Gertrud Kolmar: Poesiealbum 315

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gertrud Kolmar: Poesiealbum 315

Kolmar/Liebermann-Poesiealbum 315

NACHRUF

Ich werde sterben, wie die Vielen sterben;
Durch dieses Leben wird die Harke gehn
Und meinen Namen in die Scholle kerben.
Ich werde leicht und still und ohne Erben
Mit müden Augen kahle Wolken sehn,

Den Kopf so neigen, so die Arme strecken
Und tot sein, ganz vergangen sein, ein Nichts.
Und Bettler klammern noch die Wanderstecken
Wie Zauberruten, stehn an Straßenecken,
In leerem Hut das Gold des Abendlichts,

Das ihre magren Finger doch nicht halten,
Dafür der Händler nie Kartoffeln tauscht.
Ich aber liege satt und warm im Kalten,
Und Zorn und Gram und Lust und Händefalten
Sind Meer, davon die große Muschel rauscht…

Ich war. Und werde Staub, den Füße trampeln.
Ich weiß es. Ihr. Ihr starbet lang und seid.
Die Krämer rechnen und die Narren hampeln;
Ihr wartet schweigend unter roten Ampeln
So sanft und unerbittlich wie das Leid,

Den Arm noch festgeschnallt am Henkerkarren,
Und einem strahlt das Messer in der Brust.
Da raffen Diebe, und da peitschen Narren,
Und ich bin Staub, den tausend Füße scharren,
Ich bin – und habe doch von euch gewußt.

Und hab auf diesem Antlitz euch getragen;
Der schwache Spiegel ward es, der euch fing,
Der hingestürzt, erblindet und zerschlagen.
Ach ich. Was bin ich euren ewigen Tagen
Als Blick, als Sandkorn, rinnend und gering?

Die weiche Krume Lehm, die ihr geknetet
Und noch zur Form mit harten Händen zwingt.
Ihr. Die ihr ernst aus euren Nischen tretet,
Was wißt ihr von dem Herzen, das euch betet,
Was von dem Mund, der eure Glorie singt?

 

 

 

Gertrud Kolmar

Der Antisemitismus Ende der 20er Jahre und die erstarkende braune Bewegung weckten in Gertrud Kolmar das Bewußtsein ihrer jüdischen Herkunft und die Solidarisierung mit dem uralten jüdischen Leid; das Jahr 1933 erlebte sie als tiefe Zäsur ihres Weltbildes. Als eine der Ersten dokumentierte sie auf dichterische Weise den brutalen Einbruch der Nazis in die deutsche Geschichte: Das Wort der Stummen hieß das gefährliche und deshalb versteckte Bändchen. Ins KZ verschleppt und vergast wird das Leben „einer der wohl größten Lyrikerinnen“ (Nelly Sachs) von den faschistischen Barbaren ausgelöscht. Die immer unerfüllte Liebe und die Mysterien der Natur machen sie als Dichterin unverwechselbar.

Aus Monika Rinck: Poesiealbum 314, Klappentext, 2014

Stimmen zur Autorin:

Die Hellsichtige: Eine der wohl größten Lyrikerinnen. Visionen über alle Grenzen hinaus.
Nelly Sachs

Um das Ohr des Lesers Tönen zu gewinnen, wie sie in der deutschen Frauendichtung seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden sind, veröffentliche ich die Verse der Kolmar.
Walter Benjamin

Dank für die Kostbarkeiten!
Anton Kippenberg

Die an Phantasie und Ausdruckskraft reichste Begabung … eine Traumwandlerin, der die Grelle der Realität… einen Weg in jenes Reich gewährte, das Goethe das der Mütter nennt.
Kurt Pinthus

Einsamkeit ist das Motiv ihrer Dichtung; doch sie scheint nicht verzagend, sondern fast unsentimental hingenommen. So sind ihre Gedichte revolutionär im wägenden Bereich ihrer Menschlichkeit.
Victor Otto Stomps

Daß ihr Werk innerhalb der modernen deutschen Lyrik einzigartiger Rang zukommt, das hat sich erstaunlicherweise noch immer nicht herumgesprochen.
Peter Hamm

Eine Verzauberung, daß man einen Tag und eine Nacht lang in einer anderen Welt atmete, in einer fremden zaubervollen Welt voll harter, glitzernder Kristalle, voll unheimlicher Tiere und leidender Menschen.
Bertha Badt-Strauß

Eine bildgesättigte und vibrierende Sprache… die visionäre Ungeheuerlichkeit!
Peter von Matt

Sie gilt als Lyrikerin, die mit Fug und Recht als Klassikerin der Moderne bezeichnet zu werden verdiente…
Jan Wagner

Sie verliert sich nicht in dem dürren Gestrüpp des Lyrisch-Konventionellen, sondern zieht einsam ihre Straße, wirklich-unwirklich, ausgestattet mit dem Rüstzeug einer ganz ungewöhnlichen Diktion, hinausstrebend in ein geheimnisvolles Reich phantastischer Visionen.
Hugo Lachmanski

Diese seltenen, unendlich tiefen und melancholischen Verse. Welche Einsamkeit, welch eine irdische Flugbahn… welch uraltes Wissen!
Elisabeth Langgässer

Las … und es hat mich lang niedergestreckt. Solche Texte liebe ich Wort für Wort. Und krepiere daran. Das geht wie Radknirschen über mich weg.
Sarah Kirsch

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2014

Poesiealbum 315

Das hervorstechende Kennzeichen dieser Lyrik ist das Barock, eine Sprache von einer geradezu verschwenderischen Fülle absonderlicher Bilder und ornamental-malerischen Zierrats. Die Dichterin schwelgt in Farben, wie sie aus neuer Zeit eigentlich nur Rimbaud auf seiner Palette hat: dies Sonnenbraun und Rosenrot, dies Pfauenblau und Orangen, dies Schwarzgrünlich und Silberfarben, dies Apfelsinengelb und Smaragden, dies Kupfern und Graubläulich präsentiert sich als das überreiche, schmückende Beiwerk einer Verssprache, über der sich dann noch die kühnsten Metaphern wie schwere dunkle Kuppeln wölben…

Hugo Lachmanski, MärkischerVerlag, Wilhelmshorst, Klappentext, 2014

 

Den Schatten warf ein Gott

Seit Auschwitz ist die Hoffnung geringer geworden, jede Geschichte hätte einen Schluss, der sich noch umschreiben lässt. Jede Heiterkeit trägt noch immer ein Verfallsdatum. Die Empfindlichkeit steht weiter unter Wachstumszwang. Selbst ein Auto, das doch nur einen Schatten überrollt, löst Fragen danach aus, wie kalt wir alles geschehen lassen. Übertrieben! Aber es ist gut, eine Vorsicht übertreiben, eine Hemmung unbedingt feiern zu wollen. Gut, einen falschen Klang zu fürchten und die Demut als den größten Mut zu bezeichnen. Auschwitz. Ein Nachhall, in so unglaublich vielen Arten abgewürgter Worte – 1943 wurde hier die Dichterin Gertrud Kolmar (eigentlich Gertrud Käthe Chodziesner) mit Gas ermordet. Eine der großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, die sich Kolmar nannte, nach dem Ort ihrer Vorfahren im preußischen Posen.
Sie ist eine Dichterin, 1894 in Berlin geboren, die aus der Sicherheit einer wohlhabenden, weitdenkenden, wurzelfest deutschen jüdischen Familie doch zutiefst zitternd Grundgesetzliches fühlt und formuliert: Jede Einzelheit des Daseins hat letztlich die Welt gegen sich und muss sich jenes Terrain erkämpfen, wo sie für kurze Dauer beharren kann. Kolmar hat einen beherzten, einen so betörten wie betörenden, einen so zornigen wie zarten Sinn für jenes Wunder der Worte, das allen Wunden entsteigt. Auf dem poetischen Weg dorthin, wo Verletzungen unmöglich sind, durchleidet das Gedicht der Kolmar alle Schrecken der menschlichen Geschichte wie eine Vorahnung – ja: Sie sieht alles böse und barbarische Vergangene als Prognose. Und schafft so ein Werk, das dem gesicherten bürgerlichen Leben dieser Dichterin so überhaupt nicht entspricht – aber genau das ins Bild fasst, was auch sie vernichten wird. Kolmar schreibt sich mit kraftvollen wie elegischen, robust drängenden wie wunderbar tänzerisch zurückzuckenden Versen in eine tragische Erschütterung hinein, die „das Vorgewusste“ (Peter Hamm) erzählt. Da dem Menschen nur noch aufgetragen ist, wie es im Gedicht „Die Fahrende“ heißt, „nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein“.
In der Erscheinung Flucht sind die Hinterlassenschaften unserer Unvollkommenheit etwas Dauerndes und bleibendes. Das Dämonische unserer Liebessehnsüchte. Das Lügenbunte unserer Wahrheitssuche. Erstaunlich, in wie vielen Stimmungen Kolmar das aufrufen kann. Und wie viele, jeweils anders schauende Seherinnen in dieser Frau zu entdecken sind. Sie kann lustvolle Schamanin, sittenverletztende Komödiantin, robust rüttelnde Kämpferin sein. Horst Nalewskis Auswahl für das vorliegende Poesiealbum betont just diesen revoltierenden, sich auflehnen, den sozial-energetischen, fast könnte man sagen: klassenkämpferischen Charakter des Werkes. Das entschlossen Harte und Härtende. Robespierre:

Du mehr als Mensch. Du nichts als Schatten:
Den eine Gottheit warf!

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 26.1.2015

 

„Denn sieh, du blätterst einen Menschen um“

– Rede zu Werk und Leben Gertrud Kolmars im Rahmen der Jeanette-Schocken-Literaturtage in Bremerhaven, 1996. Die Dichterin Gertrud Kolmar. –

In der Bibliothek Suhrkamp habe ich 1983 eine Auswahl von Gedichten Gertrud Kolmars herausgegeben. Damals schrieb ich folgendes Gedicht:

GERTRUD KOLMAR

Auf meinen Knien das Häufchen
Fotokopien wird leichter

Langsamer lesen
Mit jedem Blatt lege ich Lebenszeit ab
von einer, die schrieb im vorletzten Brief:
Ganz ohne Freude bin ich freilich nicht
Sie meinte ihre Erinnerungen
Weinte mit keinem Wort
Lebte vom Leben schon sehr weit entfernt
Legte an alles Geschehen längst
den Maßstab der Ewigkeit
Trat freiwillig unter ihr Schicksal
Hatte es schon im „voraus bejaht, sich ihm
im voraus gestellt“ schrieb sie

Langsamer lesen

Wir wissen nicht wo sie starb
Wir wissen nicht wann sie starb
Ihre Mörder sind bekannt

Im letzten Brief fiel ihr „eben etwas
Ulkiges ein“. Versprechen und Pläne. Herzliche Grüße

Langsamer lesen

Immer wieder von vorn.

Ulla Hahn, 1982

Daß wir heute, Mitte der neunziger Jahre, sehr viel mehr von Gertrud Kolmar wissen, ist in erster Linie einer hervorragenden Ausstellung des Marbacher Schiller Archivs zu verdanken, die Johanna Woltmann, eine der sachkundigsten Kenner und Anwälte des Werks der Dichterin – Herausgeberin der Bände Das Wort der Stummen, Frühe Gedichte und Briefwechsel mit der Schwester –, zum fünfzigsten Todestag der Dichterin erarbeitet hat. Auch wenn das Werk der Kolmar für sich stehen kann, ist ihr Lebensweg erhellend für ihre Dichtung.

Leicht sind wir Deutschen geneigt, im Falle einer jüdischen Autorin, deren existentielle Gefühle des Andersseins und der Fremdheit, vor allem im Dritten Reich, der gesellschaftlichen Ächtung und Verfolgung zuzuschreiben. Doch ist wohl immer auch Privateres, Persönlicheres im Spiel.

Gertrud Kolmar wurde 1894, noch zu Lebzeiten Theodor Fontanes, in eine ganz und gar bürgerliche Welt geboren. Ihr Familienname ist Chodziesner, nach einer kleinen Kreisstadt in der Provinz Posen, dem Geburtsort des Vaters. Den deutschen Namen dieser Stadt, „Kolmar“, wählte die Dichterin später als Pseudonym.
Wie für viele Juden aus dem Osten war auch für den Vater Gertrud Kolmars der soziale Aufstieg mit dem geographischen und kulturellen Wechsel nach Westen und von der Kleinstadt in die Metropole verbunden. Hier studierte er Jura, ließ sich als Rechtsanwalt in Berlin nieder und heiratete die Tochter eines Berliner Stadtverordneten. Zwei Jahre später wird Gertrud geboren. Man war kaisertreu und liebte sein Vaterland – Vater Kolmar trug einen Backenbart à la Wilhelm II. und war stolz auf seine Ähnlichkeit mit dem Herrscher – man war klassisch gebildet, kulturell interessiert, gesellschaftlich assimiliert.
Und doch ist anzunehmen, daß trotz des wohlhabenden kultivierten Milieus Gertrud Kolmar ihre Kindheit wenig glücklich erlebte. In den Briefen an die jüngere Schwester Hilde kommt dies immer wieder zur Sprache.
Dieser Briefwechsel zwischen den Schwestern begann 1938, nachdem Hilde mit ihrem Kind in die Schweiz emigriert war, und endete kurz vor dem Tod der Dichterin. Nirgends sonst begegnet sie uns so unverstellt und unverkrampft wie in ihren Briefen, erlaubt uns die so scheu Zurückgezogene, in sich Gekehrte so tiefe Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt.
In einer Fragment gebliebenen Biographie der Schwester sucht Hilde für diese so wenig freundlichen Erinnerungen der Schwester eine Erklärung zu finden. Sie schreibt:

Dieses Mädchen ist in die falsche Zeit hineingeboren, in die satte, zufriedene Epoche des ausgehenden Jahrhunderts, und diese gutbürgerliche Lebensform entsprach kaum ihren eigenen ganz anders gearteten Gegebenheiten. Dazu kam, daß sie sehr allein war. Der ihr sehr wesensverwandte Vater ist zu dieser Zeit noch völlig von seinem Beruf in Anspruch genommen. Bei Tisch dürfen die Kinder nicht sprechen, alle Unruhe, aller Lärm muß von ihm ferngehalten werden. An Abenden jedoch gab es viele gesellschaftliche Verpflichtungen inner- und außerhalb des Hauses, an denen die Kinder naturgemäß nicht teilhatten. Die Mutter, eine lebenslustige, gastfreundliche Frau, mag dies mehr genossen haben als der Vater. In der übrigen Zeit widmete sie sich dem Haushalt, und an den Sonntagnachmittagen füllten sich Haus und Garten mit der zahlreichen Verwandtschaft. Blieb da wohl Zeit für das kleine Mädchen, das sich wohl manchmal vereinsamt gefühlt haben mag? Fotografien aus jener Zeit zeigen ein beinahe unkindlich ernstes Gesicht, interessant, aber nicht schön, in dem besonders die dunklen Augen auffallen. Es ist kaum vorstellbar, daß dieses Kind wie andere gespielt haben soll.

Einsam fühlte sich Gertrud Kolmar nicht zuletzt, weil ihr die Mutter fremd blieb. Im Gegensatz zu dieser legte die Tochter auf Kleidung wenig Wert, zog sich „zum Kummer der Mutter“ (Hilde) sogar betont unvorteilhaft an. Sie verabscheute alles Äußerliche, jedes Geplauder, oder den „Charme“, wie ihn die Mutter versprühte, kurz, sie verschmähte alles gesellschaftlich Leichte, die Welt der lebenslustigen Bourgoisie, die sie als Welt der Mutter ansah. Zugehörig fühlte sie sich zum Vater, den sie zum Symbol für einsame Größe und Heldentum verklärte. Schon hier zeichnet sich ein Muster ab, das sich später in ihren Liebesbeziehungen wiederholen sollte: Je stärker der Vater von seinem Beruf absorbiert wird, je weniger Zeit er für sie hat, desto blendender erschien er in ihrer Phantasie. Ihre Erinnerungen an die Kindheit, die – wohl auch als Antidot gegen die nun unerträgliche Gegenwart – in den späteren Briefen an die Schwester immer intensiver und plastischer werden, sind voller Anspielungen auf abenteuerliche Kinderspiele; heldenhaft wollte sie sein, wie der Vater ihrer Phantasie. So aß sie am liebsten Linsensuppe, die sie für die „Blutsuppe der Spartaner“ hielt, und wie Mucius Scävola soll sie einmal ihre Hand in eine Kerzenflamme gehalten haben. Das kleine Mädchen wollte, so in einem Brief an die Schwester, „eine Heldin sein“.
Das Alltagsleben dieser Zeit ließ allerdings wenig Spielraum für „männliche“ Muster, etwa einem Streben nach Autorität und beruflichem Ernst, wie sie es beim Vater fand. So blieb ihr nur, das Männliche abzudrängen in die Phantasie und selbst eine Haltung der Demut und Opferbereitschaft zu entwickeln. Man muß nur die Kinderbilder der Kolmar betrachten, um diesen Rückzug auf die eigene, die innere Welt zu begreifen. Bilder eines Kindes, das sich in seiner Seele schon früh und fast immer „sehr allein“ gefühlt haben muß.
Erstaunt es da, daß die Kolmar mit vierzehn, fünfzehn Jahren ihre ersten Gedichte schreibt? Schreiben gab ihr nicht nur die Möglichkeit, ihre Isolation zu durchbrechen. Dichtung ermöglichte ihr zudem einen weiteren Zugang in die Welt des Vaters, der über eine breite klassische Bildung verfügte und auch selber schrieb.
Es würde im Rahmen dieses Vortrags zu weit führen, auf ihre ersten Schreibversuche einzugehen. Festgehalten sei nur, daß schon hier viele Motive ihrer späteren Dichtung erkennbar werden, etwa das Motiv des Schleiers, des Kleides, der Verwandlung, der Nacht, des Engels; vor allem aber eine Stimmung des Heldenhaften, des Großen, des Erhabenen, eine Vorliebe für das Gewaltige.
Gertrud Kolmar ist nicht älter als sechzehn oder siebzehn, als sie ihren ersten Gedichtzyklus „Napoleon und Marie“ schreibt.
Sie stellt die Liebesbeziehung zwischen dem Kaiser und Maria Walewska in einen magischen Raum, die Walewska erliegt dem Werben des Helden wie in Hypnose. Ihr Selbst ist ausgelöscht, aufgegangen in einem Größeren. Liebe als vollständige Unterwerfung unter den Willen des Geliebten. Geschrieben wurden diese Gedichte 1915, während die Bürgerstochter die hauswirtschaftliche Frauenschule Arvedshof bei Leipzig besuchte und dort in einem Kinderhort tätig war. 1916 machte sie in Berlin ihre Diplome als Sprachlehrer in für Englisch und Französisch.
Wo begegnete sie dem Mann, durch den sie eine Wirklichkeit erlebte, die schrecklicher war als alles, was sich ihre Phantasie damals hatte ausmalen können? Der Mann, von dem nur bekannt ist, daß er ein „Soldat“ war, Offizier, und Karl Jodel hieß – dieser Mann konnte oder wollte sie nicht heiraten. Sie aber war schwanger.
Die gerade Zwanzigjährige, von den Eltern abhängige Gertrud Kolmar war kaum reif genug, um selbst eine Entscheidung zu treffen. Die Mutter, der soviel an gesellschaftlichem Ansehen lag, drängte sie offenbar zur Abtreibung. Sie folgte.
Kurz darauf vermittelte der Vater ihren ersten Gedichtband an den Egon Fleischel Verlag. 1917 erschienen dort Gedichte, ein Abgesang auf die Liebe zum „Soldaten“, auf das Ende einer Beziehung und den Verlust eines Kindes. Brutaler kann man es nicht erfinden: Ihre erste Veröffentlichung, ihre Geburt als Dichterin scheint wie ein Judaslohn für die Verweigerung der Geburt des Kindes.
Die Aufnahme der Kritik ist zurückhaltend, man spricht von einem „Frauenbuch für den Mann“, von einem „sympathischen Buch wie so viele“.

Es ist Krieg. Gertrud Kolmar arbeitet als Briefzensorin im Gefangenenlager Döberitz bei Potsdam, ab August 1919 dann in verschiedenen Familien als Erzieherin. Doch ist ihr die Arbeit nur „ein Notbehelf“, sie war immer bereit, „alles stehen und liegen zu lassen, wenn…“ Ja, wenn sie nicht immer die „Andere“, nie die „Eine“ gewesen wäre, wie sie später an die Schwester schreibt.
1923 ziehen die Eltern nach Finkenkrug am Rande Berlins. Jahre vergehen; die Kolmar ist 32 Jahre alt, als sie Ende 1928 ihre Stellung aufgibt, um die Pflege der kranken Mutter zu übernehmen, den Haushalt zu führen und ihren Vater im Büro zu unterstützen. Jetzt findet sie endlich Ruhe und schreibt hier ihre großen Gedichte.
Zwar klagt sie mitunter über ihr „Einsiedlerleben“, aber wichtiger ist doch, daß ihr in dieser Stille und Abgeschiedenheit die Konzentration auf sich und ihre Dichtung gelingt. Und sie findet hier, was sie später, nach dem von den Nationalsozialisten erzwungenen Umzug in die Stadt, so schmerzlich vermissen sollte:

das Bleibende: Tier und Pflanze, das immer Wiederkehrende, im Werden und Vergehen Beständige.

Wie sehr sich Gertrud Kolmar als Dichterin entwickelt hat, aber auch wie unwandelbar sie mit der ersten Veröffentlichung schon eines ihrer Themen gefunden hatte – das der unerfüllten, sehnsüchtigen Liebe –, zeigt der Vergleich zweier Gedichte, die beide den Titel tragen: „Die Verlassene“.
1917 umfaßt der Titel drei Gedichte, konventionell in Form und Inhalt: Etwa

Sehnen: … Nicht mein Aug nur wird heimlich blaß
Komm, Liebster, komm!
Die Lampe schimmert gar so blaß
Komm, Liebster, komm!…

Das geht so über einige Strophen.
Und sechzehn Jahre später (übrigens immer noch mit einer Widmung: K. J.):

DIE VERLASSENE

Du irrst dich. Glaubst du, daß du fern bist
Und daß ich dürste und dich nicht mehr finden kann?
Ich fasse dich mit meinen Augen an,
Mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist.

Ich zieh dich unter dieses Lid
Und schließ es zu und du bist ganz darinnen,
Wie willst du gehn aus meinen Sinnen,
Dem Jägergarn, dem nie ein Wild entflieht?

Du läßt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen
wie einen welken Strauß

Fast aggressiv trumpfen die drei ersten Strophen auf mit nahezu gewalttätigen Bildern. Nicht als Bettlerin, die sich erbärmlich macht, um Erbarmen zu erzwingen, tritt die Verlassene auf; sie ist die Jägerin, der Geliebte die Beute. Sprachmächtig gibt die Verlassene den Abschied.
Aus den wenigen Äußerungen in den Briefen an die Schwester glauben wir zu wissen, daß nicht nur ihre erste, sondern alle Liebesbeziehungen der Dichterin scheiterten. In ihren Briefen beteuerte sie immer wieder ihre Sehnsucht, in der Rolle als Ehefrau und Mutter aufgehen zu dürfen. Im Leben hat sie diese Möglichkeit nie gefunden. Hat sie sie wirklich gesucht? Ist sie als Frau „gescheitert“?

Ich habe die Vokabeln ewig, beständig, treu (soweit sie auf meinen Partner Anwendung finden sollten) von vornherein aus meinem Wörterbuch gestrichen. Wozu wohl auch schon der Umstand mich führte, daß ich niemals die ,Eine‘ immer die ,Andere‘ war.

Empfand sie selbst ihre Beziehungen als enttäuschend? An die Schwester:

Wirst du mir glauben, wenn ich hierhersetze: ich habe niemals eine Enttäuschung erlebt? Und: Die Wirklichkeit war stets unausdenkbar schöner als alle Illusionen? Glaubst du mir das? Es war so für mich… Ich kannte den hohen Preis, den ich zahlen würde, da gab es keine Enttäuschung.

Und sie gesteht freimütig, daß das erzeugte Gefühl schließlich wichtiger war als der Erzeuger dieser Gefühle selbst:

Ich hatte eine geringe Entzündbarkeit und fing nicht leicht Feuer, … – brannte es aber (wie selten!) einmal, dann auch mit starker und dauernder Glut. Mein Gefühl besaß dann die Eigenschaft König Midas’, dem alles, was er berührte, in den Händen zu Gold ward; es ging auf gleich einer großen Sonne und vergoldete noch jeden Fleck, jeden Tümpel, jede Pfütze. Und schließlich war es gar nicht so wichtig mehr, was der tat, wie der sich verhielt, dem es seinen Aufgang, seine Wärme, sein Strahlen verdankte. Die Sonne scheint über Gerechten und Ungerechten… Begreifst du, daß ich da niemals enttäuscht ward, nie enttäuscht werden konnte?

Diese Fähigkeit der „Vergoldung“, das heißt aus scheinbar unpoetischem Material dichterische Funken zu schlagen, erprobte die Kolmar besonders eindrucksvoll in dem Zyklus „Das Preußische Wappenbuch“, das sie im Winter 1927/1928 schrieb. Werbebildchen von Kaffee Haag, die der Bruder der Dichterin sammelte, gaben den Anstoß. Auf Empfehlung Ina Seidels konnte noch 1934 ein Teil der Gedichte unter dem Titel Preußische Wappen in Victor Otto Stomps Verlag Die Rabenpresse erscheinen.
Gertrud Kolmar geht nur vom Eindruck eines Wappenbildes aus, in dem die reale Welt zu mythischen Zeichen, Emblemen geronnen ist, und löst diese Fixierungen wieder auf in Handlungen, Geschichten, Träume. Tote Dinge, erstarrte Zeichen werden durch Dichtung ins Leben zurückverwandelt.

WAPPEN VON BERLIN
In Silber, aufgerichtet, ein schwarzer Bär

Die Bärin spricht: Ich habe sie getragen,
Die Stadt in meinem Schoße, Höhlenbrut.
Uns kam der Jäger, und ich mußt ihn schlagen.
Ihr Schlaf in dickverschneiten Wäldertagen
War gut.

Ich wiegte sie mit diesem tiefen Brummen;
Mein Tatzenschlag hieß sanft, doch ernst sie stehn.
Ich lehrte Honigwachs, wo Bienen summen,
Und süßes Kraut in erdgeformten Kummen
Sie sehn.


Ich schreite aufrecht. Meine Branten wälzen
den Wolkenblock, der überm Haupt ihr kracht.
Und silbern eisige Gestirne schmelzen
Als große Flocken mir auf schwarzen Pelzen
In Winternacht.

Gertrud Kolmar nötigte ihre Sprache nie zur Dichtung.

Auch mein Flußbett trocknet nicht selten aus; aber dann quäl ich mich nicht damit ab, ihm künstlich Kanalwasser anzuleiten, sondern warte still, bis der Regen des Himmels die versiegte Flut erneut.

Was dann wie in Ekstase, wie im Rausch geschrieben erscheint, nimmt seinen Anfang aus „einem Ohnmachts-, einem Verzweiflungszustande… ich muß mir sagen: ich werde nichts mehr vollbringen. Dann ist die rechte Stunde da. Und es beginnt der ,Rausch‘, die ,Ausschweifung‘“.

Wie um einen Geliebten rang die Kolmar mit der Sprache, um die Sprache. Nur durch die Sprache konnte sie sich wieder mit der Welt vereinigen. So entstand ein neuer Kosmos, das Gedicht. Nur in diesem Kosmos konnte sie leben und erleben nach eigenen Maßstäben. Denn diese waren nicht von dieser Welt, einer Welt, die sich aus ihren eigenen Grenzen definierte. Grenzenlosigkeit ist der Zustand, den die Dichterin sucht, grenzenlos wie das Gefühl der Liebe, wo auch die Grenzen des Ich aufgehoben werden. Nicht zum heimeligen Genuß wird verlockt: Das Verlangen der Frau ist dämonisch, durchdrungen von Lust und Schmerz:

… Mann ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund. …

Die Beziehung zum Mann erfährt die Kolmar nie als Ergänzung, sondern immer als einen Antagonismus der Geschlechter und als Gegensatz von Ich und Welt, Natur und Gesellschaft. Die Welt der Männer, das ist für sie die Welt mit „versiegelten Ohren“ und „starken Taggedanken“:

Zahl und Nam will seine Träume haben.

So deutlich war das vor ihr schon eineinhalb Jahrhunderte früher nur bei Karoline von Günderode zu lesen, wo es im Gedicht „Vorzeit und neue Zeit“ heißt:

… Der Himmel ist gestürzt, der Abgrund ausgefüllt!
Und mit Vernunft bedeckt, und sehr bequem zu gehen.
Des Glaubens Höhen sind nun demolieret,
Und auf der flachen Erde schreitet der Verstand,
Und misset alles aus, nach Klafter und nach Schuhen.

Die gesellschaftliche Welt ist die des Mannes, unzugänglich, fremd und der Frau verschlossen. Und weil diese Welt sich abwendet von der Frau, wendet diese ihre Liebe, ihre Verehrung Tieren und Pflanzen zu, die, wie die Liebenden, ohne Berechnung und Entfremdung leben und von der Welt der Vernunft ausgeschlossen sind. Auch in den Liebesgedichten wird das erotisch-sexuelle Erlebnis immer wieder ins Naturhaft-Kosmische gesteigert.


Oh du! Nur du!… Ich spülte deine Glieder
Und warb und klang und schäumte über dir.
Und alle Winde küßten meine Lider
Und alle Wälder stürzten in mich nieder
Und alle Ströme mündeten in mir.

In den Zyklen „Die Frau und die Tiere“ und „Tierträume“, die wie die Zyklen „Weibliches Bildnis“ und „Kind“ in den besonders schöpferischen fünf Jahren von 1928 bis 1933 entstanden, erobert sich Gertrud Kolmar nun ein neues Thema, einen neuen Zugang zur Welt. Ihre eigene Existenz dehnt sie ins Kosmische, Naturhafte aus: „Ich bin ein Weltteil“. „Ich bin nur ein Ackerstrauß“. „Ich bin der Ostwind“. „Ich bin das Finstre“. „Ich bin der Himmel“. „Ich bin die Kröte“. „Ich bin der Aal“.
Ausgangspunkt der Visionen sind häufig – und hierin ist die Kolmar der Droste verwandt – detaillierte Naturbeobachtungen, sinnliche Eindrücke. Oft unscheinbare Tiere, die gemeinhin Ekel hervorrufen. Etwa die „Kröte“ („Tierträume“):

Mag ich nur ekles Geziefer dir sein
Ich bin die Kröte
Und Trage den Edelstein…

Im dichterischen Bild jedoch werden diese Sinneseindrücke von ihren konventionellen Benennungen befreit und dadurch von ihrer Erscheinungswelt abgelöst. Ein Gefühl der Einheit zwischen Mensch und Natur entsteht, wenn das Ich sich in die Außenwelt verströmt, die ihrerseits das Ich durchdringt. Jeder sichtbare Umriß wird innerer Eindruck, jeder Eindruck prägt sich der Außenwelt auf, der Körper selbst verwandelt sich, erstreckt sich als Landschaft.

… Und das Kleid schwillt nun
Und ich muß wachsen, daß es mir noch ziemt,
Drin Fische, wie sie niemals wirklich tun
Um meine Brüste schweben, purpurblau gekeimt
Der Erde Körner sind hineingesät
Aus meiner Schulter bricht ein Felsengold…

Besonders nachts wird ihr die Sprache der Pflanzen und Tiere verständlich, verschwimmen die Grenzen der Dinge in der Realität wie die Wörter im poetischen Bild. Eine neue magische Realität entsteht, die dem Menschen solange freundlich entgegenkommt, bis dieser sich der Erde bemächtigt:

Nur Tier und Pflanze
… Stille
Sein noch ohne Tun.

Sprachlich glückt dieser Sprung aus der Welt der Augenblicke vor allem mit Hilfe der Metapher. In der Metapher rebellieren die Wörter gegen die Ordnung der Logik, wird die Sprache aus dem Korsett der Begrifflichkeit befreit, werden Grenzen aufgehoben, Gegensätze verschmolzen. Im Bild holt die Dichterin die versunkene Welt, die unmittelbare Einheit von Mensch, Natur und Kosmos zurück, verbindet sie äußere Anschauung und innere Vision zu einer nie geschauten Synthese.
Lange bevor die Bewahrung der Schöpfung zum weltweit diskutierten Problem wird, kritisiert Gertrud Kolmar die Folgen der Ausbeutung der Natur. Im Gedicht „Der Tag der großen Klage“ steigert sich diese Sicht zu einer der mächtigsten apokalyptischen Visionen des zwanzigsten Jahrhunderts. „Und die Tiere werden dich schrecken um des Menschenblutes willen“, heißt es im Alten Testament beim Propheten Habakuk. In Kolmars Gedicht entsteigen Leichname aller Gattungen der Erde als einem Riesengrab; Tiere, die der Mensch abgerichtet, gejagt, geschunden, verstümmelt hat.

So brach der Tag der großen Klage an.

Sie stiegen aus den Wassern, Meere voll,
Sie sprangen von dem blauen Bett der Himmel
Und füllten so die Erde mit Gewimmel
Daß wie ein Brodeltopf sie überquoll

Und Karpfen schnellten mit zerfetztem Bauch
Und rote Krebse lebend aus dem Tiegel,
Von Mauern rollte Wunderarztes Igel,
Geschwärzt in einer Zauberesse Rauch.

Doch aus dem weißen Saal der Wissenschaft
Begann ein Strömen wie aus offner Schleuse
Zerschnittner Ratten und entstellter Mäuse
Ein Treiben unergründlich ekelhaft.

Sprach der Gerichtstag totgeplagter Tiere
den Menschen nicht von seinem Morden frei

Gertrud Kolmar ist nun auf dem Wege, ganz zu sich als Dichterin zu finden – da wird Hitler Reichskanzler. Zwischen August und Oktober 1933 entsteht dennoch wieder ein Zyklus, dessen Überlieferung wir Hilde Benjamin, der Schwägerin Walter Benjamins, einem Vetter der Kolmar, zu verdanken haben. Derselben Hilde Benjamin, die später zunächst als Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs der DDR, dann unter Ulbricht als Justizministerin berüchtigt wurde. Sie war seit 1926 mit dem jüngeren Bruder Walter Benjamins, Georg Benjamin, einem sozial engagierten Arzt und politisch aktiven Kommunisten, verheiratet. Gertrud Kolmar hatte ihr die Gedichte nach der Deportation des Vaters in die Hand gedrückt. Zusammen mit den Briefen und Papieren ihres Mannes, den die Nazis im KZ Sonnenburg im Dezember 1933 umgebracht hatten, bewahrte Hilde Benjamin diese Gedichte bis zu ihrer Veröffentlichung 1978 auf.

DER MISSHANDELTE

In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht.
Ich stehe an der Wand und schlafen darf ich nicht;

Denn alle zehn Minuten kommt ein Wärter, mich zu schaun.
Ich wache an der Wand. Sein Hemd ist braun.

Die andern kehren wieder, unterhalten sich
mit meinem Schrein und Stöhnen, lachen über mich,

Sie recken mir die Arme gewaltsam, nennen’s Sport.
Ich breche in die Knie… und endlich gehn sie fort.

Ich seh nicht Bäume, Sonne – ob es sie wirklich gibt?
Ob wo ein armes Kind noch seinen Vater liebt?

Kein Zeichen mehr, kein Brief – und ich habe doch eine Frau! –
Sie sagten: „Du bist rot; wir schlagen dich braun und blau.“

Sie peitschten mit stählernen Ruten und mein Rumpf war bloß…
O Gott! O Gott! Nein, nein! Ich bin ja glaubenslos

Ich habe nicht gebetet im Felde, im Lazarett,
nur abends als kleiner Junge, und die Mutter saß am Bett.

Die Erde ist Kerkergruft, der Himmel ein blaues Loch.
Hörst du, ich leugne dich! Mein Gott… ach, hilf mir doch!

Du bist nicht: wenn du wärst, erbarmtest du dich mein.
Jesus litt für uns alle; ich leide für mich allein.

Ich steh und sinke ein bei Wasser und bei Brot
Stunden und aber Stunden. Wie gut, wie gut ist der Tod!

Hingelegt… und verschlossen in tiefem, dunklem Schacht.
Keine grelle Lampe. Nur Schlaf. Nur Stille. Nacht…

Vermutlich wußte Gertrud Kolmar von ihrem Vetter Walter, der übrigens auch ihr Schreiben kritisch-anerkennend begleitete, um die Haftbedingungen und Folterungen in den Lagern. In einer schlichten, scheinbar kunstlosen Sprache gelingen ihr in der Sammlung Das Wort der Stummen, was eigentlich gar nicht gelingen kann: Gedichte über physisches Leiden und Sterben.
Bis 1938 boten Haus und Garten in Finkenkrug noch eine, wenn auch zunehmend gefährdete Rückzugsmöglichkeit aus der Gesellschaft, und Gertrud Kolmar konnte, wenn auch immer mühsamer, persönliche und politische Welt trennen. Sie erlebte sogar noch einmal eine Liebe. Unvollendet, wie auch die anderen Beziehungen der Dichterin. Karl Josef Keller hatte zwei Gedichte von Gertrud Kolmar, die 1930 im Inselalmanach erschienen waren, gelesen, und er, der früh die Mutter verloren hatte, fühlte sich offenbar von einem machtvollen mütterlichen Zauber angesprochen und stellte sich ihr als Besonderer dar, als Dichter und Abenteurer, als Seemann und Klabautermann. Gertrud Kolmar war von dieser scheinbar heldenhaft starken Männlichkeit fasziniert, ein Briefwechsel entstand, in dem man die grandiosen Rollen vertiefte und ausspann; 1934 trafen sie sich für wenige Tage in Hamburg, Lübeck und Travemünde, Dann trennte man sich – für immer. Er erleichtert, weil sie seinen Vorstellungen von einer starken, großen, selbstsicheren Person so gar nicht entsprochen hatte; sie voller Glück über eine für sie wiederum als erfüllt erlebte Begegnung. 1937 heiratete Keller, was er ihr verschwieg. Bis 1939 beantwortet er ihre Briefe, dann bricht er den Kontakt aus Angst vor Repressionen ab. Gertrud Kolmar jedoch verklärte die Begegnung nicht nur in ihren Erinnerungen, wie die Briefe an die Schwester zeigen. Sie schrieb zwei Zyklen „Welten“ und „German Seas“, die ihre reifsten und schönsten Liebesgedichte enthalten.
Lange hat man angenommen, daß die Kolmar sich stets vom Literaturbetrieb ferngehalten habe. Das ist nur bedingt richtig. Es würde hier zu weit führen, dies im einzelnen darzustellen, nur ein paar Namen seien genannt. Da war vor allem Walter Benjamin, ihr Vetter, der Verbindungen zu Walter Haas, dem Herausgeber der Literarischen Welt und Max Rychner, dem Chefredakteur der Neuen Schweizer Rundschau anknüpfte. Auch Ina Seidel und Elisabeth Langgässer setzten sich für sie ein – vor 1933, vor der Zeit, als „aus Nachbarn Juden“ wurden, wie die Kolmar, schmerzlich enttäuscht über den Rückzug der Seidel, einmal schreibt. Und Elisabeth Langgässer war ja nach 1933 selbst gefährdet.
Am 19. Mai 1933 erscheinen drei Gedichte der Kolmar in der Literarischen Welt, die zu diesem Zeitpunkt schon von Eberhard Meckel kommissarisch geleitet wurde – wenige Tage vor der Bücherverbrennung. Bis 1938 kann Gertrud Kolmar dann noch im Jüdischen Verlag Löw veröffentlichen, ihre Gedichte werden auf Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes vorgetragen.
Auch nach 1933 lag Gertrud Kolmar viel daran, zu veröffentlichen. Sieben der Gedichte aus dem Zyklus „Welten“ faßte sie 1939 unter dem Titel German Seas in einer englischen Übersetzung unter dem Pseudonym Helen Lodgers zusammen. Offenbar wollte sie diese Gedichte als Übersetzungen ausgeben, um einen Verlag dafür zu finden.

Doch alle Zurückweisungen konnten der Kolmar die Überzeugung einer Berufung nicht nehmen. Das Schreiben selbst war ihr ungleich wichtiger als äußere Anerkennung. „Die Tatsache, daß mein Schaffen anderen Menschen etwas gibt, macht mir, so erfreulich sie ist, doch nicht so viel Freude wie das Schaffen selbst“, schreibt sie, und:

Heute weiß ich auch ohne Kritiker, was ich als Dichterin wert bin, was ich kann und was nicht… Und daß ich für diese Vollendung einen sehr hohen Preis bezahlt habe.

Die Vertreibung aus dem Haus in Finkenkrug, wenige Tage nach dem Novemberpogrom 1938, zerstört letzte Sicherheiten und Rückzugsmöglichkeiten. Gertrud Kolmar aber nimmt auch dieses Schicksal an, gelenkt vom Glauben, „daß der Mensch, wenn auch nicht immer und nicht überall, ein äußeres widriges Geschick aus seinem eigenen Wesen heraus zu wandeln vermag, mit ihm ringen kann, wie Jakob mit dem Engel kämpfte: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Und sie gesteht ihrer Schwester, in diesen Jahren viel gelernt zu haben, vor allem aber das eine:

Amor fati, Liebe zum Schicksal. Die ist keimhaft wohl immer in mir gewesen, vielleicht auch schon als Grüner Schaft; aber erst jetzt hat sich die Blüte entwickelt.

Die „verhinderte Asiatin“, die ihr „Gesicht nach Osten gekehrt hat“, identifiziert sich nun ganz mit ihrem Volk, genauer, seiner ostjüdischen Tradition, da sie das Scheitern der westjüdischen Assimilation nur allzu schmerzhaft erfahren mußte. Jeder Vers ihres großen ergreifenden Gedichts „Wir Juden“ legt Zeugnis ab von dem Glauben dieses Volkes, von seiner Gewißheit der Erlösung, trotz aller Verachtung in dieser Welt. Diese Annäherung an die Geschichte der Juden ging so tief, daß die Kolmar mit 45 Jahren noch hebräisch zu lernen begann; sie verfaßte sogar einige Gedichte in ihrer „Vätersprache“, wie sie schrieb, die jedoch verloren gegangen sind.
Wieviel Kraft muß es gekostet haben, sich von dem, was wir Alltag nennen und der für jüdische Mitbürger im Dritten Reich eine einzige zunehmende Kette von Demütigungen, Grausamkeiten und Gefahren war, nicht aufreiben zu lassen! Gertrud Kolmar, die sonst nie geklagt hatte, berichtet nun aus dem Leben in einer Berliner Wohnung, in der sie anderthalb Zimmer mit ihrem Vater teilt. Kein Zimmer „für sich allein“ ist ihr geblieben, die zwangseingewiesenen Mieter, Juden aus dem bürgerlichen Mittelstand, wechseln ständig und erscheinen ihr oberflächlich und geschwätzig. Auch vom vergreisenden Vater entfremdet sie sich. Auswanderungspläne werden verworfen. Sie, die Sprachgewandte, hätte leicht im Ausland Fuß fassen können, will aber den Vater nicht allein lassen. Die Stille, die sie zeitlebens gesucht hat, und die ihr in den letzten Jahren in Finkenkrug so selbstverständlich geschenkt worden war, kann sie nun nur noch in sich selber schaffen.
Morgens, wenn der Vater, nur durch eine Decke von ihrem „Zimmer“ getrennt, noch schläft, schreibt sie an einer Erzählung; 1940 ist „Susanna“ fertig. Und sie ist daher „zuweilen ganz glücklich: Denn mich dünkt, es muß schon eine wirkliche echte Kunst sein, die nicht auf stundenlange Muße, nicht auf Schreibtisch und Sessel, auf den Frieden eines Arbeitszimmers und alle äußere Ruhe und Bequemlichkeit angewiesen ist, sondern imstande ist, jede Ungunst von Zeit und Raum zu besiegen.“ Sie ist nun stolz auf ihre Berufung zur Dichterin, das Wort Schriftstellerin lehnte sie stets für sich ab – sie versteht ihre Begabung als tiefer verwurzelt, etwas, das „sich nicht ausreißen“ läßt.

DIE DICHTERIN

Du hältst mich in den Händen ganz und gar.

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDer du dies liest, gib acht;
Denn sieh, du blätterst einen Menschen um.
Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht,

Aus Druckpapier und Leim, so bleibt es stumm
Und trifft dich nicht mit seinem großen Blick,
Der aus den schwarzen Zeichen suchend schaut,
Und ist ein Ding und hat ein Dinggeschick.

Und ward verschleiert doch gleich einer Braut
Und ward geschmückt, daß du es lieben magst,
Und bittet schüchtern, daß du deinen Sinn
aus Gleichmut und Gewöhnung jagst.

Als sie 1941 zur Zwangsarbeit zunächst in Lichtenberg, später in einer Charlottenburger Munitionsfabrik verpflichtet wird, findet sie auf dem Gesicht einer Zigeunerin, was sie der Schwester als ihr Ideal schildert:

… eine undurchdringliche Abgeschlossenheit, eine Stille, eine Ferne, die durch kein Wort, keinen Blick der Außenwelt mehr zu erreichen war… Und ich erkannte: Dies war’s was ich immer besitzen wollte und doch noch nicht ganz besaß; denn wenn ich es hätte, würde nichts und niemand mir von außen etwas anhaben können. Ich bin aber schon auf dem Weg dazu und das freut mich…

Als Gertrud Kolmar dies schrieb, waren es noch anderthalb Jahre bis zu ihrer Deportation. Im Frühjahr 1941 hatte man ihren achtzigjährigen Vater in die sogenannte Altensiedlung nach Theresienstadt verschleppt. Im gleichen Jahr lernt sie in der Fabrik einen 26 Jahre jüngeren Mann kennen, was sicher dazu beitrug, daß sie sich, wie sie an die Schwester schrieb, nur noch in der Fabrik „Zu hause“ fühlte.
Wenige Tage nach ihrem letzten Geburtstag, am 15. Dezember 1942, schreibt sie ihrer Schwester:

So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm und lastend wie eine Wolke sein. Wenn ich es schon nicht kenne: ich habe es im voraus bejaht, mich ihm im voraus gestellt und damit weiß ich, daß es mich nicht erdrücken wird, mich nicht zu klein befinden…

Zwei Monate später, am 27. Februar 1943, wird Gertrud Kolmar im Verlauf der sogenannten Fabrikaktion zusammen mit anderen jüdischen Zwangsarbeitern in Berlin verhaftet und einige Tage später nach Auschwitz transportiert.
Am 3. März 1951 reiht man sie auf den Standesamt Berlin Schöneberg in die Liste der sechs Millionen ermordeter Juden ein:

Gertrud Chodziesner, ohne Beruf, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit, zuletzt wohnhaft in Berlin Schöneberg Speyrer Str. 10 ist durch Entscheidung des Amtsgerichts Schöneberg in Berlin-Schöneberg vom 2. Mai 1951 für tot erklärt worden… Als Zeitpunkt des Todes ist der 2. März 1943 festgestellt.

Die Todeserklärung von Gertrud Chodziesner trägt die Nummer 52095.
Gertrud Kolmar. Ohne Beruf? Ihr Werk zeigt uns, daß sie mehr hatte als einen Beruf: eine Berufung.

DIE FAHRENDE

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen
Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch
Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
Drin die Erdenkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,
Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus,
Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
Schöpft mein Reisebecher, trinke ich durstig aus.

Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.

Für kurze Zeit hat Gertrud Kolmar in Hamburg als Erzieherin gearbeitet und direkt in meiner heutigen Nachbarschaft gewohnt. In dem Gedicht „Die Stadt“ beschreibt sie den Weg an der Alster entlang in die Innenstadt, so, als könnte ich ihr dort jeden Tag begegnen. Auf meine Weise.

FÜR GERTRUD KOLMAR

Kinder geliebt und erzogen zur Welt gebracht
keines. Abgetrieben. Die Mutter hat es gewollt.
Etwas wie Kinderweinen ist seither in deinen Gedichten
und deine Fruchtbarkeit ungebraucht durch die Jahre geschleppt
in kunstreichen Genitiven überbordenden Bildern Metaphern
gegen die Trauer immer die Andere nie die Eine zu sein.

Was blieb dir übrig? Du hülltest dich in Sonnenuntergänge
trugst Grün und Gold in blühendem Geschmeide
Garten im Sommer wo die Zeit sich festzusetzen schien
hast du gelebt umtönt von Bienenchören
mit dem großen plündernden Buntspecht
mit Reiher Eichhorn Ottern Hummeln dem Specht der Kröte:
Ich bin die Kröte und trage den Edelstein…
Weltversunken im Schneckenhorn. Von draußen kaum vernehmbar
das Sausen des Fallbeils. Für kurze Zeit

hast du in meiner Nachbarschaft gewohnt. Zu Aal und Sprotten
hätt ich dich geladen zu braunem Brot mit Korinthen gefüllt oder
mit Salz und Kümmel bestreut wie du es gern aßest.
Hier gingst du durch
die Stadt zum letzten Mal vielleicht
mit einem
Hand in Hand.
Drunten am Uferwege sitzt noch immer
einer und malt
die blattlos hängende Weide und der Bootssteg
ist noch immer glitschig und algengrün.
Drei Schwäne über den Wellen ich breche wie du das Brot
werfe es
weit in die Flut. Auch er ließ dich los.
Zu finster dein Haar zu düster dein Auge. Dein Stern zu nah.
Ein Flicken.

Als es keinen mehr gab der dich liebte lerntest du
dein
Volk im Plunderkleid zu lieben.
Als es keinen mehr gab der dich hörte schriest du
der Nacht ins Ohr dein Gedicht
Kalamattasprache Jerusalemitisch.

Ulla Hahn, aus Ulla Hahn: Dichter in der Welt, Deutsche Verlags-Anstalt, 2006

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

 

 

 

Getrud Kolmar 

DER BENGEL IM ENGEL

Ich traf ihn Nachmittags im Wald.
Ein Engel, der durch Buchenzwischenräume ging.
So menschenfern. So wandelnd die Gestalt.
Das schöne Tier im Fittich sich verfing.

Das Antlitz so ein reines, tat mir leid.
Sehr fein und dunkel säuselte das Haar.
In frohen Falten lief mein rotes Kleid.
Er machte nichts. Er sagte nichts. Er war.

Und nix an ihm, was schreckte, mir verbot.
Wahrhaft nixnix, kein Sterbenswort im Wappen.
Dass sich mein Körper, ob auch unbedroht,
zum Leckerli sich bot, als Nachtischhappen.

Mit sanften Ruck, wie im Gedrängel.
Nahm mich bei der Hand, der Engel.
Sah drüber weg über all meine Mängel.
Und packte mich mit groben Schwengel.

Da wars kein Engel
mit Engelherz, das innige.
Da wars der hintersinnige
graue, böse Bengel.

Peter Wawerzinek

 

 

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Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Elfriede Huber-Abrahamowicz: Zum 80. Geburtstag von Gertrud Kolmar
Die Tat, 7.12.1974

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Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

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