Herrenlos

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs legte René Char, der im südfranzösischen Maquis als führendes Mitglied der Armée secrète gekämpft hatte und dabei schwer verwundet worden war, eine überarbeitete Neuausgabe seiner bis dahin umfangreichsten Textsammlung vor. Der herrenlose Hammer (Le Marteau sans maître) – so lautete der surrealistisch inspirierte Titel des Buchs – war mit einem Begleittext von Tzara und einer Illustration von Kandinsky erstmals 1934 erschienen. Char hatte darin einen Grossteil seines Frühwerks aus den Jahren 1929 bis 1933 zusammengefasst, unter anderm die Gedichthefte Waffenkammer (Arsenal, 1929) und Die Aktion der Gerechtigkeit ist gelöscht (L’Action de la justice est éteinte, 1931) sowie die Traumprosa Artine (Artine, 1930); zusätzlich nahm er die lyrische Sequenz Erste Mühle (Moulin premier,  1936) – insgesamt siebzig poetische Aphorismen und 9 Prosagedichte – in den von José Corti in Paris verlegten Band auf. Chars Frühwerk gewann in dieser Auslese von 1945 seine fortan als «definitiv» geltende Textgestalt.
René Char selbst hat die revidierte und ergänzte Neuausgabe damit gerechtfertigt, dass in jenen frühen Texten die «Realität der Jahre 1937 bis 1944», mithin die Jahre der faschistischen Bedrohung und Okkupation, die für ihn auch die Jahre seiner einzigen grossen Liebe waren, vorausgeahnt gewesen seien:

«Der erste freigesetzte Schimmer schwankt zwischen dem Fluch der Folter und dem Wunder der Liebe.»

Dass Dichtung, statt bloss vergangenes Unheil zu bewältigen oder gegenwärtiges Glück festzuhalten, auch Künftiges als Geschichte «vorauszuahnen», ja vorwegzunehmen vermag, davon war Char, für den die Poesie ohnehin einen eignen, absolut souveränen Wirklichkeitsstatus hatte, zutiefst überzeugt. Aufgabe des Dichters sollte weder die Darstellung noch die Erklärung, vielmehr «die produktive Erkenntnis des Wirklichen» sein, wie es im Auftakt zu Erste Mühle heisst; letztlich bringt solche Erkenntnis – aktiviert durch innere Erschütterungen, gesteigert durch den Zufall, in Worte gefasst durch Ausdruckswut und zorniges Hand­werk – eine autonome Welt hervor, nämlich das Gedicht selbst, das bei Char als mögliche Welt der realen Welt vorgeordnet ist: Als «ein kaum wahrgenommener Fluss» habe seine Vorkriegsdichtung Erdreiche durchströmt, «in denen die Akkorde der Fruchtbarkeit bereits erstarben, in denen die Allegorie des Grauens Gestalt anzunehmen begann».
In der möglichen Welt des Gedichts findet das «wahre Leben» statt, das, worüber der Mensch nicht beliebig – nach Bedürfnis, nach Nutzen – verfügen kann, an dem er aber – beim Schreiben, beim Lesen – immer wieder Anteil nimmt in kurzen orgiastischen Erleuchtungen:

«Ergebnis einer fruchtbaren Taktik … Ich stöbere dich auf Licht
Und dann bilden wir ein Paar
So werden wir eingeführt
– aber auf diskrete Weise! –
In die erlebte knappe Wahrnehmung der Wirklichkeit
Wo unsre Gleichgültigkeit über unsre Erfahrung gebietet!»

Wo wir gleichgültig sind, wo für uns alles gleiche Gültigkeit hat, wo es keinerlei Prioritäten und Präferenzen, keine kausale oder chronologische Ordnung gibt, sind wir jenem «wahren Leben» am nächsten, das nichts andres ist als der sprachliche Wahrnehmungsraum (und somit schlechthin: die Wahrheit) des Gedichts. Char behauptet die Autonomie und Authentizität dichterischer Rede (mithin dann eben auch das «wahre Leben») unter anderm dadurch, dass er in seinen metaphernreichen Texten nicht den wie immer gearteten Vergleich mit der realen Welt sucht, sondern die Differenz dazu – das, wodurch die Poesie sich aus dem kommunikativen Diskurs über die Welt ausschliesst, um als eigenständige Sprachwelt bestehen zu können.
Im ersten Abschnitt der lyrischen Suite Artine findet sich auf bloss sechs, sieben Zeilen eine Vielzahl von gleichermassen «gültigen» Substantiven nachbarschaftlich zusammen, obwohl die von ihnen bezeichneten Dinge, die hier – man denkt an surrealistische Bildwerke von Dalí oder Magritte – auf einem Bett ausgebreitet liegen, in der Alltagswirklichkeit wohl nie am gleichen Ort vereint wären: ein geschundnes Tier, ein Bleirohr, ein Windstoss, eine vereiste Muschel, eine Patronenhülse, zwei Finger eines Handschuhs, ein Ölfleck, ein Haar, ein Tag, der Aufhänger eines Mantels, ein Schusternagel usf. Aus solchen assoziativen Kurzschlüssen – bei Char ein gängiges Verfahren – erwächst «die Verzweiflung der Vernunft», gewinnt das Absurde seine eigne Logik, die auch der klassischen Physik konsequent zuwiderläuft. Selbst die Schwerkraft ist in diesen poetischen Gefilden (Erste Mühle) aufgehoben:

«Aus dem Blickwinkel des Spähers und des Schützen missfällt es mir, genau betrachtet, keineswegs, dass die Scheisse aufs Pferd steigt.»

Wiewohl Der herrenlose Hammer von der Ästhetik des Surrealismus deutlich imprägniert ist, lässt das Buch doch – ebenso deutlich – den unverwechselbaren Personalstil René Chars wie auch die hauptsächlichen Koordinaten seiner dichterischen Welt erkennen. Diese bleibt, wenn man vom surrealistischen Beiwerk absieht, auf eine archaisch anmutende Schlichtheit reduziert, die in den Texten durch Adjektive wie «frisch», «rein», «stumm», «hart», «streng», «nackt», «barbarisch» präsent gehalten wird. Der Mensch, meist als Kämpfender oder als Liebender, bisweilen auch als Herden- oder Opfertier imaginiert, gewinnt keine integrale Gestalt, wird meistens, pars pro toto, vorgeführt als «Kopf», «Auge», «Brust», «Herz», «Schenkel». Die Natur – Landschaft und Kosmos – vergegenwärtigt Char vorzugsweise ganz elementar als «Erde», «Wasser», «Licht», «Stein», «Wald», «Meer»; Fauna und Flora sind ebenso elementar vertreten durch «Tier», «Adler», «Hund» und, immer wieder, «Rose».
Mit «Stahl» und «Eisen» und «Blut» verbinden sich Chars Vorahnung von Krieg und Zerstörung, seine Erfahrung von Liebe und Niedertracht, von Machtstreben und Repression. «Militante Gedichte» hat der Autor in der «Waffenkammer» seines Buchs versammelt, und entsprechend oft ist denn auch in diesen Texten von «Kampf», «Eroberung», «Folter», «Grausamkeit» oder «Hinrichtung» die Rede. Doch nie werden die Begriffe thematisch entfaltet, der Autor verwendet sie lediglich als evokative Stichwörter, stellt sie in ungewöhnliche Zusammenhänge, um verfremdende Distanz für neue Einsichten zu schaffen.
Gewalthaft ist bei Char zumeist auch die Liebe, der Geliebte kann «Der Erste Beste Sein», die Geliebte («Einzigartig») eine zufällig Hergelaufne, die sich des «Ersten Besten» bemächtigt:

«Ausgestreckt  auf meinem Mund schläft die Nomadin ein
Äthergestalt wie eine Leidenschaft
Tollheit mittags mitternachts wird sie befruchtet im Koma willkürlicher Liebe.»

Merkwürdiges Fazit einer «Strengen Lektion»:

«Nur wenige haben
Das Licht berührt
In der ersten Klasse
Von der Liebe geformt unterm Höllenstern
Aus niemals vernommenem Blut.»

Sicherlich gehört René Char zu den schwierigsten Autoren der klassischen Moderne. Nicht nur seine alogischen Metaphernbildungen, auch die extrem verknappte Syntax, die Ambivalenz grammatikalischer Konstruktionen, der Vorrang des Worts als solchen vor der Wortbedeutung, die «Vielköpfigkeit» des lyrischen Ich – all dies behindert, verunmöglicht sogar das übliche Textverständnis und lässt den Leser zum Träumer werden. Unverbunden, deshalb auch weitgehend unverständlich ist die Char’sche Dichtung auf der Bedeutungsebene; auf der Wortebene indes, wo Sprache vorab in ihrer klanglichen und rhythmischen Qualität wahrzunehmen ist, bildet die dichterische Rede selbst, unabhängig von dem, was sie mitteilt, den Zusammenhang und wird verständlich als das, was sie ist:

«Als würde die übertaute Nacht deine Schmiede im Paarsinn gesprochen beim Wachsein ertappen …»

Um solches zu «verstehen», bedarf es keines Vorwissens und keiner besondern Kompetenzen, gefordert ist hier die eigenwillige, vielleicht naive Lektüre, die sich auf spontane Wahrnehmungen und Assoziationen verlässt, um dem Geschriebnen einen immer wieder neuen, vom Autor womöglich gar nicht intendierten Sinn zu geben, statt den Text bloss nach seiner Bedeutung abzufragen.

«Du, Leser, musst die Verbindungen herstellen», heisst es an einer durchaus verständlichen Stelle bei Char; aber auch:

«Du, Träumer, musst die Verbindungen beseitigen.»

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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