Muttersohn

Peter Weiss gibt sich als Tagebuchschreiber – das postum veröffentlichte Kopenhagener Journal ist das letzte Beispiel dafür – in diversen Rollen zu erkennen, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie alle getragen und kontrolliert sind von einem autoritativen, in sich allerdings brüchigen Ichbewusstsein. Ob als sexueller Desperado oder als militanter Sozialist, ob als formstrenger Künstler oder als depressiver Grübler – stets wirkt Weiss gleichermassen authentisch und scheint doch, egal wie er auftritt, nur ein einziges existentielles Bedürfnis zu haben: «Zärtlichkeit, Wärme, körperliche Nähe.» Das sind Qualitäten, die er bei seiner Mutter, später bei seiner Frau reichlich vorfand, die er aber, ideologisch voreingenommen, wenn nicht verblendet, einer bürgerlichen Lebenshaltung zuordnete und entsprechend schroff von sich wies. Selbstquälerisch entzog er sich dem erträumten Glück, wann immer es – für Stunden, für eine Nacht – greifbar wurde, um sich bis zur Selbstkasteiung der sozialen Kälte und dem sexuellen Hunger auszusetzen.
Vom Faszinosum verschlingender Weiblichkeit und bergender Mütterlichkeit fühlte er sich unwiderstehlich angezogen, und doch scheint ihn das eine wie das andre bald bedroht, bald gelangweilt zu haben. So musste er, was er begehrte, verwerfen; den Frauen, die ihn liebten, zog er immer wieder Prostituierte, Zufallsbekannte oder auch die Onanie vor, obwohl ihn diese mindere Art von Sexualität meist mit Ekel erfüllte und stets mit Schuldgefühlen zurückliess. Doch sein Selbstverständnis als bekennender Linksintellektueller liess es offenkundig nicht zu, den eignen wahren Empfindungen und Bedürfnissen nachzuleben.
Nur im intimen Tagebuch, dessen Autor – er selbst – zugleich dessen einziger Leser sein sollte, konnte er es wagen, hin und wieder auch «die Glücksmöglichkeiten, die Wärmemöglichkeiten des Lebens» zu bedenken und seinen Drang nach Kampf und Produktivität hintanzustellen. Mit fast schon sentimentaler Rührung erinnert er sich an einen Aufenthalt mit seiner Frau in Paris, an einen Augenblick liebender Übereinstimmung und Geborgenheit, den er ausserhalb des Tagebuchs niemals hätte belobigen können: «Paris bekam Leben erst durch ein menschliches Erlebnis. Der Spaziergang, Oktober 1952, mit Gunilla, längs der Allee auf der langgestreckten Seine-Insel, im Abendlicht, rötlicher Abglanz der Sonne auf dem Eiffelturm, das vergilbte Laub, 
Gunillas Hand, in meiner Manteltasche, in meine Hand geschoben.»
Mehrfach kehren solche Momente glückhafter Intimität und Intensität im Kopenhagener Journal wieder, doch immer wieder werden sie als Relikte falschen bourgeoisen Bewusstseins verdrängt und abgewertet durch stumpfe klassenkämpferische Imperative. Es ist eindrücklich, aber auch durchaus peinlich, wie Peter Weiss, entgegen seiner wahren Empfindung, Menschen und Emotionen abschmettert, weil sie seinen «Sympathien für einen revolutionären Kommunismus» nicht entsprechen können, Sympathien überdies, die er selbst – und sei’s auch bloss in seinem Tagebuch – als «Illusionen» durchschaut. Man braucht ihm das nicht als intellektuelle Arroganz anzukreiden, eher ist es eine Form von ideologischer Selbstzensur, die sich bis zur masochistischen Zerknirschung steigern kann. «Davon ausgegangen, dass man irgendwo hingehören müsse», notiert er im Journal: «Es ist mir immer noch nicht geglückt, eine Lebensauffassung auf Grund meiner Erfahrungen aufzubauen. Das, aus dem ich mich, wie ich mir einbildete, herausgearbeitet habe, scheine ich doch immer wieder zu vermissen. Der kindliche Wunsch einer Zugehörigkeit erschwert mir immer noch den Weg in die Freiheit, die einzige Freiheit, die für mich möglich ist.»
Da Weiss nur eine «einzige Freiheit» zulassen kann, eine ideologisch definierte, und nicht eine individuell ausgelebte Freiheit, betrügt er sich selbst um den geistigen und emotionalen Freiraum, von dem er als «Bürgersohn» träumt, den er als Kommunist jedoch meiden muss: «Anstatt für diese Offenheit, diese Ungebundenheit zu leben, sacke ich ab in ein Frösteln, in ein kleinliches Verzagen, fühle mich als Fremder, anstatt mich als Eroberer zu fühlen. Das, wovon ich oft träume, das Gebanntsein im Verbrauchten von innen nach aussen zu stülpen, müsste mir einmal gelingen.»
Gelungen ist ihm die Verwirklichung dieses Traums nicht; gelungen ist ihm aber die Vergegenwärtigung seines Scheiterns, 
und vermutlich war solches Gelingen allein im Tagebuch möglich, dessen Autor in der multiplen Rolle des Berichterstatters, des Protagonisten und des einzigen Lesers auftritt, was ihm, unbelastet sowohl von künstlerischen Ansprüchen wie auch von Publikumserwartungen, überhaupt erst die Möglichkeit gibt, sich selbst gegenüber offen, ehrlich zu sein; ein anstrengendes Unterfangen: «… die Aufzeichnungen, mit denen ich mich während der letzten Monate beschäftigte, saugen mich so tief hinein in Dunkles und Gefahrvolles, dass ich ermattet, erloschen bin abends …»
Anderseits stellt man fest, dass die von Weiss so konsequent angestrebte Ehrlichkeit und Offenheit nicht über den Tagebuchtext hinaus, nämlich ins alltägliche Leben reicht und dass sie auch innerhalb des Texts an ihre Grenzen stösst – an die Grenzen der Sprache. Gerade solchen Texten, die sich als absolut offen und ehrlich darbieten, haftet durchweg eine besondere Politur von Künstlichkeit an, die denn auch oft – Peter Weiss macht hier keine Ausnahme – künstlerisch genutzt wird. Dieses Paradoxon ist darauf zurückzuführen, dass Authentizität nicht durch Sprache, sondern einzig als Sprache zu realisieren ist. Wer vermittels der Sprache aussersprachliche Fakten zu vergegenwärtigen sucht, ist immer schon, ob er’s will oder nicht, in einen Übersetzungsprozess involviert; denn kein Ding kann im Wort unmittelbar präsent gemacht, kann bestenfalls mittelbar durch das Wort repräsentiert werden. Sprachliche Authentizität  ist einzig dort erreichbar, wo die Sprache als solche in ihrem Realitätsstatus erkannt und aktiviert wird, also beispielsweise in der ekstatischen Zungenrede oder in der von der Wortbedeutung weitgehend abgelösten Lautpoesie.
Auch Weiss geht fehl in der Annahme, das intime Tagebuch unter Umgehung der «Er-Form» als reinen Egotext instrumentieren zu können, übersieht er doch bei all seiner selbstkritischen Aufmerksamkeit und Strenge die schlichte Tatsache, dass er, wenn er «ich» sagt oder gar «ich» schreibt, in Wirklichkeit eine «Er-
Form» verwendet, die das sprechende, das schreibende Subjekt zum Objekt des Sprechens und Schreibens macht, ihm also keineswegs zu unmittelbarem authentischem Ausdruck verhelfen kann. Solches geschieht wohl, diesseits der Sprache, viel eher in der Liebe: «Beim Coitus im Dunkeln das Zerfliessen der Persönlichkeit. Ich bin nicht nur ich. Bin für meine Partnerin wahrscheinlich ebenso verschiedene andere wie sie es für mich ist.» Und gleich daneben steht im Kopenhagener Journal: «Tagebuchschreiben. Entweder glaubt man, dass man so viel Wesentliches sieht, und man kommt sich wichtig vor. Oder, vielleicht, schreibt man um zu prüfen, ob sich was Wesentliches ereignet.» Wenig später dann: «Zum Tagebuchschreiben muss man sich doch ungeheuer ernst nehmen und fest an sich glauben. Das glückt mir nicht.» Sicherlich ist das «Zerfliessen der Persönlichkeit» authentischer in sexuellen Beziehungen zu erspüren als beim linearen Akt des Schreibens, wie sehr man sich auch um dessen Offenheit und Ehrlichkeit bemüht.
Vielleicht ist Peter Weiss die Problematik beziehungsweise die Unmöglichkeit authentischen Schreibens bei der Arbeit am Ko­penhagener Journal bewusst geworden; vielleicht hat er eben deshalb das Experiment des Tagebuchschreibens nach nur wenigen Monaten abgebrochen, um sich ganz seinen Prosaprojekten zu widmen, die er zwar ebenfalls in der ersten Person der Einzahl niederschrieb (und für die er im Übrigen immer wieder auch Materialien aus dem Journal verwendete), für die er aber das Ich- Sagen an einen Erzähler delegierte, der nicht mehr mit ihm als Autor identisch, sondern lediglich ihm ähnlich sein sollte.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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