Frank Simon-Ritz: Zu Kathrin Schmidts Gedicht „idiom, das meinen mund schaukelt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kathrin Schmidts Gedicht „idiom, das meinen mund schaukelt“ aus Kathrin Schmidt: Go-In der Belladonnen. 

 

 

 

 

KATHRIN SCHMIDT

idiom, das meinen mund schaukelt

über der atemschwelle, im schwesternkuß: klarnamen,
an die tür gehängt und vergessen, im stoffturnbeutel,
zwischen körperkultur und brotdose. jemand schweißte es
so zusammen – ledernacken und tochternatur –,
daß der hilfscode versagte, das rechte paßwort
sich im geheimen verlor. mundartmündel
mit kurzem insektenatem, waren wir zart gedacht
in unseren flappenden höschen, beim turnen nach noten
oder beim staffellauf. regelhafte beschwerden hielten wir
interniert, unter der leibdecke, im sonnengeflecht.
so konnte es bleiben, bis zwischen den mädchenlippen
pflanzen sich zeigten, schallmauerblumen. die wächsernen
stengel filterten wort um wort, das idiom war ein kunstgriff
geworden. Erinnerung an ein fernes Land

 

Erinnerte Kindheit

In dem Gedicht, das als Auftaktgedicht in dem Band Go-In der Belladonnen im Jahr 2000 erschienen ist, verschränken sich zwei Ebenen ineinander. Die eine dieser Ebenen ist eine sehr persönliche und hat mit den Erfahrungen einer Heranwachsenden mit der Sprache und mit dem eigenen Körper zu tun. Auf der anderen Ebene klingt an, dass diese erinnerte Kindheit eine Kindheit in dem Teil der DDR war, der heute Thüringen heißt. Die Kindheit und Jugend und auch die DDR und Thüringen sind aus der Perspektive des Gedichts ferne Länder. Das eigentliche Thema ist das Herauswachsen aus der Kindheit und damit die Emanzipation von der Umgebung, die die Kindheit geprägt hat – nicht zuletzt die mundartlich geprägte Sprache. Die Dichterin Schmidt, das ist bekannt, ist in Gotha und Waltershausen aufgewachsen. Das Idiom, das – wie es der Titel dichterisch zum Ausdruck bringt – „meinen mund schaukelt“, ist also das Thüringische. Auf die Abhängigkeit des Kindes von der Sprache, die in seiner Umgebung gesprochen wird, verweist auch die für Schmidt charakteristische Wortschöpfung „mundartmündel“.
Der Prozess des Heranwachsens und der damit verbundenen Emanzipation wird in den letzten vier Zeilen des Gedichts, das mit seinen insgesamt 14 Zeilen die klassische Form des Sonetts aufgreift, zum Gegenstand. Hier geht es um das Ende der Kindheit, das dadurch eingeleitet wird, dass die Jugendlichen zur Zigarette greifen („die wächsernen stengel“). Interessant ist, welche Auswirkungen dies hat: Die Zigaretten „filterten wort um wort“. Die Jugendlichen, die sich selber schon so erwachsen fühlen, dass sie zur Zigarette greifen, stellen alles auf den Prüfstand – und sie filtern jedes Wort bis hin zu seiner Aussprache. Auf diese Weise wird schließlich die Mundart zum „Kunstgriff“, der beliebig angewendet oder eben nicht angewendet werden kann. Damit ist auch die sprachliche Emanzipation vollzogen. Das Herauswachsen aus der Kindheit und der damit verbundenen Mundart ist für die Dichterin Schmidt die Voraussetzung des Zu-sich-selbst-Kommens.

Frank Simon-Ritzaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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