Primus

Alain, auf den ich in grössern Abständen immer wieder zurückkomme, halte ich für einen der intelligentesten, anregendsten, konsequentesten, dabei unspektakulärsten Autoren überhaupt; er ist tatsächlich so etwas – so jemand – wie ein Montaigne des 20. Jahrhunderts, wenn auch (vielleicht und leider) etwas eleganter als dieser; über buchstäblich alles zwischen dem Ausfall beim Fechten und dem Satzbau bei Valéry weiss er kurz, präzis, informativ, auch unterhaltsam zu handeln; sein Fehler ist, dass er nie einen Fehler macht, dass er immer «grundsätzlich» richtig liegt; jeder Satz von ihm steht korrekt wie eine Gravur da, gleichsam für die Ewigkeit; dass er bei seiner buchhalterischen Präzision auch noch ein Graphoman ist, der unentwegt druckreif ins Reine schreibt, kommt erschwerend dazu – wie das Stirnaug Polyphems. Perfektion kann Vollkommenheit verhindern.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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