2007-03-11

Eine gigantische Katastrophe muss sich ereignet haben, es gibt keine Versorgung mehr, keine Regierung, der öffentliche Verkehr ist zusammengebrochen; ich befinde mich mit vielen andern Flüchtlingen, die mir meist fremd sind, von denen ich einige aber zu kennen glaube, in einem offenbar weit abgelegnen Waldgebiet; man lebt im Dickicht, es gibt keine Nahrung, keine medizinische Hilfe, niemand weiss, was geschehen ist, jeder ahnt, es geht so etwas wie alles zu Ende; die Leute sterben dahin, man munkelt von Kannibalismus und; aber auch gegenseitige Hilfe scheint zu funktionieren, es herrscht ungewöhnliche Aufmerksamkeit für jede Änderung im Gelände, beim Wetter, es gibt diverse dumpfe Gerüchte, man steht irgendwo an, ohne dass etwas zu holen ist; der Hügel unterm lichten Wald, in dem es wimmelt von weisshäutigen Überlebenden, wird das Solshenizynquadrat genannt; bisweilen rückt eine Tankstelle mit langen Warteschlangen und umgestürzten Autos ins Bild oder; wir befinden uns in einem weitläufigen, sehr niedrigen Raum, der nun rasch mit Sterbenden möbliert wird; wir sind alle schon geweisselt, versuchen, unsre Kräfte zu schonen, uns nicht zu hassen; mir ist klar, ich bin der Letzte meiner Familie, aber jetzt meine ich meinen toten Bruder erkannt zu haben; dennoch bleibt die Dämmerung aus, auch keine Nacht steht bereit, immer nur gleichförmig das Licht von ungeheuer oben, diffus und ohne erkennbare Quelle; niemand von uns, weder Gegner noch Möbel, hat einen Schatten bei sich; die Menschen sind hier, verglichen mit uns, die Fremden, sie schweigen freundlich, es gibt keinerlei Panik, sie verbringen mit uns, als wären wir ihresgleichen, diese uhrlose Zeit in ruhiger Erwartung der Ewigkeit.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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