DEM KOSMONAUTEN IST WIEDER HYAZINTHEN
DAS MEER DER GRIECHEN
Dem Kosmonauten ist wieder hyazinthen das Meer
aaaaader Griechen
und eine schimmernde Muschel die Welt, aus der
aaaaaVenus stieg.
Denn von den Eltern kommen wir immer. Und ein
aaaaaStrom der Schönheit,
stürzt sich das Menschengeschlecht in das
aaaaaregenbogenfarbene All.
Ach, von dorther mag ein Rubin sein das Blut der Erschlagenen.
Und wir küssen ihn und tragen ihn am Finger
als Kostbarkeit auf fremde Sterne. Denn nicht leicht fliegen wir.
Die Schwere der Erde ist unser Flug – und
wie das Opfer die Freude.
Das aber muß uns sagen das Wort.
Denn das ist der Zusammenprall des Herkules mit dem Löwen,
in dem Gewitter schwingend. Wir hören es und gedenken der Ahnen.
Denn auch dies ist unser, daß wir durch die Zeiten fühlen
und den Toten gönnen ein großes Leben und sie verstehen
als Unsere, die das Unsrige förderten in Nächten und Opfern.
Denn wer da aufstand und ins Fließen sah und in den schweren Glutball
und mehr als rauschen vernahm und mehr empfand als Hitze,
daß er meinte, ein Gott spräche aus ihm, der war ein Tor nicht,
sondern ein Lehrender noch für uns, die wir das Wort suchen,
um ganz zu sagen, was wir sind, und mehr noch als nur
befreit von den Herrn – und mehr zu hören
als das Rauschen der Motoren und mehr zu empfinden
als die Hitze der Hochöfen. Denn schwer genug sind die.
Aber der Flug ist ’s der Schwere, der den Menschen
zum Menschen macht, zum Sohn der schwebenden Masse.
Es gibt aber auch Dichter, die das Alltägliche in die gesamte Bewegung einordnen können. Wenn die eine Hälfte ihres Herzens auch hier ist, so ist doch die andere beim Schimmern des fernsten Sterns im Weltall.
Adel Karasholi
Zwischen Extensität, die bis zur Prosa geht, und Intensität, die die Aura der Wörter zum Strahlen bringt, spannt sich das Werk.
Rainer Kirsch
Georg Maurer ist der einzige Mensch, der mit herabgezogenen Mundwinkeln lacht; das Lachen bezeichnet in seinen Gedichten Erlösung, Freiheit, Selbstbewußtsein.
Karl Mickel
Er praktizierte eine Methode, die freilich nur der praktizieren kann, der die Dichtung aus mehreren 1000 Jahren überschaut. Er entnahm der schier unerschöpflichen großen Tasche, von der schon die Rede war, Buch um Buch und umstellte die Gedichte seiner Kursanten mit Beispielen wie mit großen Spiegeln.
Helmut Richter
„Die Sprache der Dinge ist nun glücklicherweise unendlich.“ Ein einziger solcher Satz, nachprüfbar am Werk, reicht hin, einen Großen unter den Dichtern und den Lehrern dessen, was uns gemäß ist, auszuweisen.
Max Walter Schulz
„Nur durch die Weite der Sicht und die Tiefe des Gefühls kann der kleinste geographische Bezirk in den großen Atem der Welt gestellt und ein Teil von ihr werden“, höre ich Georg Maurer noch auf der Leipziger Dichterschule sagen.
Walter Werner
Ein zigarrenrauchendes Kind von vierundsechzig Jahren, in dem die auf den Teppich fallende Asche philosophisch-poetische Blitze zündete.
Bernd Jentzsch
entstanden auf der Suche nach den Schönheiten des menschlichen Daseins und leben von ihren Entdeckungen. Sie enthalten poetische Erwägungen über alte und neue Möglichkeiten menschlichen Glücks… Die Schönheit ihrer Verse will aufgespürt werden. Man muß sie zu finden wissen in der seltsamen Dynamik der Satzführung, in der Genauigkeit der Gleichnisse, in den aus dem poetischen Gegenstand erweckten Assoziationen, die immer ein gesellschaftlich und persönlich Wesentliches umfangen, im Aufstreben des poetischen Gedankens aus dem sprachlichen Material.
Hans Dahlke, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1971
Georg Maurer, selbst der Meinung, im Leben eines Künstlers finde weniger Umbruch als vielmehr Entfaltung statt, sähe sich, rückblickend auf seine Anfänge, auch heute noch in dieser Ansicht bestätigt. Übersieht man sein Werk, wobei vor allem das der Jahre von 1945 bis zu seinem Tode im Jahre 1971 das entscheidende ist, so begreift man, wie eine poetische Gestalt kaum Anlaß hätte, ihre bereits in jungen Jahren geäußerten Ansichten zu revidieren. Das mag überraschen, gilt doch gerade Georg Maurer als ein Dichter, der, wie kaum ein anderer, idealistische Positionen verließ, um in einer grundlegend neuen sozialen und politischen Wirklichkeit, der des Sozialismus, Fuß zu fassen. Obwohl er in der Vorrede zu den „Hymnen 1945“ auf seine Anfänge verwies, indem er die Zäsur seines Lebens benannte, während der er sich in der Gefangenschaft im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit als materielles Wesen erfuhr, vollzog sich seine weitere dichterische Entfaltung nicht in der Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Bedingungen der Nachkriegszeit, sondern vielmehr in geradezu asketisch abgegrenzten geistigen Bereichen. Es verwundert heute kaum noch, daß beispielsweise der Versuch einer Reportage in Versen – „Reise durch die Republik“ beziehungsweise „Poetische Reise“ (1952) – scheitern mußte, obwohl sich gerade in diesem Gelegenheitsgedicht Maurers Hinwendung zu einer neuen Realität begründete. Auch andere Vorstufen ähnlicher Art – so die Dichtung „Licht unter Tag“ (1947) – sind heute nur als Versuche erwähnenswert, sozial determinierte Realität in eine erste Form zu gießen. Das Besondere in Maurers dichterischem Lebenslauf wird jedoch bereits durch seine Herkunft charakterisiert. Es scheint, der junge, in Leipzig lebende Student der Kunstgeschichte aus Siebenbürgen sei für die Äußerlichkeiten, mit denen sich der Faschismus in den Vordergrund drängte, weniger anfällig gewesen als viele seiner „reichsdeutschen“ Kommilitonen. Prosafragmente und Tagebuchaufzeichnungen aus den Kriegsjahren zeigen den Dichter in der Auseinandersetzung mit dem Humanum, das seine Kindheits-, Jugend- und Studienjahre bestimmt hatte. Mit den von der Idealität der deutschen Klassik, Mörikes und Rilkes getragenen Vorstellungen, die sich mit der Realität des Faschismus für Maurer nicht vereinbaren ließen, konnte der Dichter auch während der Nazizeit seine Auseinandersetzung mit den Problemen geistiger Existenz, wie er sie in Deutschland erfahren hatte, fortsetzen und bis in die Nachkriegsjahre hinein weiterführen. Im wesentlichen begriff sich der aus dem Krieg heimgekehrte Dichter wohl als einen Menschen, dem in den Nachkriegsjahren unter gewandelten und sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen die Chance eines Neuanfangs geboten wurde. Zu diesen bewußtseinsverändernden Erfahrungen gehört gewiß auch die geistige Neubelebung, von der die Kunst in der damaligen sowjetischen Besatzungszone erheblich profitierte, bis die Jahre des Personenkultes auch in der DDR Kunst und Kunstanschauungen vorübergehend verengten. Maurer, dessen Denken sich in jenen Jahren dem Marxismus, besonders dem historischen Materialismus annäherte, indem er diesen – nach eigenen Aussagen – mit Kants kategorischem Imperativ in Übereinstimmung zu bringen suchte, stellte sich nach ersten, noch idealistischen Auseinandersetzungen in dem Zyklus „Selbstbildnis“ (1956) den politischen und kulturellen Erscheinungen, auf die er auch in Essays und Vorträgen immer wieder hingewiesen hat. Als Ansatzpunkt eines neuen, aus der dogmatischen Erstarrung erwachenden poetischen Denkens lesen sich heute die Verse des Gedichts „Sturm“, in dem Maurer wie kaum ein anderer Dichter seiner Generation den Versuch unternahm, sich auch über enttäuschte Hoffnungen Rechenschaft zu geben. Die durch ein „aber“ eingeleiteten Schlußverse lassen erkennen, wie sehr es Maurer darauf ankam, ein durch seine geschichtlichen Erfahrungen erworbenes Prinzip Hoffnung walten zu lassen, um so der Überwindung des status quo und damit auch einer historisch überständigen Vergangenheit Sprache zu geben. Noch vollzieht sich Maurers poetisches Denken in Antinomien: gegen das Bild, der grünenden Reiser wird in diesem Gedicht das des Sturms und der Schlangen gesetzt; die gestiftete Lehre vom schöneren Leben gleicht der Sonne überm begrabenden Sturm. In seinem Aufsatz „Echte Maßstäbe aufstellen“ (1953) versuchte Maurer, Versen einen Platz über die bloße Tagesaktualität hinweg zu verschaffen, kann allerdings nicht verhindern, daß sein Gedicht „Der Schreitbagger“ über Jahrzehnte hinweg zu einer Quelle poetologischer Mißverständnisse wird, indem es in Schulbüchern und in Seminaren lediglich zur Geschichtsillustration dient. Maurer, der sich auch als Essayist immer wieder um eine Begriffsbestimmung des eigentlich Lyrischen bemühte, war alles andere als ein Lyriker, der sich lediglich dem politischen Gelegenheitsgedicht verpflichtet fühlte. Für ihn war Lyrik vor allem ein Medium weltanschaulicher Diskussion, wobei es ihm auf die Verbildlichung des Begriffs ankam. Obwohl viele Gedichte des „Dreistrophenkalenders“ auf Spaziergängen im Leipziger Rosental entstanden und so durch unmittelbare Begegnung mit Natur und Landschaft des Auenwaldes angeregt wurden, sind sie, wie fast immer bei ihm, nur aus dem Zusammenhang einer größeren weltanschaulichen Auseinandersetzung zu begreifen.
Blickt man auf die Gedichte und Zyklen Maurers, die am Ende seines Werkes stehen, und vergleicht sie mit jenen der fünfziger und sechziger Jahre, so glaubt man vor allem eine größere Transparenz wahrzunehmen. An Stelle der historisch und selbstdarstellerisch determinierten Rückblicke tritt eine Perspektive, die sich mit dem Endlichen und selbst mit dem über das Endliche Hinausgehenden beschäftigt. Es scheint, als hätte Maurer der in seinem Werk gestalteten individuellen, weltanschaulichen und welthistorischen Krisen bedurft, um sich als poetische Gestalt selbst immer wieder in seine Dichtungen einzubringen. Man spürt in einem Gedicht wie „Metaphysischer Augenblick“ (1963) die Vorwegnahme eines Weltgefühls, das sich bei aller Gebundenheit an Erfahrungen und Gegenständlichkeit doch auch schon an einer Sprache orientiert, die nicht ausschließlich von ihrem Gehalt her zu begreifen ist. Nicht allein der mitunter recht weit hergeholte Vergleich, wie noch in dem Gedicht „Sturm“, sondern das absolut ins Gedicht eintretende Ich, das souverän über sich verfügt, bestimmt die Sprache dieses Augenblicks, der Zusammenstöße und Leiden nicht mehr kennt. Maurer hat selbst den Maßstab mitbestimmt, an dem sein lyrisches Werk zu messen ist:
Die Qualität des Lyrischen muß bei aller Erweiterung seiner Grenzen möglichst erhalten bleiben. Sie ist unmittelbar spürbar im Grad der Spannung, den wir ausgesetzt werden. Diese Spannung wird erreicht durch die radikale Erhebung jedes Besonderen ins Allgemeine. Es ist die spezifisch lyrische Verhaltensweise in der Welt. Das Subjekt ist von einem besonderen Gegenstand derart ergriffen, als wäre er alles.
Nichts anderes meint Hegel, wenn er sagt, „der echt lyrische Dichter“ brauche „nicht von äußeren Begebenheiten auszugehen, die er empfindungsreich erzählt, oder von sonstigen realen Umständen und Veranlassungen, die ihm zum Anstoß seines Ergusses werden, sondern er ist für sich eine subjektiv abgeschlossene Welt, so daß er die Anregung wie den Inhalt in s i c h s e l b e r suchen und deshalb bei den inneren Situationen, Zuständen, Begegnissen und Leidenschaften seines eigenen Herzens und Geistes stehenbleiben kann. Die dialektische Wendung, die Hegels Gedanke von der Lyrik als der subjektivsten Gattung bei Maurer erfährt, indem nicht schlechthin das Ich, sondern der Gegenstand, von dem das Subjekt ergriffen wird, im Zentrum der Poetologie steht, ist in Maurers’ spätem Werk unübersehbar. Mit dem Vers „Der Tod selbst löst sich im Gespräch“ schließt ein kurz vor seinem Tod geschriebenes Gedicht. Neben der noch immer präsenten diskursiven Erörterung der Leib/Seele – Tod/Leben-Problematik zeigen Verse dieser Art innerhalb Maurers Werk, daß sich mit seiner Wende ins Immaterielle – die sich bereits mit einem Gedicht wie „Metaphysischer Augenblick“ angekündigt hatte, mit dem der Dichter an Aufzeichnungen erinnert, die zur Hinterlassenschaft seiner Jugend gehören – auch eine Hinwendung zu einer Dichtart vollzog, die Gültigkeit beansprucht. Die poetische Gestalt des Dichters selbst präsentiert sich in seinen frühesten wie in seinen spätesten Gedichten als die einer Übergangszeit. Ausgehend von den Errungenschaften des freien Verses, wie ihn Rilke in den Duineser Elegien geprägt hatte, versuchte Maurer, sich über sein bisheriges Leben Rechenschaft zu gehen. Der politische Impetus dieser Bilanz galt zunächst in den „Hymnen 1945“ einem Bild Gottes, von dem Maurer sagt, daß er es vor dem Zugriff der ihn bedrängenden Gewalten zu retten suchte, „bis es außerhalb der Welt stand“, die ihm geblieben war. Indem er im weiteren die Arbeit mit seinem Gottesbegriff gleichsetzte, also Erfahrungen entsprechend der aus der Kriegsgefangenschar und der Arbeit unter Tage gewonnenen Metapher „Licht unter Tag“ in seine Lyrik transponierte, gewann er allmählich jene Freiheit im Umgang mit Gedanken und Dingen, die es ihm ermöglichte, die Dinge an sich zu Dingen für uns zu erklären. Dieser Prozeß führte zunächst zu einer immer größeren Gegenständlichkeit in seinen Zyklen, so daß er oft auf die Technik einer freilich im Sinn seines Lyrikbegriffs erweiterten lyrischen Reportage nicht verzichten konnte, was die Zyklen „Hochzeit der Meere“ (1953/54) oder „Chinesische Landschaft“ (1956/57) belegen. Durch diese Art der Aneignung geschichtlich gewachsener oder aktueller Realität gewann Maurer das innere Gleichgewicht, das es ihm ermöglichte, sich immer mehr einem Gedichttypus zu nähern, der „die Erhebung des Besonderen ins Allgemeine“ selbst zum poetischen Gegenstand machte. Der Erörterung dieses Vorgangs hat Maurer viele seiner Gedichte gewidmet. Die komplizierte Situation, die er beispielsweise in dem Zyklus „Dichter und Materie“ (1963/64) beschreibt, entspricht der, die bereits im ersten Gedicht des Zyklus’ thematisiert wird: der Widerspruch zwischen Geist und Materie, der zugleich deren unauflösbare Einheit symbolisiert, äußert sich in einer weit ausholenden Gedankendichtung, die ein für allemal heraufbeschwört, was sich als beherrschender Widerspruch durch das gesamte Werk Georg Maurers zieht. Das Thema selbst variiert sich in diesem Zyklus, um immer wieder auf das Untrennbare des Problempaares Subjekt – Materie zu sprechen zu kommen, nicht jedoch ohne dabei auf die Mitsprache der poetisch-konkreten Erfahrung zu verzichten, wie in der metaphorischen Wendung, die auf jene Praxis verweist, die für Maurers individuelle Überwindung eines idealistisch präformierten Weltbildes bedeutend war:
Ich such das tonnenschwere Sein der Eiche
mit einem Ruck mir auf die Schulter der Gedanken zu heben.
So, wie sich hier Erfahrung versinnlicht und plastisch-anschaulich Gestalt gewinnt – ein Verfahren, auf das Maurer immer Wert gelegt hat und das auf seine Herkunft aus dem Bereich der beschreibenden Kunstwissenschaft hinweist und von Maurer selbst oft erwähnt wurde –, gelang es ihm auch in einzelnen Gedichten seines späteren Werkes, Szenen dramatische Akzente zu verleihen, die das von ihm selbst apostrophierte Lyrische besonders hervortreten ließen. Im Gegensatz zu anderen Lyrikern seiner Generation, die über vergleichbare Erfahrungen verfügten wie er, unternahm er den wohl allein dastehenden Versuch, sich als exemplarische poetische Gestalt zu begreifen, als Gestalt, die ihren Gedichten im Sinne Brechts den „Wert von Dokumenten“ verlieh. Die Bestimmung dessen, was das eigentlich Dichterische solcher Dokumente ist, läßt sich heute vermutlich erst ansatzweise ausmachen. Aber daß Maurer nicht schlechthin Gesellschafts- und Historienbilder schuf, wozu ihn seine enorme Bildung und Belesenheit hätte verführen können, sondern daß er mit zunehmender Erfahrung immer mehr zur Veranschaulichung selbst abstraktester Gedanken vordrang, belegen die „kleinen Gedichte“, die er seinen „Gesprächen“ voranstellte. Im Dialog mit der Natur und mit sich selbst schuf er ein Panorama poetischer Variabilitäten, die untereinander im Gespräch stehen. Nicht allein die Blitze, „die die Nacht öffnen“, sondern vor allem die sich im Flug der Sirenen wiedererkennenden Menschen sind es, denen Maurer seine Stimme gab. Sich selbst verstehend, gab er dem Lyrischen Ausdruck: dem, was die Menschen verführt und beherrscht, aber auch dem was sie zum Verstehen der Phänomene benötigen, denen sie ausgeliefert sind. So ist auch der Tod für Maurer ein ständig vorhandener Bezugspunkt, der seinen Gedichten nicht nur Nachdenklichkeit, sondern sogar heitere Distanz verleiht. „So verstehen die Menschen – und spannen Gründe / in die Abgründe, in die sie fallen“, formulierte er im „Flug der Sirenen“. In den Sirenen sah er wohl, ähnlich wie im Engel der Duineser Elegien Rilkes, das dem Leben entgegengesetzte Bewußtsein. Die Einzelheiten, die Bilder und Metaphern, die seine Gedichte konstituieren, schulen Gebilde, deren Sprachkraft sich gegenüber dem Schrecklichen, das zu ertragen ist, hochgestimmt verhält. Damit erklärt sich vieles in Maurers reifen Dichtungen. Gerade der Aufklärer Maurer stellt sich in seinem Spätwerk immer wieder der Frage nach der Herkunft, dem Sinn und dem Ziel des Lebens. Keineswegs handelt es sich dabei um eine Art lyrischer Neuauflage der „Welträtsel“. So gelangt er zu Bildern der Erinnerung, die, wie in dem Gedicht „Knabenzeit“, unvergängliche Muster archetypscher Situationen evozieren:
Das Mädchen schläft… Ich geh
die Mondscheingasse auf und ab. Ihr Schlaf
durchtränkt mich so, daß ich ihn wache, wie
die dunklen Malven dort der ziehnde Mond
mit ungeheurem Blut, fast schwarz, durchtränkt.
Nicht nur die Jamben Shakespeares in der Eindeutschung durch die Romantiker gewinnen hier noch einmal ihre sprachlichen Möglichkeiten – Maurer selbst scheint dem Zustand zwischen Traum und Wachen Plastizität verleihen zu können, indem er sich selbst „nur“ die Rolle von „Kern und Stern“ zuweist. Das Wesentliche, im Gedicht als Paradigma benannt, weist in diesen und anderen Versen über sich selbst hinaus, indem Situationen gleichnishafte Bedeutungen erlangen. Da das Bemühen des Dichters selbst zur Metapher wird, also die Situation des lyrischen Ichs „mitgedichtet“ wird, gelangt dieses Ich wieder zu sich selbst:
Ein Knabe, übt ich
lebend im Sarg zu liegen: Wie es sei,
ungesehen zu leben.
Ich dachte: Eine Blume am Felshang,
dem steilen, den geht keiner hinauf, keiner
hinunter. Sie blüht ungesehen.
Den Menschen aber ist Tod,
ungesehen zu sein.
In spruchdichtungsartiger Abrundung wird hier ein Bild vermittelt, das, indem es auf das Ich des Dichters zurückweist, auch den Riß zwischen Ich und Tod markiert. Maurer, der sich immer wieder als ein historisch bedingtes Individuum begriff und gestaltete, aber dem Jetzt, und sei dieses noch so ungenügend, einer ungewissen Zukunft gegenüber stets den Vorrang gab, sieht auch angesichts einer neuen, todesdrohenden welthistorischen Situation keinen Anlaß, eine Zukunft außerhalb der möglichen Perspektive der Menschheit zu postulieren. Ohnehin kein Utopist, glaubte er an die noch immer in seiner Arbeit waltende Hoffnung, die ihn, einen Gedanken Heisenbergs aufnehmend, nach einer Weltformel suchen ließ, die das Überleben der Menschheit in sich birgt. Gerade weil er in seiner Dichtung das Maß alles Möglichen markierte, findet er eine Formel für den Vorgang, der – bezogen auf jede Perspektive, sei diese persönlicher oder menschheitlicher Natur – jede Art von Zukunft in den Vers „Der Baum läuft nicht nach seinen Blüten“ einschließt. Aber nicht nur in derartigen, sich einem „Weltmodell“ annähernden Versen gibt sich Maurer, der nun an der Schwelle des Alters steht, über Erfolg oder Mißerfolg seines Wirkens Rechenschaft. Neu in dieser Phase ist auch ein Moment, in dem er mit nahezu surrealer Balance einem zwielichthaften Begehren Ausdruck verleiht. Dies geschieht in Gedichten, die, wie „Leda im Winter“, Situationen nachzeichnen, die sich wie Gegenbilder zu den in früheren Arbeiten angestrengten klassischen Überlieferungen ausnehmen. Dann wendet sich Maurer wieder umfangreicheren Dichtungen, seinen eigentlichen „Gesprächen“ zu. Er tritt in einen Dialog mit einem Gedanken aus der „Dialektik der Natur“ von Friedrich Engels, in dem dieser darauf hinweist, „daß wir keineswegs die Natur beherrschen…, sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen“. Noch einmal – 1966/67 – greift Maurer wieder zur Form des „Gelegenheitsgedichtes“, indem er den Kreis „Widerspiel“ schreibt. Auch er stellt im Grunde nichts anderes dar als lyrische Variationen zu diesem für Maurer immer gegenwärtigen Thema. Die poetische Idee als die Idee der Realisierung ihres Inhaltes formuliert er jetzt ganz aus dem Anlaß des Gedichts, mag dieser auch noch so geringfügig erscheinen. Damit hebt er die einst in den Dreistrophengedichten errungene heiter-materialistische Position auf eine neue Stufe. In der Szene des Gedichts „Antike auf märkischem Sand“ durchläuft das Geschehen nicht nur die Kultur von Jahrhunderten und Jahrtausenden; im Bild erscheint die innere Situation des Ichs, dessen Erlebniswelt gleichnishaft aufleuchtet: konzentriert wie im Glanz des Leibs der Geliebten im eingeschalteten elektrischen Licht.
Mit derartigen Versinnlichungen kultureller und persönlicher Erfahrungen schuf sich Georg Maurer den Raum, der es ihm ermöglichte, abstrakte Erfahrungen in dichterischer Rede zusammenzuführen. Als sein Vermächtnis hinterließ er uns nicht nur sein theoretisches Credo, „nicht an ein Paradies, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft“ zu glauben, sondern vielmehr an die „Kraft der Menschheit, der Natur und gegebenenfalls sich selber standzuhalten“. In letzten Gedichten fand dieses Credo seine dichterische Entsprechung. Maurer wollte sich nicht von seinen vielfältigen kulturellen, geschichtlichen und philosophischen Bindungen lösen. Er war kein „Neutöner“; kein Dichter, der gegen die Tradition schrieb. Das Besondere seiner Leistung, auf die wir heute als seine Erben zurückblicken, besteht darin, seine aus Überlegungen gewonnenen Einsichten dichterisch umgesetzt zu haben. Der in den Versen „Wenn man Gedanken satt hat“ bereits in den sechziger Jahren ausgesprochenen widersprüchlichen Einsicht in Abstraktes und Konkretes, die Maurers gesamtes Werk beherrscht, gab er auch in seinen letzten Gedichten noch einmal endgültig und unwiderruflich Gestalt. In einem die Szene beherrschenden komischen Dialog vermittelt er in einem dieser Gedichte mit dem Titel „Spätes Aufwachen“ zwischen dem Ernst der letzten Stunde und dem sich über alle Trauer hinwegsetzenden Leben:
Mir geht’s schlecht, schlecht geht’s mir.
Von diesem Lager erheb ich mich nicht mehr. Vor acht Wochen
da war ich noch ein Kerl. – Aber vor acht Wochen
sagtest du auch, du wärest vor acht Wochen ein Kerl gewesen,
und du stürzst jetzt, wie heute. Was soll ich glauben? –
Alles, was ich sage. Ich spaß nicht. – Ich hol den Arzt. –
Bist du wahnsinnig ? Was soll mir ein Arzt? Die Augen
kannst du mir zudrücken. – Sieh mich mal an. –
Meine Lider sind wie Blei. Ich mag kein Licht sehn,
das ist es ja. Wahrhaftig ich fürcht mich vorm Licht.
Ich könnt mich sterben sehn. Unerträglich. Ich wache lieber
mit geschlossenen Augen. Da kann ich mich konzentrieren.
Solang sich einer konzentriert, stirbt er nicht. –
Dann konzentrier dich. Ich mach währenddes das Essen. –
Aber wenn ich einschlafe und der Tod kommt?
Seit altersher waren sie Brüder und schieben sich gegenseitig
die Menschen zu. Infame Brüder. Richtige Verschwörer.
Ich will nicht schlafen. Dösen, ja! Da wird man wenigstens
nicht so überrascht, – Gut. Ich mach jetzt das Essen. –
Was gibt’s denn? – Blumenkohl! – Gut, aber gebacken
und mit Bröseln. Da ist wenigstens noch eine Hoffnung.
Und schau nach Post. – Aber du kannst ja die Augen nicht öffnen. –
Du liest mir vor. Vielleicht schreibt mir einer,
daß ich ein Kerl war. Da stirbt sich’s leichter. –
Du brauchst also keinen Blumenkohl mehr? – Was,
die eigne Frau läßt einen verhungern? O Welt, Welt!
Die Struktur der nachgelassenen Gedichte, Dialogform und prosanahe Diktion, unterstreicht die Tatsache, daß es Maurer unmöglich geworden war, in einer Zeit „Lyrik“ zu schreiben, in der so vieles von dem, was noch vor einigen Jahren bündig auszudrücken schien, unsagbar geworden war. Dem inzwischen auch zum Klischee gewordenen Gedanken, Lyrik habe das Unsagbare sagbar zu machen, wird hier ebenfalls der Boden entzogen, indem Maurer nicht nur den eigenen Kanon erweitert. Nicht Sensationelles oder auch nur Überraschendes teilt sich mit; stattdessen wird unsere Konzentration auf eine Situation gelenkt, deren alltäglicher Charakter jenem metaphysischen Augenblick entspricht, dem der Dichter zwischen süßem Kern und Schalenresten stets seine Aufmerksamkeit gewidmet hat. So besteht Georg Maurers Hinterlassenschaft vor allem darin, uns solche Gedichte und Überlegungen geschenkt zu haben, die – wie er einmal selbst gesagt hat – „genau auf den Drehpunkt des Gedankens zeigen“, uns auf diese Weise vermittelnd, wie und was aus seinem Werk zu gewinnen sei. Hinter das Typoskript seines letzten Zyklus’ „Laufen“ setzte Georg Maurer handschriftlich folgende Notiz:
Ich schrieb dieses Gedicht aus der seit Jahren in mir wachsenden Allergie gegen das Wort Geist. In der üblichen Vorstellung ist dieser Begriff nicht mehr faßbar. Wird die Kybernetik ihn faßbar machen?
– Maurers Gedichte sind von der ersten bis zur letzten Zeile Ausdruck eines durch Zweifel errungenen Selbstvertrauens. Wie kaum ein anderer Lyriker seiner Zeit hat er vermocht, den Beunruhigungen Ausdruck zu geben, die ihn, aber nicht nur ihn, zum Schreiben drängten.
Heinz Czechowski, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1987
– Die neo-klassizistische Lyrik Georg Maurers. –
In einem Rundfunkvortrag aus dem Jahre 1946 mit dem Titel: „Bemerkungen zur Situation der zeitgenössischen Lyrik“1 kommt Stephan Hermlin zu der Feststellung:
Tragisch ist der Fall eines der bedeutendsten Lyriker des heutigen Deutschland, der Fall des Johannes R. Becher. Sein letzter Gedichtband (Heimkehr, Aufbau-Verlag, Berlin) beweist neuerlich, daß Becher in seiner von sehr ernsten politisch-ästhetischen Motiven bestimmten Erneuerung, die er seit etwa fünfzehn Jahren unternommen hat, über jedes mit seiner hohen dichterischen Begabung verträgliche Ziel hinausgeschossen ist. Dieser Fall ist sehr kompliziert und erfordert eine gründliche Auseinandersetzung. Es liegt aber unleugbar der Beweis vor, daß die Bemühung um einen neuen Realismus hier die Substanz und Eigengesetzlichkeit des Lyrischen zerstört hat: Becher ist in neo-klassizistischer Glätte und konventioneller Verseschmiederei gelandet.2 Er hat eine politisch richtig gestellte Aufgabe mit dichterischen Mitteln falsch gelöst.3
Hermlin markiert am Beispiel Bechers einen Befund mit dem Vorwurf „neo-klassizistischer Glätte und konventioneller Verseschmiederei“, der, abgesehen davon, daß er auf Gedichte Hermlins aus dem Anfang der fünfziger Jahre ebenfalls zutrifft,4 sich auf zahlreiche Gedichte aus der Zeit von 1940 bis in den Anfang der sechziger Jahre in der DDR anwenden läßt, darunter auch auf das lyrische Werk des 1907 geborenen Georg Maurer, der in der Bundesrepublik bislang nahezu unbekannt geblieben ist. Freilich ist gleich anzufügen, daß der Neo-Klassizismus, wie ihn die Lyrik Maurers darstellt, andere Voraussetzungen, eine andere Herkunft zur Grundlage hat als derjenige, der seit den frühen dreißiger Jahren in der Lyrik Bechers immer bestimmender wurde.
Maurer, der 1961 mit dem Johannes R. Becher-Preis ausgezeichnet wurde und als Lyrik-Dozent am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig lehrt,5 hat in einem Vorwort zur Neuausgabe seines Zyklus’ „Hymnen 1945“6 diese Voraussetzungen thematisiert:
(…) Ein Traumlicht hatte ich. Es waren die klassischen humanistischen Ideale und ein Gottesbild, das ich vor dem Zugriff der mich bedrängenden Gewalten zu retten suchte, bis es außerhalb der Welt stand, in der ich geblieben war. – Die für mich äußerst schwere Arbeit unter Tag während meiner Gefangenschaft brachte mir ein Licht anderer Art: die Einsicht, daß menschliche Arbeit menschliches Leben überhaupt erst ermöglicht. Die klassischen Ideale und meinen Gott holte ich zurück und siedelte sie im Bereich der Arbeit an. Schöpferischer Gott, Menschenarbeit und klassische Humanität flossen in sich überstürzenden Metaphern ineinander, von denen die Hymnen leben. – Die Hymnen (…) sind meine erste Dichtung, in deren Verlauf ich die Arbeit als das Kernproblem unserer Epoche mir bewußt zu machen suchte (…).7
Der Simplizität der Formulierungen entspricht jene ihrer Begründungen:
Abfall von Gott war Abfall vom Humanen, außerhalb menschlicher Arbeit war Unmenschlichkeit.8
Oder:
Macht außerhalb Gottes, Macht ohne Humanität, Macht gegen die Arbeiter waren eins: blutige Willkür.9
In dem Sammelband Essay findet sich ein „Kleines ästhetisches Bekenntnis“ und die (Selbst-)Erkenntnis:
Dichten heißt: nicht Schamane sein, nicht Beschwörer, nicht Überredner, nicht Gefühlsexzentriker. (…) Nicht die eigene Begeisterung hinausposaunen, sondern das Hinreißende der Sache zur Sprache bringen.10
über die Aufgabe der Lyrik und die Funktion des Gedichts verkündet der 1962 entstandene Text:
In der heutigen Situation unserer Lyrik vor allem gilt es, mehr aus unserer Wirklichkeit herauszuholen, sie zu einem reicheren, differenzierteren Sprechen zu zwingen – als wir gemeiniglich von ihr hören.11
Und:
Ein Gedicht muß gut gefügt sein wie ein solides Möbelstück, handhabbar wie ein praktisches Küchengerät. Nur daß das Gefüge des Gedichts auf seine Weise das Gefüge der Menschheit oder gar der Welt wiedergibt als inneres Widerspiel des Weltzusammenhangs, soweit wir ihn jeweils erkennen oder fühlen.12
Oder:
(…) in der Lyrik besonders schlüpft die Wirklichkeit auf sehr unmittelbare Weise ins Wort. – Die Sprache der Dinge ist nun glücklicherweise unendlich.13
Nun sind theoretische beziehungsweise theoretisierende Selbstaussagen von Autoren, zumindest im Hinblick auf eine unmittelbare Anwendung auf ihre eigenen Arbeiten, nur vorsichtig zu lesen. Im Fall Georg Maurers ist eine solche Vorsicht nicht am Platz. Die wenigen zitierten Beispiele sind nach zwei Seiten hin aufschlußreich. Zum einen ist ihre Diktion und der darin formulierte literaturtheoretische Ansatz symptomatisch für den Zustand der in der DDR herrschenden Literaturkritik und Literaturtheorie, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen. Wendungen wie die hier zitierten, vollgepfropft mit einem Groß-Vokabular, traditionell belastet und an Undeutlichkeit nicht zu übertreffen, finden sich nahezu ausnahmslos in jedem literaturkritischen Werk der DDR. Ebenso die einseitige Orientierung und Fixierung der Interpretation von Literatur in der Subjekt-Objekt-Relation: „innen“ und „außen“ sind hier die gängigen Münzen, das Gedicht als „inneres Widerspiel des Weltzusammenhangs“14 überall dort, wo die Chance bestünde, zu analysieren, worin die dem Gedicht „eigene Weise“ der Wiedergabe von Welt oder von Wirklichkeit besteht, setzt gleichsam automatisch der Rückzug in eine vage, nebelhafte Geistesgeschichtlichkeit ein, deren Vorzeichen auf groteske Weise austauschbar sind.15 Diese Art von Literaturkritik und -theorie vermittelt allzu durchgehend den Eindruck, als sei ihr Gegenstand nicht aus Sprache, aus Wörtern gemacht, sondern aus Ideen, Ideologien, Weltanschauungen und natürlich Menschen aus Fleisch und Blut, mit „durchbluteten Hirnen“, „breitschultrig“.
Die Arbeiten der russischen Formalisten sind der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft der DDR ebenso suspekt wie die Erkenntnisse der modernen Sprachwissenschaft, des Strukturalismus und einer sich immer intensiver mit der Sprache befassenden Philosophie. Die Arbeiten von Manfred Bierwisch etwa, einem der führenden jungen Linguisten – er arbeitet in Ostberlin – bleiben intern und ungenutzt wie die Erkenntnisse der Prager Schule (Roman Jakobson) und die syntax-theoretischen Versuche Noam Chomskys und seiner generativen Grammatik.16
Aber nicht nur im Hinblick auf den Lyrik-Dozenten Georg Maurer sind die Belege aus seinen literaturtheoretischen Überlegungen aufschlußreich; der Lyriker ist gleichfalls betroffen und mit ihm eine Reihe von Poeten, die unter den Fittichen der neo-klassizistischen Sprache Johannes R. Bechers an die Öffentlichkeit traten.17 Der Bezug auf die „klassischen humanistischen Ideale“, einen „schöpferischen Gott“ und die ins „Wort schlüpfende Wirklichkeit“, deren Sprache „unendlich“ genannt wird, steckt doch den Bereich ab, den Maurers Lyrik durchmißt.
Kann man den Kreis runder machen als rund?
Wohl enger und weiter, aber nicht vollendeter als vollendet.
Die Zirkelspitze der Homeriden fühl ich im Herzen.
Sie beschreibt auch meinen Kreis.
heißt es programmatisch in dem Gedicht „Kann man Klassiker überholen“ aus dem 1963/64 entstandenden Zyklus „Dichter und Materie“.18 Die Orientierung Maurers an den lyrischen Groß-Formen der Klassik und inhaltlich am humanistischen Bildungsideal, ins sozialistische Arbeitsfeld transportiert, ist programmatischer Natur:
Denn aus dem Aug der Uralten gibt es keinen Ausweg.
(Wer ausbricht, bricht sich das Genick)19
Bereits ein Blick auf die von Maurer gewählten Titel signalisiert diesen Anspruch. Da heißt es u.a.:„Dante und Beatrices“,20 „Der junge Goethe“,21 „Schiller in Gedanken an Goethe“,22 „Hölderlin“,23 „Shakespeare – Landschaft“24 oder „Variationen auf einen Schillervers“.25 Weniger personal und direkt bezogen geben sich Titel wie: „Vaterland“,26 „Menschheit“,27 „An das All,28 „Kunst“,29 „Liebe“30 und „Auf der Neckarbrücke in Heidelberg“,31 Hölderlins Heidelberg-Ode und ihr Brückenmotiv erinnernd. Hölderlin und Schiller, seltener Klopstock sind auch in unmittelbar sprachlicher Hinsicht die direkten und wichtigsten Gewährsleute Maurers.
Gedicht- und Strophen-Einsätze wie die folgenden verweisen über ihren Nachsprech-Charakter hinaus deutlich genug auf einen depravierten Hölderlin zurück:
Aber unter den Menschen ist nichts gewaltiger als die Sehnsucht.32
Immer die Flüsse will ich, die bewaldeten Berge.33
Herrlich wird die Geographie,
wenn (…)34
Grüner drängen die Wasser,
schneller auch, dort, wo sie näher
den gebärenden Gletschern sind, (…)35
Im „Hölderlin“-Gedicht ist zu lesen:
Und der mit Hegel stritt und in Schillers Schädel
sein Blut goß wie in die Schale des Grals,
zieht in Blitzen und Donnern,
sich mit Adlern vermengend und Wasserstürzen,
über den Ländern hin und her, fern der Geliebten, (…)36
Die Technik der inversiven Fügung und des komparativischen Einsatzes ist Maurer ebenso geläufig wie die großen Begriffe des Schillerschen Vokabulars und ihre dialektisch-lyrische Entfaltung:
(…) das Werk des
aaaMenschen!
Denn über sich will er nun herrschen
und nicht mehr beherrscht sein,
nicht nur getriebene Flut sein,
sondern selber treiben die Fluten,37
Die Diskrepanz zwischen dem zugrundeliegenden, erinnerten Modell, von dem Maurer jeweils ausgeht, und dem programmatischen Anspruch, es zu wiederholen, wie ihn seine Gedichte formulieren, beruht auf dem Mißverständnis, es in der Sprache des benutzten Modells wiederholen zu können. Die Übertragung eines geschichtlich gewordenen Sprachmodells auf eine Realität, deren Strukturen erst vage und widersprüchlich zu erkennen sind, bedeutet Flucht vor eben dieser Realität: der Rückzug auf die Sprachverfassung der Klassik ist ein Rückzug auf die von ihr formulierten Inhalte und im Endeffekt ein Zurückbleiben hinter ihnen. „Ein Traumlicht hatte ich. Es waren die klassischen humanistischen Ideale und ein Gottesbild, das ich (…) zu retten suchte, bis es außerhalb der Welt stand, in der ich geblieben war“,38 hieß es 1965 im Vorwort zu den „Hymnen“ von 1945. Die Sprachverfassung seiner Arbeiten seit 1945 zeigt, daß sich an diesem „außerhalb der Welt“ nichts geändert hat. Noch immer ist es das klassische Humanitätsideal, versetzt unter sozialistische Vorzeichen: der Begriff der Arbeit muß hier zur Legitimation der Zeitgenossenschaft herhalten wie er zur Legitimierung der übernommenen Sprache herangezogen wird. Die Verwässerung und Banalisierung der Bedeutung solcher durch lange Tradition außerordentlich vorbelasteter Begriffe (Arbeit, Ideal, Natur, Kunst, Vaterland, Liebe, Tod), ihr pseudo-philosophisch-lyrischer Einsatz, von Maurer auch theoretisch behauptet,39 durchzieht das gesamte Werk. Aus dem 1963/64 entstandenen Zyklus „Dichter und Materie“ mag folgendes Beispiel, „Arbeit“ betitelt, diesen Prozeß belegen; das Gedicht setzt ein:
Ein gutes Wort ist Arbeit und löst ab
die ältesten Begreiflichkeiten: Feuer, Meer.
Das ist das Zeichen unsrer Zeit, daß uns nicht Wasser Wasser,
nicht Feuer Feuer ist, sondern Prozesse
der tiefem Schicht, doch immer nicht der tiefsten.40
Auffällig ist der gleichsam mechanisch, blindlings erfolgende Gebrauch der inversiven Fügung:
(…) Prozesse
der tiefem Schicht, doch immer nicht der tiefsten.
So benutzt, hat sie weder rhythmische Funktion noch bedeutet sie eine Steigerung auf semantischer Ebene, es sei denn die ins Nebulöse, Verdunkelnde. Auch unter Zugabe einer bewußten Brechung des angeschlagenen Rhythmus’ zwecks Steigerung der Aufmerksamkeit des Lesers, bleibt die Frage, worauf er aufmerksam gemacht werden soll. Und selbst wenn zugegeben wird, daß die rhythmisch vorbereitete Erwartung der Wortfolge – nämlich: „Schicht, doch nicht immer der tiefsten“ – gestoppt werden soll durch die Umkehrung – „immer nicht“ –, um dem Leser etwa die Bedeutung – ,zwar Prozesse der tiefem Schicht, doch schon (noch) immer nicht der tiefsten‘ – nahezulegen, erscheint die Frage keineswegs unangemessen: warum nicht gleich so? Daß hier so etwas vorliegt wie eine plump angesetzte, bemühte Vorgabe von Tiefgründigkeit, gemäß der seit der Klassik kursierenden Devise von der „Tiefe der Dichtung“ und ihrer Verfasser, wird durchgehend von den Arbeiten Maurers bestätigt. Im ersten Teil der „Hymnen“, unter dem Titel „Dämon“, findet sich dann auch der Beleg dieser Vorstellung, wenn der Lyriker Georg Maurer Deutschland anruft:
Aber den Spiegel sah es nicht, den ihm die Dichter gehalten –
als wenn die Bilder seiner größten Söhne nicht Früchte
aus seinem Schoß gewachsen, sondern Irrpflanzen
zufäll’ger Phantasie wärn –41
Der Dünne, den die Melancholie, vor einen
gelben Hintergrund zeichnet,
tanzt vor dem aufgezogenen worterasselnden Wecker,
der immer falsch geht, sich aber nichts-
destoweniger dünkt.
in: Gestalten der Liebe, S. 45
Der gleichen selbstgefälligen Gespreiztheit erliegt auch noch der bereits zitierte Text „Arbeit“: die Wahl des Wortes „Begreiflichkeit“ ist symptomatisch für Maurers Bestreben, durch wenn nicht vorhandene, dann dahingehend veränderte alte und heute teilweise ungebräuchliche Wörter und Wortfelder die Sprechgestik der Klassik zu erreichen:
Denn aus dem Aug der Uralten gibt es keinen Ausweg.
(Wer ausbricht, bricht sich das Genick)42
Der Blick der Alten ist
Aufforderung an uns.
In „Harmonien“ (ebd. S. 121) heißt es:
(…)
Wir schlagen wie das All, das All schlägt so wie wir.
So heißt es etwa:
und es stürzte abgrundwärts – und du zuvörderst,
aaaVaterland.43
Außerordentlich häufig wird „ward“ gebraucht:
und ward mein Erretter und Totenerwecker!44
(…): hier wohnte Herder, hier Klopstock,
hier in dieser Kammer in Bonn ward Beethoven geboren45
Derselben Tendenz dient der imperativische Anruf, die direkte Wendung an den Leser (Hörer), zuweilen alttestamentarisches Gehabe bietend:
(…): denn siehe,
der Vogel glaubt an die Lüfte46
Höre, der du mit selbstzerschmettertem Schädel47
Volk, du suchtest den Himmel48
Schließlich gehört in diesen Bezug die Akkumulation von Abstrakta und philosophischen Termini, häufig eingesetzt in Form der Genitiv-Metapher, immer jedoch verbunden mit einer Banalisierung des Begriffs ins Pseudo-Philosophische:
(…) Die bitterste Erfahrung:
zu sterben. Und die höchste Einsicht:
das Sterben aufzuheben. Dieses ist’s:
Welt sein des Menschen. Aber wie?49
so wie das Nichts auf unsren Lippen
noch stets bewegte Luft ist, also etwas,
und als ein Widerspruch sich selbst vernichtet.50
(…) das Bewußtsein / des Volkes51
der Qualm der Vernichtung52
aus der Tiefe des Geists und Selbstüberwindung53
Garten der Menschheit54
In dem schon zitierten Gedicht „Arbeit“ heißt es:
Denn ohne Anfang, ohne Ende sind wir.
Schnell-lebige Bewußtheit zwar,
doch solcher Blitz, daß wir in unsrer Arbeit
das stets Bewegende bewegt erkennen
und mit der Arbeit, die am letzten Feierabend
wir aus den Händen legen, dennoch nicht
herausgenommen sind aus ewigem Muskel,
und Leeres nur ein huschender Gedanke ist
im Angesicht der Fülle,
der ohne sie niemals gedacht werden kann,
(…)55
In der gleichen Dimension bewegt sich der übertriebene Gebrauch ähnlich vorbelasteter Prädikatisierungen wie „ewig“, „unendlich“, „immer“ („stets“), „gewaltig“, „ungeheuer“, „allgegenwärtig“, „selig – unselig“, „nimmer“ oder „furchtbar“.56 „Immer“ sind es die „höchsten Einsichten“ und die „tiefsten Erkenntnisse“ und die „rastlose Suche“ nach ihnen, von denen in dieser Lyrik die Rede ist: Sprache ist degeneriert zu einer neo-klassizistischen „Flüsterprosa, längst von Dichtern vorformuliert“,57 wie es in dem Gedicht „Kunst“ aus dem Zyklus „Variationen auf einen Schillervers“ („Es ist in dir, du bringst es ewig hervor“) heißt. Maurer bringt hier einen Terminus ins Spiel, der seine Lyrik kennzeichnet: sie besteht zum größeren Teil aus nichts anderem als einer willkürlichen Versifizierung einer an sich schon bemühten Prosa. In dem Gedicht Kunst ist zu lesen:
(…) Für das Kind im Mutterleib
sorgt die Natur, doch nicht ohne Beratung. Endlich
ist’s da. Und die Geliebte brachte es hervor.
Der Mann… er taugt nicht zum Gebären,
so macht er etwas. Und er machte Macht
jahrtausendlang: (…)
Doch Kinderwagen machen, Reihenuntersuchung,
Bauklötzer, Ratschen, bunte Bilderbücher
ist Etwas machen, Kunst, ja der Natur Natur!58
Oder:
Du siehst mich an. Und ich versteh, wenn du sagst:
Kind und Zicklein. Ich wiederhol die Laute deiner Sprache,
die Sprache der Dinge!59
Die Selbstverpflichtung der Maurerschen Sprache auf einen bereits vorformulierten Sprachbestand, auf die „Hostie höchster Dichtung“60 und seine hemmungslos unreflektierte Übernahme dieser Sprachmuster ist, abgesehen von einem Großteil der Becherschen Produktion und einiger weniger Versuche junger Autoren,61 in der Lyrik der DDR ohne Beispiel.
Gregor Laschen, aus Gregor Laschen: Lyrik in der DDR. Anmerkungen zur Sprachverfassung des modernen Gedichts, Athäneum Verlag, 1971
GEORG MAURER
Zur vierten Wiederkehr seines Todestages
Aus einer siebenbürgischen Kleinstadt
Gelangt er ins Leben. Unbegreiflich
Ist ihm das Spiel
Zwischen Mann und Macht. Geldlos
Sieht er die Wechsler, den
Ewigen Tausch. Seltsamer Heiliger,
Hebt er den Arm, daß sich die Vögel
Niederlassen auf ihm.
Tröstungen
Findet er in den Kammern der Liebe
Wirr
Ist sein Blick. Aus der Verwirrung
Wird er zum Dichter. Zurück
Ins Land seiner Kindheit
Geht er in grauer Montur.
Im Dunst der Baracken
Sieht man ihn Dramen entwerfen. Geangen
Sieht er verzweifelt im Dunkel des Schachts,
Wie sich Getretene treten. Also gezeichnet
Steht er vor Trümmern, doch er beginnt
Die Linien des Schicksals
Sich zu entwirren. Aus Urnebeln treten,
Allmählich sich schärfend, die Bilder
Frauen und Kindern
Teilt er sich mit. Und seine Heiterkeit
Klingt als ein Lachen
Über das ewige Mittelalter der Welt
Seinen Schülern entgegen.
Auf sommerlicher Terrasse
Am Ufer des Sees letzte Gespräche. Dann
Sieht man ihn gehen. –
Was ihm erspart bleibt,
Was schwerer wiegt als der Himalaja,
Hat er gesagt. Jetzt tragens
Die Frau, die Söhne, die Freunde.
Wie als er lebte
Weben die Schleier des fliehenden Sommers
Ihr Netz über brüchigen Dächern.
Mit einer Heiterkeit,
Die alle Trauer der Welt in sich schließt,
Entzünden sich die Laternen.
Wenige Malven
Im Garten des Gohliser Schlößchens.
Gottes vergebliche Güte. Keine Versöhnung.
Heinz Czechowski
DER LEHRER / FÜR GEORG MAURER
Die guten Lehrer rühmen nicht:
Sie rühmen nur, indem sie uns beweisen.
Der Bauer preist den Sommer nicht vor seiner Ernte.
Dem Schüler zeigt die Möglichkeit nur das Gelernte.
Die tags nicht träumen, sitzen nachts und preisen,
indem sie unsrer Welt den Vers entreißen:
Die Wirklichkeit ist spröd. Sie gibt sich nicht
dem ersten besten – Landschaft und Gedicht
gehören denen nur, die vor dem Ernten pflügen.
Drum, Pflüger, prüft die Verse, ob sie auch genügen!
Heinz Czechowski
IN DIESEM SOMMER
Für Georg Maurer
In diesem Sommer zogen wir aus.
Fast ziellos
Suchten wir nichts,
Keine kostbaren Bilder,
Zufrieden,
Wenn wir das Land
Auf schnellen Gefährten durcheilten und
Unsere Namen uns nannten
Wo nichts war als Stille.
Es schien uns genug,
Daß einmal kein Schmerz mit uns war
Dort
Im Athenerwald.
Und auch als ins unwahre Blau
Zwischen härteren Gräsern
Nackter Fels stieg, zorniger Wind
Durchs Gebälk des Gerüsts fuhr, das
Unsere Väter errichtet hatten
Ahnten wir nichts.
Niemand beschwor uns zur Umkehr.
Ach wir hätten nichts tun können in diesem Sommer,
Wo dröhnend Maschinen
Über staubige Felder zogen
Und die Sensen gedengelt wurden.
Denn, Tod, noch immer
Sprichst du diese seltsame Sprache,
Wenn die Orgel erdröhnt mit allen Registern
Und du erntest,
Was du nicht gesät hast.
Heinz Czechowski 6.8.1971
Hermann Kähler: „Aber unter den Menschen ist nichts gewaltiger als die Sehnsucht“
Sinn und Form, Heft 5, 1967
Franz Fühmann: Lob des Menschen
National-Zeitung“, 12.3.1957
Rainer Kirsch: Georg Maurer zum 60. Geburtstag
Martin Reso: Sein Thema: Der Mensch
Berliner Zeitung, 10.3.1967
Heinz Czechowski: Maurers Selbstbildnisse
Sinn und Form, Heft 4, Juli/August 1977
Uwe Berger: Er erhob den Alltag zur Poesie
Neues Deutschland, 12.3.1977
Horst Haase: … daß nichts verlorengeht
Sonntag“, Nr. 11, 1977
Rulo Melchert: Unverbesserlich in seinem Glauben an das Bessere
Junge Welt, 11.3.1978
Hanna-Heide Kraze: Der Dichter ohne Schreibtisch
Der Morgen, 15./16.4.1978
Hans Brauneis: Im poetischen Torbogen
Der Morgen, 4.8.1981
Das Buch des Lebens weiterführen
Sonntag, Nr. 31, 1981
Dietmar Felden: Die Perspektive sind wir selbst
National-Zeitung, 11.3.1982
Klaus Hennig: Wirkliche Welt
Berliner Zeitung, 11.3.1982
Sabine Karradt: Poesie auch im Alltag
Der Morgen, 2./3.8.1986
Ingrid Hähnel: Lob der Poesie
Wochenpost, Nr. 9/1987
Heinz Czechowski: „Was bleibt?“
Sinn und Form, Heft 2, März/April 1992
Franka Köpp: Arbeit – die große Selbstbegegnung
junge Welt, 11.3.2017
Michael Mäde: Wider den Nebel des Vergessens
junge Welt, 5.8.2021
Horst Buder: Seine Verse galten dem Leben
Neue Zeit, 8.8.1971
Heinz Czechowski: Georg Maurer
Sonntag, Nr. 33, 1971
Jürgen Engler: Welt und Mensch
ich schreibe, 1/1971
Karl Mickel: Georg Maurer / Karl Mickel und Sarah Kirsch
Weltbühne, 33/1971
Fritz J. Raddatz: Liebe und Arbeit oder Das große Weltanschauungsgedicht
Süddeutsche Zeitung, 19.8.1971
Erhard Scherner: Dichtung mit Zukunft
Berliner Zeitung, 6.8.1971
Max Walter Schulz: Dichter und Lehrer des Wirklichen
Neues Deutschland, 6.8.1971
Wieland Herzfelde: Worte des Gedenkens für Georg Maurer
Sinn und Form, Heft 1, 1972
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