Universalbibliothek ohne Ende

BORGES: »Ich behaupte, daß die Universalbibliothek kein Ende hat!«
HAUPT: »Wo läge dann ihr Anfang? ihr Sinn?«
LASSWITZ: »Aber die Zahl der möglichen Kombinationen gegebener Schriftzeichen ist doch begrenzt. Also muß alle überhaupt denkbare Literatur – alles, was je geschrieben worden ist und je geschrieben werden kann – sich in einer endlichen Anzahl von Büchern unterbringen lassen.«
WOLFF: »Ja. Rund einhundert Schriftzeichen genügen, um jedes geistige Erzeugnis, gleich welcher Art und in welcher Sprache, als Text festzuhalten. Wir brauchen dazu die Klein- und Großbuchstaben des lateinischen Alphabets, die Satzzeichen, die arabischen Ziffern von 0 bis 9, einige mathematische Symbole und, nicht zu vergessen, das Spatium, den Leerraum, durch den wir die Wörter voneinander absetzen, dann aber auch eine Reihe diakritischer Zeichen, die es uns ermöglichen, Sprachen wie …«
BORGES: »das Tlönische, das Uralhebräische, das Baltomordwinische«
WOLFF: »ebenfalls in lateinischen Lettern wiederzugeben.«
LASSWITZ: »Dann ließe sich freilich problemlos ausrechnen, wieviele Bücher im üblichen Umfang von rund einer Million Buchstaben – die Kritik der reinen Vernunft mag als Vergleichsgröße dienen – unter Verwendung jener hundert Schriftzeichen hergestellt werden können. Jedes Buch wäre dann, der Kunst der Kombinatorik entsprechend, eine Wiederholungsvariante der millionsten Klasse, und die Summe sämtlicher Bücher beliefe sich auf einhundert hoch eine Million, was als Ziffer darzustellen wäre durch eine Eins mit zwei Millionen Nullen – eine Zahl für die es keinen Namen gibt!«
BORGES: »Um auf meine Bibliothek zurückzukommen …«
FELLMANN: »Wenn wir uns die vorhin errechnete Gesamtheit aller möglichen Bücher – diesmal ausgehend von der Kritik der praktischen Vernunft, deren Taschenausgabe zehn auf achtzehn mal zwei Zentimeter mißt – konzentrisch zum Erdmittelpunkt angeordnet denken, Band an Band gereiht und gestapelt, so würde eine weit über unser Milchstraßensystem hinausreichende sphärische Bibliothek entstehen, deren Volumen – ich habe es eben durchgerechnet – mit viermal hundert hoch eine Million mal zehn hoch minus zwölf Kubikkilometer zu beziffern wäre. Die meisten Bücher Ihrer Bibliothek, verehrter Borges, wären also um viele Lichtjahrtausende von uns entfernt.«
BORGES: »Dann dürfte es genügen, wenn ich – als Klassiker – mich selbst zitiere und sage: ›Die Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck sein könnte, und deren Umfang zwar endlich, nicht aber denkbar ist …‹«
WOLFF: »Und dieses bibliothekarische Universum würde sich mehrheitlich aus völlig sinnlosen, ja unlesbaren Büchern zusammensetzen; ihr Inhalt wäre identisch mit einem kaum noch entwirrbaren Sammelsurium aleatorisch aufgereihter typographischer Zeichen. Auf Quadrillionen von derartigen Druckerzeugnissen käme vielleicht ein einziges Buch verständlichen Inhalts, vielleicht aber auch nur ein regelmäßig angeordnetes Textmuster, das – zum Beispiel – aus lauter Nullen oder Doppelpunkten bestünde, so daß der Benützer der Bibliothek in jedem Fall mehrere Lichtjahre zurückzulegen hätte, um von einem lesbaren Buch zum andern zu gelangen. Die respektiven Standorte der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft wären durch ebenso viele Galaxien voneinander getrennt wie Also sprach Zarathustra und Mein Kampf…«
HAUPT: »so daß man sich wohl auch keinerlei Chance ausrechnen kann, jenes eine Buch aufzufinden, von dem jeder Autor irgendwann einmal – mit Schrecken – geträumt hat? Das Buch, das ausschließlich leere Seiten enthält, in welchem sich also das Spatium eine Million Male wiederholt …«
FELLMANN: »Das Buch, dessen Lektüre man erst noch erfinden müßte«
HAUPT: »indem man es – in der Ich-Form – schreibt!«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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