Lesezeichen [3]

«Die Geschichte», lese ich bei Jean-Luc Godard, «ist das Werk von Werken.» Und noch: «Man wird im Museum geboren, das ist doch unsre Heimat, und wir sind die Einzigen …» Als Künstler mache er keine sonderlich wichtige Arbeit, er erstelle «bloss die Anhänge».

Rilkes Übersetzung der Sonette von Louize Labé – als übersetzte hier eine Frau einen Mann.
«Nicht ich wähle meine Werke, sondern sie wählen mich, und ich habe sie oft gegen meinen Willen geschrieben», heisst es in einem Brief Marina Zwetajewas: «Wenn ich mich diesem Ruf hingab, manchmal sehend, manchmal blind, so habe ich mich untergeordnet und versucht, die mir gestellte Aufgabe mit dem Ohr zu erfassen.» – Mit dem Ohr erfassen, was immer nicht spricht; zur Sprache bringen, was vor aller Bedeutung in mir schwingt als dumpfer (zum Wort, zum Vers drängender) Klang.

Grossartig die Aufzeichnungen von Genet über Giacometti, etwa die Notiz darüber, wie er im Atelier des Künstlers sich nach einer fallengelassnen Zigarette bückt und dabei im Staub und Dreck unterm Tisch eine winzige Skulptur entdeckt («die schönste Statue von G. überhaupt»); ein starkes Werk, soll Giacometti dazu gesagt haben, könne vergessen werden, aber nicht verloren gehn, «es wird sich zeigen», früher oder später; ob solche Zuversicht noch heute gilt?

Alain wieder- und weitergelesen; staunenswert seine während Jahrzehnten gleichbleibende Schreibweise bei ständig wechselnder Thematik; gleichbleibend auch das Verfahren, vom Rand her, von irgendeinem zufälligen Detail, einem Zitat, einem fait divers, einer Traum- oder Lesererfahrung, einer Kindheits- oder Kriegserinnerung auszugehen, sich beim Schreiben durch das Schreiben leiten zu lassen, schliesslich anzukommen an einem Punkt, den man nicht gesucht hat, nur hat finden können. Alains Schreibbewegung geht immer von etwas Vorgegebnem aus, statt darauf einzugehn; unentwegte Anfänge, aus deren Dynamik und Fortführung die Ziele allmählich entworfen, konturiert, schliesslich festgestellt werden. So kommt er bei Sätzen an wie diesen:

«Der Handwerker, der nur Handwerker ist, steht dem Schönen näher als der Künstler, der nur Künstler ist; der Architekt hat dem Maurer zu folgen.»

«Der Künstler muss die Erinnerung überwinden, um sie erfinden zu können.»

«Kraft ist schön im Ruhezustand.» Usf.

Peter Kurzeck: «Als Schriftsteller bin ich zuständig für die Vielfalt der Welt.» Das nimmt sich aus, als wär’s ein göttlicher Auftrag; und wie lässt sich diese Zuständigkeit literarisch legitimieren? – «Aber über das, was das Schreiben mit mir anrichtet, habe ich keine Macht.» Also hat der Autor doch nicht das erste, vielleicht aber, mit ein wenig Glück, das letzte Wort.

Blanchot zitiert Michaux: «Um an einer Droge Gefallen zu finden, muss man Subjekt sein wollen.» – Subjekt sein: sich unterwerfen oder unterworfen werden. Wäre die Droge mit dem zu vergleichen, was einst die gute alte Muse war?

Das Wort als solches (Chlebnikow, Krutschonych); das Wort in seiner sinnlich erfahrbaren Dinghaftigkeit (Schwitters, Ponge); der Text also – wie das abstrakt-konkrete Bildwerk – nicht mehr vorab in seiner repräsentativen Funktion bezüglich der ausserliterarischen Wirklichkeit begriffen, sondern als deren integraler Teil präsent. Etwa so wie bei Daniil Charms: «Es sieht so aus, als könnte man die dinghaft gewordenen Gedichte vom Papier lösen und aus dem Fenster werfen, und das Fenster ginge dabei in Stücke.» Die reale Kunst der Leningrader Oberiuten, zu deren Gründungsmitgliedern Charms in den 1920er Jahren gehörte, sollte der kanonisierten Kunst des Realismus polemisch zuwiderlaufen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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