Hundeleben

Das Sinnliche wie das Böse bleibt für Kafka angesiedelt im Leib, ist identisch mit ihm und wird in striktem Gegenzug zum Geist gedacht: Soma mit Logos im fatalen Widerstreit. Dass aber der Leib jenes Wesentliche ist, das Mensch und Tier gleichermassen haben, das hat auch Kafka begriffen, zumindest geahnt, denn im Leib, im Geschlecht, wo er das Böse verortet wusste, residierte sein permanenter Schmerz – das Leben; die Fähigkeit, «mit dem Bauch» zu denken und hin und wieder einen «klaren schönen Gedankengang» zu bewerkstelligen, bleibt, wie es in Kafkas Entwurf zum Bericht eines Affen an eine Akademie heisst, den Tieren vorbehalten. Friedrich Nietzsche, dem der sinnlich wahrnehmende Leib weniger eine Bedrohung denn ein Aggregat des Erkennens war, hat den Schmerz – das Ungemach, am Leben zu sein – der dunklen Tierwelt zugeordnet, hat ihn namhaft gemacht als seinen Hund: «Ich habe meinem Schmerz einen Namen gegeben und rufe ihn ‹Hund› – er ist ebenso treu, ebenso zudringlich und schamlos, ebenso unterhaltend, ebenso klug wie jeder andre Hund – und ich kann ihn anherrschen und meine bösen Launen an ihm auslassen: wie es andere mit ihren Hunden, Dienern und Frauen machen.»
«Was werde ich durch mein Tier werden, mein Erbstück?», fragt sich der Icherzähler in einem nachgelassnen Notat Franz Kafkas zu Eine Kreuzung. Hier darf freilich gelacht werden über den Bastard, der Lamm und Katze zugleich ist und «fast auch noch ein Hund» sein will, doch eigentlich möchte der überforderte Besitzer das Tier weghaben, er wünscht ihm «das Messer des Fleischers», vermag es dann aber – so sehr ist’s Teil von ihm – der «Erlösung» doch nicht auszuliefern. Stattdessen wird er 
selbst, zur namenlosen Existenz geschrumpft und bürokratisch rubriziert unterm Kürzel K., im Roman Der Process solcher Erlösung teilhaftig. Zuvor allerdings muss ihm die Einsicht dämmern, dass das Tier nicht als ein Anderes ihm entgegengesetzt, auf ihn angesetzt, dass es vielmehr und schon immer mit ihm identisch war. So vollendet K. seine Menschwerdung, indem er in sich den Hund erkennt und sich als solchen akzeptiert; und wenn Kafka seinen Protagonisten an dieser äussersten Stelle, mit der folgerichtig auch der Text abbricht, dem erlösenden Messer ausliefert, lässt er noch einmal den «Herrn» über den «Hund», den Geist über den Leib triumphieren: «… an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stiess und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. ‹Wie ein Hund!› sagte er, es war, als wollte die Scham ihn überleben.» – «Er» steht hier, wohlgemerkt, für K.; der «Hund» vertritt gleichermassen das Ich des Helden und die Person des Autors, während die «Herren», als Repräsentanten des üblichen, zivilisatorisch beglaubigten Macht-, Nützlichkeits- und Vernunftdenkens, durchaus der menschlichen Norm und Normalität entsprechen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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