Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die zweite Elegie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die zweite Elegie“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Die zweite Elegie

Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir,
ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele,
wissend um euch. Wohin sind die Tage Tobiae,
da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür,
zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar;
(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah).
Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen
eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf-
schlagend erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr?

Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung,
Höhenzüge, morgenrötliche Grate
aller Erschaffung, – Pollen der blühenden Gottheit,
Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne,
Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte
stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln,
Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit
wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.

Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir
atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut
geben wir schwächern Geruch. Da sagt uns wohl einer:
ja, du gehst mir ins Blut, dieses Zimmer, der Frühling
füllt sich mit dir … Was hilfts, er kann uns nicht halten,
wir schwinden in ihm und um ihn. Und jene, die schön sind,
o wer hält sie zurück? Unaufhörlich steht Anschein
auf in ihrem Gesicht und geht fort. Wie Tau von dem Frühgras
hebt sich das Unsre von uns, wie die Hitze von einem
heißen Gericht. O Lächeln, wohin? O Aufschaun:
neue, warme, entgehende Welle des Herzens –;
weh mir: wir sinds doch. Schmeckt denn der Weltraum,
in den wir uns lösen, nach uns? Fangen die Engel
wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes,
oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig
unseres Wesens dabei? Sind wir in ihre
Züge so viel nur gemischt wie das Vage in die Gesichter
schwangerer Frauen? Sie merken es nicht in dem Wirbel
ihrer Rückkehr zu sich. (Wie sollten sie’s merken.)

Liebende könnten, verstünden sie’s, in der Nachtluft
wunderlich reden. Denn es scheint, daß uns alles
verheimlicht. Siehe, die Bäume sind; die Häuser,
die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur
ziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch.
Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb als
Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung.

Liebende, euch, ihr in einander Genügten,
frag ich nach uns. Ihr greift euch. Habt ihr Beweise?
Seht, mir geschiehts, daß meine Hände einander
inne werden oder daß mein gebrauchtes
Gesicht in ihnen sich schont. Das giebt mir ein wenig
Empfindung. Doch wer wagte darum schon zu  sein?
Ihr aber, die ihr im Entzücken des anderen
zunehmt, bis er euch überwältigt
anfleht: nicht mehr –; die ihr unter den Händen
euch reichlicher werdet wie Traubenjahre;
die ihr manchmal vergeht, nur weil der andre
ganz überhand nimmt: euch frag ich nach uns. Ich weiß,
ihr berührt euch so selig, weil die Liebkosung verhält,
weil die Stelle nicht schwindet, die ihr, Zärtliche,
zudeckt; weil ihr darunter das reine
Dauern verspürt. So versprecht ihr euch Ewigkeit fast
von der Umarmung. Und doch, wenn ihr der ersten
Blicke Schrecken besteht und die Sehnsucht am Fenster,
und den ersten gemeinsamen Gang, einmal durch den Garten:
Liebende, seid ihrs dann noch? Wenn ihr einer dem andern
euch an den Mund hebt und ansetzt –: Getränk an Getränk:
o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung.

Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? war nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wußten damit: so weit sind wirs,
dieses ist unser, uns so zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.

Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales
Menschliches, einen unseren Streifen Fruchtlands
zwischen Strom und Gestein. Denn das eigene Herz übersteigt uns
noch immer wie jene. Und wir können ihm nicht mehr
nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in
göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt.

1912

 

Kommentar

In keinem von Rilkes Gedichten enthüllt sich so klar die Anatomie ambivalenter Sakralchiffren wie in diesem. Nirgendwo werden die visionäre Kraft und Gefahr archaisierender Gefühle so dramatisch auf Ursprung und Wirkung hin geschildert wie hier. Für alle, die an Wunder, Gottesbegegnung und unio mystica glauben oder diese erfahren zu haben meinen, mag diese Elegie Bestätigung der Grenzerfahrung und Warnung vor der Ichauslöschung in der Psychose zugleich sein. Dass der religiöse Schauer sich aus Angst und Verzückung gleichzeitig zusammensetzt, darauf hat ein Zeitgenosse Rilkes, der protestantische Religionswissenschaftler Rudolf Otto, hingewiesen, als er „das Heilige“ generell als das „mysterium tremendum et fascinans“1 beschrieb.
Rilke demonstriert sozusagen in actu, was uns in Trance und Ekstase versetzt oder den meditativen flow, vielleicht sogar die Erleuchtung durch Satori, die Erkenntnis vom universellen Wesen des Daseins im japanischen Za-Zen, verursacht; was uns also hinausträgt in transzendentale Erfahrung – und gelegentlich wohl zweifeln lässt an unsrer geistigen Normalität.
Diese Distichen enthalten sowohl eine komplette Psychopathologie des religiösen Wahns wie eine Zurückführung der Spiritualität auf Grundbedürfnisse, die in dem Maß wachsen, wie unsere Kulturen sie enttäuschen und im Übrigen alles tun, um die Reste unserer naturmystischen Sensibilität zu zerstören. In ihnen nimmt Gestalt an, was und wer seit alters her in unserem kollektiven Unbewussten geistert und längst zum individuellen Ausdruck unseres Seelenlebens wurde.
Die angesungenen „Engel“ begegnen uns bei Rilke wiederholt, so dass hier auf die Kommentare vor allem der ersten und vierten Elegie verwiesen sei. Was in der „Zweiten Elegie“ hinzukommt, sind die ikonografischen Attribute des Anfangs, welche die Engelallegorien auf erleuchtete Urgrunderfahrungen, aber auch psychische Archaisierung hin perspektivieren. Als „Tumulte | stürmisch entzückten Gefühls“ sind sie ausdrücklich mit Anfangseigenschaften verbunden („frühe“, „morgenrötliche“, „Pollen“); es sind darüber hinaus Steigerungsfiguren, deren manische „Höhen“ die Gefahr der psychischen Niederungen einschließen, zumal ihre exaltierte Qualität durch einen narzisstischen Schönheitstaumel definiert ist, indem die Rede ist von „Spiegel[n]: die die entströmte eigene Schönheit | wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz“.
Aber weniger die sich selbst genügende „Schönheit“ als solche birgt die Gefahr der Selbstzerstörung („hochauf- | schlagend erschlüg uns das eigene Herz“), als der Selbstverbrauch, der entsteht, wenn die Quelle der Freude in der Ausschöpfung eben dieser Quelle besteht („Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir | atmen uns aus und dahin“). Nicht einmal „Liebende“, die doch einander Objekt sind, entgehen dem Unendlichkeitshorizont („So versprecht ihr euch Ewigkeit“), weil auch sie in ihrer symbiotischen Neigung dem Ichverlust durch die Spiegelung des einen im anderen unterliegen und damit dem ,Selbstverzehr‘ („Wenn ihr einer dem andern | euch an den Mund hebt und ansetzt“).
Damit scheitert also der regressive Weg zur spirituellen Alleinheit am Selbstobjekt, sprich dem Zusammenprall von Ich und Welt im alles agglomerierenden „Weltinnenraum“, wie wir ihn aus dem Gedicht „Es winkt zu Fühlung“ kennen. Anders gesagt: Wo Innen- und Außenwelt, Ich und Du zusammenfallen, ist ein Seelenzustand erreicht, der einerseits das Überfließen, die Verschmelzung mit dem All feiern mag, andererseits aber das Nichts des Selbstverlusts vor Augen hat.
Wie alle anderen Elegien auch, wie im Grunde Rilkes gesamtes Werk, zeugen diese Zeilen von einem hohen Grad an psychischer Durcharbeitung, wie sie im Andrang psychotischer Bilder über die Fähigkeit zur künstlerischen Objektivierung entscheidet. So können die „falschen“ Fantasien abgewehrt werden, wenn beispielsweise „die Vorsicht | menschlicher Geste“ der ekstatischen „Liebkosung“ und damit die „Beherrschten“ denen entgegengesetzt werden, die ineinander ertrinken und sich damit auslöschen („o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung“).
Am Ende steht die Einsicht, dass die archaisierenden Verschmelzungsfantasien von Gefühlen diktiert sind, die engelhaft schön, aber auch „tödlich“ sind („tödliche Vögel der Seele“), indem sie überwältigen und nicht mehr objektiviert werden können:

Denn das eigene Herz übersteigt uns
noch immer wie jene
[die Liebenden, Vf.]. Und wir können ihm nicht mehr
nachschaun in Bilder, die es besänftigen.

Die Kunst triumphiert also als das Mittel, eben nicht „der Handlung zu entgehen“, sprich in völliger Lähmung und letztlich der Selbstauslöschung zu versinken. Rilke thematisiert hier nichts anderes, als was ihn mit periodischen Ausnahmen (wie z.B. auch in diesem Februar 1912) über ein Jahrzehnt lang bis 1922 am Schreiben hinderte. Erst indem das Sujet des Schreibens in der Poetisierung der psychischen Wirklichkeit gefunden war, somit eine poetische Psychologie oder psychologische Poetik möglich wurde, gelang ihm die Fortsetzung der künstlerischen Arbeit. Auch mit der nächsten, der „Dritten Elegie“, im Keim fast zeitgleich mit der „Zweiten“ entstanden und im Spätherbst 1913 erst vollendet, ist das Sujet eine Bestandsaufnahme der strukturellen seelischen Lage, man könnte auch sagen: eine Selbst-Psychoanalyse. Inzwischen hatte er einen psychoanalytischen Kongress in München besucht und Freud persönlich kennengelernt. Dem für eine Analyse optierende Arzt Emil von Gebsattel hatte er im Jahr davor bekannt, daß seine Dichtung „eigentlich nichts anderes als eine […] Selbstbehandlung“ sei.2

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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