Gino Hahnemann: Sizilien schweigt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gino Hahnemann: Sizilien schweigt

Hahnemann/Hahnemann-Sizilien schweigt

UNTERGANG DES ABENDLANDES

das abendland ist untergegangen &
keiner hat es bemerkt.
es lebte vom gehen!
abwegig seiner mission,
die vorgibt,
daß es untergegangen
zu sein scheint,
nie untergeht
lüftet schein
sich an rentabilität
die sich aller tage
aus seinem zerfall
neu konstituiert &
ihn, den mangel
der gegenwart jagt,
als fundstück
belebt

 

 

 

„Sizilien Schweigt“. Lyrik, gelesen als platonische Prosa.

Reisende Beschreibungen von den Gefahren des Mythos, dem Poetensystem der Elemente, über das sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft verständigen konnten. Die Ideenlehre Platons lehrt das Mißtrauen schärfen gegenüber einem vordergründig sinnlich Erlebbaren. Den Erscheinungen die Selbständigkeit des Selbstgefallens gegenüber den Ideen genommen. Sie duldeten keine neben sich, sondern nur eine als Form ihres Nichtseins. Wissen wir mehr als wir wissen, gleichen wir nicht dem Gedanken, den wir begreifen, sondern sind ihm überlegen (Nietzsche). Das Vorübergetragene ein Schatten. Als Projektion die Abbildung gekrümmter Flächen auf einer Ebene. Keinem Bild war zu glauben, keines für Wahrheit genommen, bevor sich nicht Kräfte mobilisierten, die außerhalb des Abbildens lagen. Damit ließ sich der Mythos auf die Faszination projizieren und es war deutlich, die Faszination projizierte den Mythos.

Ursprünglich begonnen, um den Ursachen nachzuspüren, die jahrhundertelang deutsche Künstler nach Italien trieb, scheint der Text nun vom Sinnbild „meiner“ Orte Berlin und Weimar getragen, wie in den beiden Büchern vorher, die auch weniger vom Bericht eigener Erfahrungen mit Glaube und Heimat als von ihren Erfindungen handeln, die Kindheit, Erziehung, den christlich geprägten Kulturkreis ausmachen oder sich in Überwindung und Fortgang antikischer Traditionen festschreiben lassen, in „Sizilien Schweigt“ gemessen am Realbild, das der Süden bereithält.

Gino Hahnemann, Druckhaus Galrev, Programmheft, 1997

 

Ein verschwommener Körper,

nackt ohne Hände, ohne Füsse; kopflos

Unter dem Torso Bildlaufstreifen, Fernsehpixel. Darüber der Titel des Buches: Sizilien schweigt. ‚Platonische Prosa‘ nennt Gino Hahnemann, die in die Elemente Feuer, Wasser, Licht und Luft untergliederten Gedichte. Es sind Texte, die niemals zufällig oder im platonischen Sinn bloß mimetisch erscheinen, sondern eine Absicht verfolgen und darum kunstvoll, teilweise auch zu gewollt und überkünstelt geschrieben sind. Der Aktionskünstler Hahnemann arbeitet allerdings konsequent, wenn er auf  zahlreiche erotische Photographien, wie er sie im letzten Buch Exogene Zerinnerung hatte, diesmal ganz verzichtet, indem er Farbe und Bewegung in einen zugehörigen Film verlegt.
Er hat sich auf die imaginäre und reale Suche gemacht nach der Anziehungskraft einer seit Jahrhunderten auf Italien projizierten antiken Tradition, nach deren Überresten heute. Literarische Bezugspunkte sind neben Hölderlin und seiner Empedokles-Tragödie auch Pythagoras, Apollon und Dionysos. Sexualität und Körper – gleichgültig, ob schwules Schwärmen oder masochistisches Erinnern – funktionieren dabei nicht autonom, selbstgenügend, sondern jedes „bleibt zweck“ (S. 65), hinter das „kasernierte geheimnis“ (S. 84) einer Utopie zu kommen. Das Zentrum dieser sehnsuchtsbeladenen Rück-Sicht stellt für den Künstler Sizilien dar und besonders Taormina. Das ist der Ort, an dem Wilhelm von Gloeden – ihm sind einige Texte gewidmet – zu Anfang des Jahrhunderts arkadische Szenen in Lichtbildaufnahmen nachstellte.
Letztlich aber bleibt das Geheimnis, dem Hahnemann mit Eifer nachstellt, ungelüftet. Er sieht ein, dass dies an Mehrheitlich Codierter Realität liegt, die er sich beim Schreiben unentwegt selbst zufügt: „gefühlsschutz, / der alles entschuldigt, / um verstand an einsicht zu hindern“ (S. 43). Sizilien Schweigt. Ausser dem daraus gezogenen Schluss, „keine spuren mehr suchen, / keine mehr setzen“ (S. 123) bleibt nur photographische Draufsicht. So wirken die Gloeden-Gedichte zunächst sehr statisch, veranschaulichen jedoch stellvertretend für andere Poeme eine durchaus von Bewegung, Verschiebung getragene Schreibweise. Aneinandergereihte photographische Einzeleinstellungen werden filmisch, in Erinnerung Verharrendes verschwimmt.

gloedens verkürzung der diesseitigkeit
verlängert die klassische isolation
fessellos auswechselbar & volkstümlich raffiniert,
um die muskulation antiker heroen
zu fliehen,

dem aberanspruch der kirche,
erster irrationalitätsverwalter

unter allen zu sein

(…) ein inselideal, als er ankam,
ohne deren jugend
nach ihren idealen zu fragen,
sie von männern ohne eigenschaften,
von leucht-stoffigen göttern
aus dem autobahnkino,
von essenzwesen metallischer glätte,
die ihre körper zu militärs &
durchgelsöldnern trainieren, zu trennen (…)
sizilien ohne Hosen

Hahnemanns Blick gleitet von Sizilien weg und focussiert nun wieder Deutschland, Berlin oder die stilisierten Neonlandschaften Edward Hoppers. Der Richtung einer plötzlichen Dativ- oder Genitiv-Wendung zu folgen ist dabei nicht immer einfach, das kommentierte Glossar verhüllt mehr, als es erläutert, und auch lautes Lesen hilft in den wenigsten Fällen auf Anhieb. „gedächtnis soll sich erholen beim schreiben, – beim lesen verwunden,“ spricht der Dichter und entschädigt syntaktische Unwegsamkeiten mit augenentzündenten Wortschöpfungen, die „vokalmuskel-behangen“ (S. 92) erzeugen und an denen man sich manchmal ebenso lang aufhalten kann wie an den Poemen selber.

Crauss, lexikon homosexuelle belletristik

Das Leben in Brand gesetzt

− Südliche Gedichte von Gino Hahnemann. −

„Einzig / der vier Elemente Feuer, Wasser, / Licht & Luft / Mischung / Entmischung setze / das Leben in Brand, / wobei er Licht / aus dem Wort Erde erfand…“, so will Empedokles – laut Gino Hahnemann – das Leben verstanden wissen. Hahnemann stellt diese Zeilen programmatisch seinem neuen Gedichtband „Sizilien schweigt“ voran. Die Elemente sind Ausgangs- und Endpunkt einer Lyrik, die Skepsis gegenüber den Bildern, ihrem Anschein und eine neue Suche nach unsichtbaren Schichten und hintergründigerem Wissen formuliert. Im südlichen Untergrund wird hier mit Mythos und Faszination gespielt. Sowenig wie „Licht“ allein Anfang ist, bedeutet „Erde“ nur Ende. Das Leben, in Brand gesetzt, wird für den Reisenden plötzlich intensiver und umfassender als bisher. Und Hahnemann legt so ein in uns ruhendes Wissen frei.
„Nirgends Wegweiser nach Arkadien“ heißt das erste Gedicht im „Licht“-Kapitel. Wir werden durch unsere eigene Geschichte nach Sizilien geführt, das Gepäck allerdings wird leichter, da wir unterwegs Ballast abwerfen und zugleich schwerer, weil dieses Sizilien so viel aussagt: „oh, unser unsterblicher süden!“, staunt da halb ironisch der deutsche Dichter. Aus der Sicht des Weimarer oder Berliner Städters, dessen Wohnort immer Schauplatz von Geschichte und ihrer Mystifizierung bleibt, schärft der südlich gewandte Blick die Wahrnehmung des eigenen privaten und politischen Lebens.
Gino Hahnemann, in Jena geboren, nennt sich selbst „Schrift- & Bildsteller“, kennt nicht nur die Gesetze des Südens, sondern auch dessen Literatur. „Mischung / Entmischung“ entspricht dem „trasumanar“ (Entkörperung) Dantes, dem Pasolini das „organizzar“, also das Engagement, entgegensetzte. In dem Gedicht „Vater und Sohn“, die Beschreibung einer Fotografie Pasolinis und seines Vaters, sieht Hahnemann folgerichtig eine konfliktreiche Tradition „als gellte glauben / im echo“.
Im Kapitel „Luft“ nimmt der Autor die Begriffe beim Wort und legt vor allem politische Phrasen bloß oder führt an luftige Orte, wie das längst geschlossene „Hotel Timero“ oder das verwaiste „Teatro Greco“, wo der Lyriker – wie auf der Bühne zu erwarten – sich selbst beobachtet: „als gäbe es / ohne doppel kein leben“.
In „Feuer“ beweist Gino Hahnemann seine größte Sprachwucht. Er bezeichnet das „Inferno als Alibi des Paradieses“ und macht zwischen privaten Lüsten und politischen Utopien eine verlorene Hölle sichtbar „gegen beständigkeit dessen, / das bleiben / nicht kennt“. Immer deutlicher wird „Sizilien schweigt“ zum Auf- und Ausbruch eines Menschen, der neugierig im Leben wie in der Literatur bleibt – ob in Mann-männlichen Liebes-Gedichten oder Anspielungen auf Medea, Gloeden, Rilke und Hölderlin.
In den letzten beiden Kapiteln „Wasser“ und „Erde“, zunächst in musikalischen Lang-Gedichten auf Palermo, vom Meer aus gesehen, und dann schließlich in „Der Süden verlassen, Platons Schatten“, hat der Autor seine Poetologie des Südens gefunden. Es sind Hahnemanns so unterschiedliche Stimmen, geschöpft aus dieser ganz eigenen Welt, die „Sizilien schweigt“ zu einem Literaturereignis machen: „was italien ist, nicht / was es anderen war, / schrie nach / gegenwartsfälschung (…) schweigesizilien, / auch deine rache / kennt die geladene / sommerblüte des feuermittags, (…) der größte teil der antike / bleibt unter der erde / und ich / will nicht vor der zeit / da sein“.

Christoph Klimke, Der Tagesspiegel, 19.4.1998

 

GINO HAHNEMANN

Wie der ohne nachvollziehbaren Hintergrund
fallengelassene Satz gestern Abend:
„wenn man uns
nur machen ließe,
würden wir aber
loslegen!“
(Dürftig wie nur etwas.
Über die Lippen
in einen eisernen Ausguss
gepfiffen.)
Analog der Vorstellungskraft
ist die Landschaft des Leichtsinns,
digital ausgemalt
unter Kopf-Hörern so eine weitere,
förmliche Falle –
wenn dein starkes Ohr es will,
stehen alle Leute still –

Peter Wawerzinek

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + LiteraturLand
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Gino Hahnemann: Tagesspiegel ✝︎ Grabrede

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Gino“.

 

Gino Hahnemann liest eigene Gedichte.

 

Gino HahnemannSeptember September (1986).

 

Gino Hahnemanns letztes Gedicht, gelesen von Barbara Schnitzler am 3.3.2009.

 

Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz. Tagebücher von Gino Hahnemann. Buchvorstellung und Lesung am 3.3.2009 im Literaturforum im Brecht-Haus.

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