Baudelaire

Zufällig treffe ich am Central in Zürich E. K., einen alten, erstaunlich jung gebliebnen Freund, mit dem ich allerdings seit Jahren kaum noch in Kontakt bin; er trägt in knisterndem rotem Seidenpapier einen grossen Blumenstrauss auf beiden Armen vor sich her. Schau! sagt er, ich zeig dir meine Blumen des Bösen, und beginnt die Verpackung vorsichtig zu lösen. Zum Vorschein kommt ein dickes Bündel von Metallstengeln, an deren obern Enden jeweils ein verformtes – oder noch ungeformtes – Stück Eisen befestigt ist. Lachend streckt mir E. K. den Strauss vors Gesicht; er sei vor kurzem, erfahre ich nun, mit einer Reisegesellschaft im Libanon gewesen, in der Wüste an einem ehemaligen Kriegsschauplatz habe er diese Metallteile – krepierte, halb verglühte Geschosse – gefunden, gesammelt und als Souvenir mitgenommen. Erst zu Hause sei er dann auf die Idee gekommen, die Granatsplitter «quasi als Blüten» auf diese Drahtstiele zu montieren. Den Strauss bekommt nun meine Exfrau, erklärt er, mit der ich heute den dreizehnten Hochzeitstag feiern kann. Meine Blumen des Bösen! wiederholt er mit merklich triumphierendem Grinsen, und schon hat er sich, sein Bukett überm Kopf schwenkend, verabschiedet. Was aber ist es denn nun, das Leiden schafft?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00