Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die dritte Elegie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die dritte Elegie“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Die dritte Elegie

Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes, wehe,
jenen verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Bluts.
Den sie von weitem erkennt, ihren Jüngling, was weiß er
selbst von dem Herren der Lust, der aus dem Einsamen oft,
ehe das Mädchen noch linderte, oft auch als wäre sie nicht,
ach, von welchem Unkenntlichen triefend, das Gotthaupt
aufhob, aufrufend die Nacht zu unendlichem Aufruhr.
O des Blutes Neptun, o sein furchtbarer Dreizack,
O der dunkele Wind seiner Brust aus gewundener Muschel.
Horch, wie die Nacht sich muldet und höhlt. Ihr Sterne,
stammt nicht von euch des Liebenden Lust zu dem Antlitz
seiner Geliebten? Hat er die innige Einsicht
in ihr reines Gesicht nicht aus dem reinen Gestirn?

Du nicht hast ihm, wehe, nicht seine Mutter
hat ihm die Bogen der Braun so zur Erwartung gespannt.
Nicht an dir, ihn fühlendes Mädchen, an dir nicht
bog seine Lippe sich zum fruchtbarern Ausdruck.
Meinst du wirklich, ihn hätte dein leichter Auftritt
also erschüttert, du, die wandelt wie Frühwind?
Zwar du erschrakst ihm das Herz; doch ältere Schrecken
stürzten in ihn bei dem berührenden Anstoß.
Ruf ihn … du rufst ihn nicht ganz aus dunkelem Umgang.
Freilich, er will, er entspringt; erleichtert gewöhnt er
sich in dein heimliches Herz und nimmt und beginnt sich.
Aber begann er sich je?
Mutter, du machtest ihn klein, du warsts, die ihn anfing;
dir war er neu, du beugtest über die neuen
Augen die freundliche Welt und wehrtest der fremden.
Wo, ach, hin sind die Jahre, da du ihm einfach
mit der schlanken Gestalt wallendes Chaos vertratst?
Vieles verbargst du ihm so; das nächtlich-verdächtige Zimmer
machtest du harmlos, aus deinem Herzen voll Zuflucht
mischtest du menschlichern Raum seinem Nacht-Raum hinzu.
Nicht in die Finsternis, nein, in dein näheres Dasein
hast du das Nachtlicht gestellt, und es schien wie aus Freundschaft.
Nirgends ein Knistern, das du nicht lächelnd erklärtest,
so als wüßtest du längst, wann sich die Diele benimmt …
Und er horchte und linderte sich. So vieles vermochte
zärtlich dein Aufstehn; hinter den Schrank trat
hoch im Mantel sein Schicksal, und in die Falten des Vorhangs
paßte, die leicht sich verschob, seine unruhige Zukunft.

Und er selbst, wie er lag, der Erleichterte, unter
schläfernden Lidern deiner leichten Gestaltung
Süße lösend in den gekosteten Vorschlaf –:
schien ein Gehüteter … Aber innen: wer wehrte,
hinderte innen in ihm die Fluten der Herkunft?
Ach, da war keine Vorsicht im Schlafenden; schlafend,
aber träumend, aber in Fiebern: wie er sich ein-ließ.
Er, der Neue, Scheuende, wie er verstrickt war,
mit des innern Geschehens weiterschlagenden Ranken
schon zu Mustern verschlungen, zu würgendem Wachstum, zu tierhaft
jagenden Formen. Wie er sich hingab –. Liebte.
Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis,
diesen Urwald in ihm, auf dessen stummem Gestürztsein
lichtgrün sein Herz stand. Liebte. Verließ es, ging die
eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung,
wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend
stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten,
wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes
Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt.
Ja, das Entsetzliche lächelte … Selten
hast du so zärtlich gelächelt, Mutter. Wie sollte
er es nicht lieben, da es ihm lächelte. Vor dir
hat ers geliebt, denn, da du ihn trugst schon,
war es im Wasser gelöst, das den Keimenden leicht macht.

Siehe, wir lieben nicht, wie die Blumen, aus einem
einzigen Jahr; uns steigt, wo wir lieben,
unvordenklicher Saft in die Arme. O Mädchen,
dies: daß wir liebten in uns, nicht Eines, ein Künftiges, sondern
das zahllos Brauende; nicht ein einzelnes Kind,
sondern die Väter, die wie Trümmer Gebirgs
uns im Grunde beruhn; sondern das trockene Flußbett
einstiger Mütter –; sondern die ganze
lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder
reinen Verhängnis –: dies kam dir, Mädchen, zuvor.

Und du selber, was weißt du –, du locktest
Vorzeit empor in dem Liebenden. Welche Gefühle
wühlten herauf aus entwandelten Wesen. Welche
Frauen haßten dich da. Was für finstere Männer
regtest du auf im Geäder des Jünglings? Tote
Kinder wollten zu dir … O leise, leise,
tu ein liebes vor ihm, ein verläßliches Tagwerk, – führ ihn
nah an den Garten heran, gieb ihm der Nächte
Übergewicht . . . . . .
aaaaaaaaaaaaaaaaaaVerhalt ihn . . . . . .

1912/13

 

Kommentar

Heute für jeden Psychoanalytiker ein wahrer Tummelplatz der ihm von seinen Patienten und aus Freuds Schriften bekannten Motiven und Topoi, hatte diese „Dritte Elegie“ gleichwohl das Zeug, das Wissen um das menschliche Seelenleben zu erweitern. Bekanntlich waren für den Begründer der Psychoanalyse gerade die Dichter „wertvolle Bundesgenossen, die mehr von den Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen [pflegen], von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt“.1
Auch bei dieser Elegie übertrifft das Staunen über Rilkes Fähigkeit zur Poetisierung der psychischen Wirklichkeit die Begeisterung über ein in Genre und Duktus anachronistisches Kunstwerk. Die ästhetische Frage, warum gerade der hohe, Hölderlin’sche Ton angemessen sei, die archaischen Schichten der erotischen Liebe zu erhellen, kann solange nicht beantwortet werden, wie kein anderer lyrischer Versuch einer analytischen Introspektion unternommen wurde (was meines Wissens bis heute nicht der Fall ist).
Was vielen – und heute wohl den meisten – in den Ohren „kratzt“: der ,hohe‘ Ton zu einem profanen Thema, scheint für den Autor die Fähigkeit besessen zu haben, zwischen sich (als Dichter) und sich (als Sujet) größtmögliche Distanz zu schaffen und so den Objektivierungsvorgang zu begünstigen. Wenig attraktiv dürfte für ihn das Risiko gewesen sein, als Hölderlin-Epigone in die Literaturgeschichte einzugehen. An dieser Epigonalität scheint jedoch kein Weg vorbeizuführen, solange man noch den Mut hat – heute undenkbar, denn das ist eben das „Unmoderne“ –, als Subjekt der Geschichte seine Stimme zu erheben.
Rilkes Selbstverständnis als unberufenes Relikt der bürgerlichen Elite des 19. Jahrhunderts hat ihn stärker an die geistigen Strömungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts angebunden, als er sich wohl selber bewusst war. Das Erbe des literarischen Idealismus Schiller’scher und Hölderlin’scher Prägung ist bei ihm ebenso virulent wie die ironische Leichtgläubigkeit eines Heinrich von Kleist angesichts des Hegel’schen Geschichtsoptimismus. Rilke ist ein Spätromantiker wider Willen, der in Bezug auf die Moderne reines Entdeckerblut in den Adern hat. Denn Altmeisterliches wie die antikisierenden Elegien verbindet sich – keineswegs mühelos! – mit der introspektiven Darstellung entwurzelter Seelenlagen. Klassizist alter Schule, setzt er um, was Friedrich Schlegel moniert hatte:

Aus dem Innern herausarbeiten […] muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich getan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus Nichts. […] Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.2

Rilke versucht sich dabei an Tableaus, die mit den Mitteln der Mythologie die Psychomachien der Moderne darstellen, und gerät damit unversehens in die Fahrwasser abstrakter Kunst. Wenn eines ihrer Kennzeichen die Subjektkrise mit Symptomen wie narzisstische Selbstverfallenheit und das Oszillieren zwischen Allmachtswahn und Ohnmacht ist, dann ist dieses Werk ein beredtes Zeugnis davon und steht in einer Linie mit Büchners Lenz-Novelle und Kafkas mit den ersten drei Elegien fast gleichzeitigen Erzählung Das Urteil (die Rilke kannte).
Dass mit Neptun/Poseidon ein mythologischer „Fluß-Gott des Bluts“ berufen wird, hinter dem sich ein fiktiver „Jüngling“ verbirgt, der auf der Bühne des Gedichts Erzähler und Figur zugleich ist, scheint eine verwirrende Anordnung, die abwechselnd Distanz und Nähe erlaubt, wie zur Introspektion nötig. Das adressierte „Mädchen“ ist „die Geliebte“ schlechthin, wobei zu vermerken ist, dass der Erzähler-„Jüngling“ in der Lage ist, vor sich selbst als Figur zu warnen, während er sich gleichzeitig als Mann hinter jenem Neptun verbirgt, der sein phallisches „Gotthaupt“ hebt.
Dass die Mythologisierung des männlichen Triebs kein Selbstzweck ist und schon gar keine bourgeoise Umschreibung einer anrüchigen Sache, erhellt aus der Gegenbildlichkeit, die es erlaubt, den vitalistischen Archetyp („diesen Urwald in ihm“, „das ältere Blut“, „Vorzeit“) dem individuellen Phänotyp („Er, der Neue“) entgegenzusetzen. Bei allem Anschein des Neuen und Anderen konnte dessen „Innere Wildnis“ nicht gelichtet werden. Nicht einmal die eigene Mutter konnte das „wallende Chaos“ bezähmen, obwohl sie ihm mit ihrem „Herzen voll Zuflucht“ Geborgenheit bot. Er „schien ein Gehüteter“, aber im „gewaltigen Ursprung“ seiner Seele bleibt er dem „unendlichen Aufruhr“ ausgesetzt und auf weibliche Besänftigung angewiesen.
Die Frage, ob jenes Mädchen, ob die idealtypische Frau, die nach Rilkes Vorstellung – ein lebensphilosophisches Stereotyp jener Zeit – zur Linderung des dualen Chaos im Mann kraft ihrer heileren Natur beitragen kann, diese Aufgabe überhaupt übernehmen will, stellt sich für den Sprecher offenbar nicht. Das „Mädchen“ hat schlicht keine Stimme, muss sich gar schuldig fühlen, wenn die Frage im Raum steht:

Was für finstere Männer
regtest du auf im Geäder des Jünglings?

Der Makel der Selbstgerechtigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Andererseits bekennt hier ein Mann seine Unfähigkeit zu lieben, wenn man mit Liebe das Gleichgewicht von Geben und Nehmen versteht. Seine Ehrlichkeit zeichnet ihn aus, seine Bereitschaft, vor sich selbst zu warnen. Dass die Frau ihm „der Nächte | Übergewicht“ schenke, ihn „verhalte“ und ihm gar „leise, leise […] ein verläßliches Tagwerk“ vorlebe, macht den Mann zum Nutznießer und instrumentalisiert die Frau zum wohlfeilen Remedium.
Was man diesem Mann noch zugutehalten kann, ist seine ungeschützte Exposition, seine Bekenntnisfreude, die sich allenfalls im antikisierenden Duktus und der schwer zugänglichen Bildgebung verbergen kann. Allerdings sind seine Überzeugungswege kaum zugänglich. In ihrer mythologischen Verschlüsselung mögen sie an Konstruktionen wie den „Ödipuskomplex“ anklingen, doch sind sie aus keiner klinischen oder therapeutischen Praxis gewonnen und bleiben thesenhaft.
Der als „tierhaft“ charakterisierte „Fluß-Gott des Bluts“ ist eine sehr männliche Hypothese, die es keinesfalls zur psychoanalytischen Allegorie bringt. Hinter der Mythologisierung wird die Mystifizierung sichtbar, die freilich wiederum analytisch aufschlussreich ist, geht sie doch mit einem bezeichnenden Narrativ einher; es ist das Narrativ vom elementar-naturwüchsigen Mann, dessen viriles Erbe ihn der Tierwelt näherbringt als der Zivilisation.
Ob Pan, Satyr oder Dionysos: die Antike verkörperte das Triebhaft-Phallische prominent in der Götterwelt, die z.T. aus Mischwesen bestand: Hybride, für die Neptun freilich kein Beispiel ist. Rilkes Männerbild läuft vielmehr auf ein duales Wesen hinaus, dessen „tierhafte“ Komponente ein notorisch „schuldiges“ Dasein im Unbewussten fristet. Das gibt dem Phänotyp ein völliges anderes Aussehen als dem Archetyp der Antike, der den Eros frei und freudig auslebte und nach keiner Frau rief, die er zur „Linderung“ oder gar Heilung gebraucht hätte.
Das dualistische Bild speist sich aus kontroversen, konfligierenden Aspekten, die eine psychosomatische Leidens- und Krankheitsquelle bilden. Rilke versuchte dem zu entgehen, indem er – vergebens – mit dem Vitalismus antiker Prägung liebäugelte und ihm eine Reihe von Phallus-Gedichten widmete, auf deren Abdruck wir in diesem Band verzichten. Anders gelagert als bei Kafka, aber ebenfalls zentral, erschien ihm Schuld als der Kristallisationskern des Unbewussten, der u.a. einer befreiten Sexualität im Weg stand. Indem, wie sie wussten, dieser Kern auch die künstlerische Produktivität befeuerte, verbot sich beiden Autoren die therapeutische Bearbeitung des Komplexes.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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