Nachgeschrieben

Alexander Kluge, vielfach ausgezeichneter und respektvoll belobigter Schriftsteller, ist kein «Autor» im üblichen Verständnis, keiner jedenfalls, der mit unverwechselbarer Handschrift «Neues», nie Gelesnes hervorbringt. Dennoch ist er – gerade deshalb – ein ganz und gar zeitgemässer Literat, der Jetztzeit gemässer als die meisten jüngeren und jüngsten Autoren, die mit flottem, am Literaturinstitut erlerntem Zeitstil, mit spannenden Plots und nicht zuletzt mit der Wenigkeit ihrer Person Furore machen. Bei Kluge bleibt die «Funktion Autor» auf die Beschaffung, die Klassifikation, die modifizierende Nachschrift, den rasanten Zusammenschnitt und die neuartige, oft überraschende, dadurch auch erhellende Perspektivierung von Fremdtexten unterschiedlichster Art – historischen Dokumenten ebenso wie vermischten Meldungen vom Tag, Zitaten aus wissenschaftlicher und belletristischer Literatur, aus (oder nach) Reportagen, Tagebüchern, Briefen, oft auch aus mündlichen Mitteilungen. Und selbst das, was von Kluge aus eigner Erinnerung, Beobachtung, Erfahrung, Reflexion eingebracht wird, ist in aller Regel so weitgehend neutralisiert und objektiviert, dass es sich wie fremde Rede ausnimmt.
Seit Jahrzehnten ist Kluge an der Arbeit, kaum etwas hat sich seit seinen Anfängen merklich geändert, weder seine historischen, sozialen, politischen Interessen noch die Art und Weise, wie er 
sein Textmaterial arrangiert. Allerdings haben seine Bücher an Umfang stark zugenommen, die jüngsten Bände – Chronik der Gefühle, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Die Lücke, die der Teufel lässt, Geschichten vom Kino – belaufen sich je auf 350 bis 1.000 Druckseiten, setzen sich zusammen aus jeweils mehreren grossen Themen- beziehungsweise Problemfeldern, die ihrerseits variantenreich parzelliert sind in eine Vielzahl von Mikrotexten. Deren Länge schwankt zwischen ein paar Seiten und ein paar Zeilen, und ihre Form baut sich auf aus faktographischen, narrativen, autobiographischen, szenischen, dialogischen Versatzstücken unterschiedlichen Zuschnitts.
Allein die Titel der vielen Einzelstücke – in Tür an Tür mit einem anderen Leben sind es deren 375 auf 631 Seiten – lassen erkennen, aus was für disparaten Bausteinen das massive Textkonglomerat gefügt ist. Da finden sich vermischte Mitteilungen wie «Massensterben von Zirkusunternehmen», «Ein Fall von kollektiver Hysterie» oder «Der Brand des Elefantenhauses in Chicago»; Auskünfte zu Fragen wie «Was ist Fortschritt im Sinne der Evolution heute?» oder «Welchen Menschentyp braucht die Leitung eines globalen Konzerns?»; philosophische Brocken wie «Der dunkle Heraklit» und «Die Stunde, in der das Ich entsteht»; Kitschangebote wie «Die Liebe siegt», «Ein Mädchen aus Posen»; hintergründig Anekdotisches wie «Walter Benjamin kommt nach Halberstadt» oder «Aus Liebesmangel kann man sterben» usf.
Beispielshalber verweise ich hier auf Teil 6 von Tür an Tür, der den «Abschied von den Lokomotiven» zum Thema hat, eine Textfolge, die – beginnend mit dem Jahr 2006 und zurückführend in die Anfänge des Eisenbahnverkehrs – die Geschichte, die Konjunktur und die nachfolgende unaufhaltsame Entwertung einer Fortschrittsmetapher rekapituliert. Revolutionen seien die Lokomotiven der Geschichtsentwicklung, hatte einst Karl Marx erklärt; daraus wurde ein oft zitiertes geflügeltes Wort, das der Lokomotive über ihre technische Perfektion und ihren wirtschaftlichen Nutzen hinaus zu hoher Symbolkraft verhalf – 
einer Kraft, die sie nach der siegreichen Oktoberrevolution allmählich an die weit innovativere und symbolträchtigere Fliegerei verlor.
«Abschied von den Lokomotiven» heisst also auch Abschied vom revolutionären Geschichtsverständnis, Abschied vielleicht vom linearen Fortschrittsdenken überhaupt. Das ist die Grundidee, die Kluges lockere Textfolge zusammenhält. Diese wiederum besteht aus rund zwei Dutzend «Geschichten» aus der Geschichte des Eisenbahnwesens, Berichte über verschiedenste Vorfälle und Unfälle aus 150 Jahren, Beschreibungen von Bau- und Funktionsweisen historischer Lokomotiven sowie von politischen und wirtschaftlichen Implikationen der Eisenbahnindustrie. Als Subtext für seine Ausführungen verwendet Kluge einen weithin unbekannten, als Privatdruck publizierten Aufsatz von Ulrich Erckenbrecht zur Metaphernlogik der Eisenbahn. Diesen und diverse weitere Fremdtexte legt er, mehr oder minder explizit, seiner eignen Schreibarbeit zugrund, sein auktorialer Zugriff besteht darin (und beschränkt sich weitgehend darauf ), die vorliegenden Texte zu redigieren, das heisst sie nach- und umzuschreiben, sie zu kürzen oder zu ergänzen, vorab jedenfalls – sie dem eignen Projekt anzupassen und die einzelnen Stücke zu einem neuen Textensemble zusammenzuführen, das in manchen Fällen durch quasidokumentarisches Bildmateral zusätzlich verfremdet wird.
Kluge selbst hat sein Verfahren vor Jahren in einem Interview mit Jörg Becker als «Paraphrasierung» beziehungsweise als «vertrauenswürdige Rekapitulation» bezeichnet. Ihm schwebt nach eignem Bekunden so etwas wie die «Wiederaufnahme der Enzykopädie» vor, deren rationale Ausrichtung durch die alogische Ordnung des Alphabets in ähnlicher Weise unterlaufen wird wie seine eignen systematisch konzipierten Werke durch die aratio
nale Abfolge der «Geschichten», aus denen sie erwachsen. Wenn Alexander Kluge den Heiligen Hieronymus im Gehäuse zu seinem Vorbild erklärt, darf man ihn wohl in der Nachfolge des Chronisten sehen, der «sich auf fremde Texte verlässt und diese weiterleitet». Damit stellt er sich in Gegensatz zur heute gängigen Belletristik mit ihrem Hang zur grossen Fiktion, zu Subjektivität und phantastischem Realismus, in Gegensatz auch zu all jenen Autoren, die eher durch mediale Präsenz als durch literarische Leistung brillieren. «In Schriften ist die DEMUT, d.h. das Selbstbewusstsein, enthalten», unterstreicht Kluge in einem Text von Rabbi Bekri: «Auch wenn wir wenig wissen, können wir auf Augen- und Ohrenmass dessen, was in den Schriften festgehalten ist, vertrauen …»

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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