch verstandesmässig zu realisieren, entspricht genau dem, was ich, Agnostiker, mir als Gebet vorstelle – Dank, noch vor dem Wort, und frei von Wünschen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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