Selbstvergessen

Er war einmal … es war im Sommer sechsundneunzig, genauer – am 25. Juli, als ich, nach einem kurzen Zwischenhalt in Kijew, mit dem Zug in Richtung Lemberg unterwegs war, um dort, profitierend von der noch unter Gorbatschow, zu Sowjetzeiten, angesagten «neuen Transparenz», im städtischen Archiv – meine Gross- und Urgrosseltern mütterlicherseits waren in Lemberg beheimatet gewesen – nach Familiendokumenten zu suchen. Es war, gewissermassen, eine Reise zu den Quellen; und tatsächlich bin ich damals denn auch, gebeugt über unerwartet ergiebige und schicksalsträchtige Funde, meinen Vorfahren um vieles näher gekommen.
Doch nicht davon ist die Rede hier.
Ich will bloss auf einen ziemlich trivialen Begleitumstand jener Reise verweisen … darauf nämlich, dass – und wie – ich in einem Augenblick der Selbstvergessenheit an mich erinnert wurde; und welchen Weg es brauchte, um in solcher Ferne – also bei mir selbst – anzukommen.
Ich berichte, wie unerheblich das Geschehene auch sein mag, kurz das Wichtigste. Klopapier gibt es, soweit ich beobachten konnte, in den Toiletten der Ukrainischen Staatsbahnen ebenso wenig wie draussen in den öffentlichen Bedürfnisanstalten; stattdessen werden für den fraglichen Zweck weithin, wie eh und je, alte Zeitungen verwendet, die gewöhnlich blattweise oder in Fetzen in einem an der Wand befestigten Blechbehälter stecken, oft auch einfach auf dem Boden liegen. Als ich während meiner Reise, es war, wenn ich mich korrekt erinnere, nur wenige Minuten vor der Ankunft in Lemberg, das Bordklo aufsuchte, sah ich am Boden zwischen andern Papieren einen Zeitungsausriss mit Gedichten liegen. Ich griff nach dem halb zerknüllten, von Schuhabdrucken und Urinspritzern beschmutzten Blatt, strich’s auf dem rechten Oberschenkel glatt, faltete es, steckte es ein.
Erst Stunden später, als ich mich im Hotel umzog und meine Ausweise und Fahrscheine aus der innern Jackentasche holte, um sie im Safe bei der Reception zu deponieren, kam mir der Ausriss wieder in die Hand. Ich stand vor der offnen, mit einem grossen Spiegel versehenen Schranktür, sah, wie ich den mehrfach gefalteten Zeitungsausriss wieder aufschlug … ich begann zu lesen.
Die zweidrei kurzen Gedichte, russisch gedruckt, nahmen ungefähr ein Drittel der schräg von oben rechts nach unten links zerrissnen Seite ein; teilweise waren die Texte deshalb unvollständig, der Name des Autors fehlte, auch war nicht zu erkennen, welcher Zeitung das Blatt, offenbar eine Feuilletonseite, entstammte, da der Lauftitel oben links, vermutlich mit dem Erscheinungsdatum, ebenfalls abgerissen worden war. Die Gedichte mussten also, da ihre Herkunft unbestimmt und – was mich anging – unbestimmbar war, für sich selbst sprechen.
Immerhin kamen sie mir schon beim ersten Durchlesen merkwürdig vertraut vor; ich betone – merkwürdig; und gleichzeitig doch auch vertraut. Um es kurz zu machen … ich will nur berichten, dass ich die Texte, soweit sie erhalten geblieben waren, 
auf dem Rückflug von Kijew über Moskau nach Zürich zum Zeitvertreib ohne grosse Anstrengung übersetzte, wobei das ambivalente Gefühl von Vertrautheit und Merkwürdigkeit sich noch verstärkte, mich diesmal aber eher unangenehm berührte. Im Vergleich mit andern russischen Autoren, die ich gelesen, zum Teil auch übersetzt hatte, glaubte ich hier eine befremdliche Stimme zu vernehmen, zu der es in der zeitgenössischen Dichtung Russlands keine Entsprechung gab und der ich folglich auch keinen Urheber zuordnen konnte. Momentweise stellte ich mir die Frage, ob es sich bei den Texten vielleicht um Nachdrucke aus den zwanziger Jahren (Olejnikow? Wwedenskij? Charms?) handelte.
Ein paar Wochen später, als ich bei einem Nachtessen im Freundeskreis von meiner Reise nach Lemberg erzählte und zu vorgerückter Stunde gebeten wurde, das eine oder andre jener Gedichte in meiner Rohübersetzung vorzulesen, äusserte I. F. zu meinem Erstaunen sofort die Vermutung, die Texte könnten doch eigentlich nur von mir («von dir») selbst geschrieben worden sein, und tatsächlich erkannte ich nun unversehens in meiner Übersetzung … was? Ich erkannte, zumindest erahnte ich den Urtext, ich erinnerte mich plötzlich ganz klar an das, was ich selbst einst geschrieben und dann, wie es bei mir üblich und auch notwendig ist, vergessen hatte. Hier …
… jetzt lege ich diese Texte, lange nach jenem Fest, noch einmal vor – zuerst kursiv jeweils meine Übersetzung, genauer also: Rückübersetzung ins Deutsche, dann die ursprüngliche Fassung der *Gedichte, die der unbekannte russische Übersetzer dem Band Restnatur, erschienen 1994 bei Kleinheinrich in Münster, entnommen hat. Man nehme und lese sie als das, was Gedichte gemeinhin sind – Übersetzungen, deren Urtext wir nicht kennen.

I

[Titel und Textanfang (?) fehlen]
[…] wer
Welt aus Mir
schafft. Bleibt
Sonne trotzdem drin.
Doch
nicht die Spur.

*Gau

Und wer
die Welt aus der Welt
schafft. Bleibt
die Sonne
dennoch innen. Aber
keine Spur

 

II

Sah Beet

An der Stirn prangt noch das Zeichen
Nein. Sowjet
für Zweie. Die strotzenden
Augen sind zugefallen
über einem Stein. Das Wollen
blind. Das Lächeln weiss.
Hast du
das Geschlecht
zu Fall gebracht. —

*Sabeth

Auf der Stirn steht noch
das Nein. Rat
für gestern. Hellwach die Augen
zugeschlagen
überm Stein. Der Wunsch
ist blind. Das Lächeln weiss.
Du hast
den Boden fallen
lassen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00