Bücherstube

Hologramme können und sollen in absehbarer Zeit als Datenspeicher genutzt werden. Der Textbestand von vier Millionen Büchern mit je 200 Seiten Umfang würde dann auf einer Scheibe von dreizehn Zentimeter Durchmesser und knapp vier Millimeter Dicke Platz finden und wäre bis aufs letzte Fragezeichen abrufbar. Das Buch als physisch begreifbares Medium wäre dannzumal entbehrlich; entbehrlich nicht nur sämtliche Bibliotheken, sondern auch Druckereien, Buchbindereien, Buchhandlungen.
Ein wundersames Objekt und eine traditionsreiche Industrie gingen damit verloren. Jedermann könnte jedes gewünschte, je erschienene Werk gesamhaft, kapitelweise, in Einzelsätzen abrufen, und mehr als dies – er könnte (und kann ja schon) seinen eignen Text in die gigantische virtuelle Bibliothek einschreiben, die das Internet bereithält, ohne auf einen Verlag, eine Druckerei, eine Buchhandung angewiesen zu sein. Es käme und es kommt zu einer totalen Nivellierung sämtlicher Texte, alle werden unterschiedslos nebeneinander koexistieren, Verleger und Kritiker werden auf die Produktion keinen Einfluss mehr nehmen können. Autorenrechte werden undurchsetzbar sein. Jeder ein Autor. Also keiner ein Künstler. Das Genie verkrümelt und verschwendet sich ins All.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern