Gerhard Schulz: Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Gebet für den toten Bräutigam“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Gebet für den toten Bräutigam“ aus dem Gedichtband Nelly Sachs: Suche nach Lebenden. −

 

 

 

 

NELLY SACHS

Gebet für den toten Bräutigam

Wenn ich nur wüßte,
Worauf dein letzter Blick ruhte.
War es ein Stein, der schon viele letzte Blicke
Getrunken hatte, bis sie in Blindheit
Auf den Blinden fielen?

Oder war es Erde,
Genug, um einen Schuh zu füllen,
Und schon schwarz geworden
Von soviel Abschied
Und von soviel Tod bereiten?

Oder war es dein letzter Weg,
Der dir das Lebewohl von allen Wegen brachte
Die du gegangen warst?

Eine Wasserlache, ein Stück spiegelndes Metall,
Vielleicht die Gürtelschnalle deines Feindes,
der irgend ein anderer, kleiner Wahrsager
Des Himmels?

Oder sandte dir diese Erde,
Die keinen ungeliebt von hinnen gehen läßt,
Ein Vogelzeichen durch die Luft,
Erinnernd deine Seele, daß sie zuckte
In ihrem qualverbrannten Leib?

 

Schönheit und Gewalt

Kein Zweifel: dieses Gedicht ist schön. Seine äußere Gestalt besitzt Harmonie. Mit zwei gleich langen Strophen hebt es an, eine dritte und vierte durchbrechen dann zwar die Regelmäßigkeit, aber am Ende, in der fünften, kehrt es wieder in sie zurück. Aufgesang und Abgesang aller Lyrik scheinen darin ihre Spur hinterlassen zu haben. In der elegischen Melodie der fünf Fragen ist Musik, die durch keinen harschen Klang gestört wird. Die Bildersprache des Gedichts schließlich umfaßt die ganze Weite menschlichen Daseins zwischen Himmel und Erde, aber sie bleibt einfach in ihrer kräftigen, klaren Anschaulichkeit und ist keiner Erläuterung bedürftig.
Ja, dieses Gedicht ist schön. Aber darf es denn schön sein? Die Frage ist so alt wie das Gedicht selbst. Es ist eines jener zehn „Gebete für den toten Bräutigam“, die 1946 in Nelly Sachs’ erstem Lyrikband In den Wohnungen des Todes erschienen sind. Aus annähernd gleicher Zeit stammt die weithin bekannt gewordene Frage Adornos, welches Recht Poesie denn noch im Zeitalter nach diesen deutschen „Wohnungen des Todes“ haben könne – eine Frage, auf die die „Gebete“ schon damals eine stille Antwort gaben.
Seitdem sind fünf Jahrzehnte vergangen. Sie haben in vielen Beispielen bestätigt, daß gerade Kunst die Dimensionen des Grauens vermessen kann, indem sie das von jedem Verstand Unfaßbare miterlebbar macht. Darüber hinaus jedoch ist eine andere, neue Frage entstanden. Nelly Sachs, in Berlin lebend, entkam 1940 den Verfolgern in letzter Minute. Ihre Gedichte hat sie im schwedischen Asyl geschrieben. Unmittelbare Lebenserfahrung also spiegeln sie wider, ohne daß wir Namen und Person dieses Bräutigams kennen müssen. Biographische Details mögen da sekundär sein. Wohl aber ist zu fragen, ob sich die Gedichte überhaupt von biographischer Realität trennen lassen, ob man also für ihr rechtes Verstehen nicht doch ganz und gar auf die Lebensgeschichte ihrer Verfasserin angewiesen bleibt.
Die Frage ist weittragend und voller Konsequenzen. Vom „Erlebnis“ als entscheidendem Anstoß und Inhalt alles Dichtens hat sich die Literaturwissenschaft längst entfernt, wünscht sie doch ihrem Gegenstand fortdauernde Aktualität. Aber was an Goethe leicht vorzuführen und zu üben ist – läßt sich das auch hier tun, ja soll es überhaupt versucht werden angesichts der Ungeheuerlichkeiten, auf die sich die Verse beziehen, unvergleichbar mit allem, was je in den Erfahrungskreis Goethes getreten ist?
Nelly Sachs hat einen weiten Rahmen gesetzt. Von der Liebe der Erde und des Himmels, vom „Vogelzeichen“ und von einem Lichtstrahl als „kleinem Wahrsager“ lesen wir, wie es einem Gebet entspricht, obwohl dieses hier nur aus Fragen besteht, und ein Befragter nicht aus ihm, sondern allenfalls aus dem Umkreis der anderen neun Gebete erschließbar ist. Allerdings: von den „goldenen Überraschungen des Herrn“ wissen auch in ihnen „nur die Träume“, wie es am Ende des letzten Gebets heißt. Innerhalb solch absoluter Dimensionen aber handelt dieses Gedicht von zwei großen Grenzerfahrungen menschlicher Existenz, von Liebe und Tod, und vom kleinen Tod des Abschiednehmens, das ja, wenn es als Schmerz empfunden wird, Liebe voraussetzt.
Dieser Tod hier ist allerdings unmißverständlich ein Tod durch Gewalt. Der Stein, der verlorene Schuh auf dem Weg in den Tod, die „schwarze“, blutgetränkte Erde, das „spiegelnde Metall“, die „Gürtelschnalle deines Feindes“ zeigen es deutlich genug. So sind die Verse Klage, Anklage und zugleich ein Liebesgedicht sondergleichen. Ein alter Topos – die getrennten Liebenden finden sich durch den Blick auf ein gemeinsames Drittes – wird aufgenommen und modifiziert. Sterne oder Mond mußten einstmals zu solcher Begegnung dienen; hier sind es die kleinen, auf eigene Art schönen Realien im Reiche menschlicher Gewalt. Denn unsere Definitionen des Kunstschönen sind weit geworden. Das aber führt noch einmal auf die Frage der Abhängigkeit der Verse von Biographie und Zeiterfahrung zurück. Falls einmal künftige, glücklichere Zeiten erklärt haben wollen, was es mit einem „qualverbrannten Leib“ auf sich hatte, wird man die Geschichte von Nelly Sachs’ Zeit abrufen müssen.
Wenn die künftigen Zeiten aber nicht glücklicher sein sollten, werden sie in diesem Gedicht sich selbst wiederfinden, wofür schon die fünf Jahrzehnte nach 1946 manchen Anlaß geboten haben. Das erwiese immerhin, daß ein Bedürfnis nach Gedichten fortbesteht.

Gerhard Schulz aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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