Gottfried Benn: Späte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gottfried Benn: Späte Gedichte

Benn-Späte Gedichte

ZWEI TRÄUME

Zwei Träume. Der erste fragte,
wie ist nun dein Gesicht:
was deine Lippe sagte
oder das schluchzend Gewagte
bei verdämmerndem Licht?

Der zweite sah dich klarer:
eine Rose oder Klee,
zart, süß – ein wunderbarer
uralter Weltenbewahrer
der Muschelformen der See.

Wird noch ein dritter kommen?
Der wäre von Trauer schwer:
Ein Traum der Muschel erglommen,
die Muschel von Fluten genommen
hin in ein anderes Meer.

 

 

 

In diesem Band

sind die Gedichtsammlungen des Bennschen Spätwerks vereinigt: Fragmente (1951) – Destillationen (1953) – Aprèslude (1955). Der Verlag entspricht damit dem wie schon vor Jahren auch heute immer wieder zum Ausdruck gebrachten Wunsch vieler Leser, gerade diese späten Gedichte Gottfried Benns in einem handlichen kleinen Band verfügbar zu haben. Es ist eine immer wieder beobachtete Tatsache, daß viele Menschen, die ansonsten keine oder keine intensiven Benn-Leser sind, eine ungemein starke Affinität speziell für die Bennsche Lyrik aus diesen frühen fünfziger Jahren haben, daß sie gerade diese Gedichte bewundern, lieben, sich mit ihnen und dem, was sie ausdrücken, identifizieren. Man darf also aus der Rückschau wohl ohne Übertreibung sagen, daß in diesen Gedichten Denken und Fühlen zumindest zweier Generationen zu einem bestimmten Zeitpunkt während dieses unseres Jahrhunderts besonders überzeugend und für alle partizibierbar Ausdruck und Form gefunden haben.

Limes Verlag, Klappentext, 1979

 

Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof [VII] Gottfried Benn

Gottfried Benn, einer der wenigen Bedeutsamen, denen es gelang, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts lebend zu erreichen, der Einzelgänger von damals, dem im Nachkriegsdeutschland Come back von gewisser Breite und unangefochtener Solidität zuteil wurde, steht im Begriff, Schule und Mode zu machen. Nachdem die ersten Nachkriegsjahre ihn vernachlässigt hatten, weil sie einer anderen, einer moraltendenziösen, einer Bekehrungsliteratur die nötigen psychologischen und soziologischen Grundlagen boten, auch weil sie nicht fähig waren, zu einem Nihilismus, der sich an wirtschaftlicher Prosperität und Fortschrittsidee mästete und durch ihr Erscheinungsbild denkerisch und formulativ bestimmt wurde –, nachdem diese Zeit, in der der Benn-Typus nichts zu suchen und nicht viel zu sagen hatte, ihren Abschluß gefunden, ohne durch die Wiedergeburt von Wohlleben und ökonomischer Stabilität ein tragfähiges Absprungbrett für einen neuen Positivismus gewonnen zu haben, rief sie folgerichtig die Köpfe wieder an, die schon einmal ähnliche Situationen denkerisch und formulierend angegangen waren. Eins aber darf bei einer soziologischen Betrachtung nicht außer acht gelassen werden, daß nämlich Benn mit dem Abflauen der Entnazifizierung für gewisse Kreise Rechtsintellektueller, die wieder hoch und nach vorne wollten, einen Träger verschiedener potentieller Werte bedeutete, daß sie an ihm ihre Hoffnungen fixierten: hier war einer, der den Nationalsozialismus mitgemacht hatte wie sie, dem aber trotzdem eine höhere überaktuelle Integrität zu eigen war (wie ihnen), eine Art Zwitter aus gefallenem Engel und aufsteigendem Stern, einer der nicht an ihrer Vergangenheit herumnörgelte wie die unbequemeren Emigranten, ein Mann mit unleugbarem Format also, der an ihren Verfehlungen teilhatte: der sitzt mit uns in einem Boot, den schieben wir vor.
Dies alles sehen und einschätzen, heißt nun aber nicht, dem Mann den Respekt verweigern und seine Künstlerschaft in solcher Reverenz madig machen, es heißt nur, die Vorbedingungen eines Ruhms kritisch anzuleuchten, um den Tisch für eine im Positiven und Negativen vorurteilsfreie Wertung der literarischen Fakten freizumachen. Denn im Augenblick steht einer objektiven Wertung und Analyse viel eher die Unantastbarkeit eines Namens als der Makel einer weniger erfreulichen Vergangenheit im Wege.
Benn gehörte zu den vielzitierten großen alten Männern der deutschen Literatur, er stand an erster Stelle der 57er Nobelpreisvorschläge, der kleine, lokale Ruhm hatte sich zur Weltberühmtheit ausgeweitet, der späte Benn hatte die Aufmerksamkeit erregt, die dem jungen zu provozieren anscheinend nicht gegeben war.
Warum nicht? Gretchenfrage! Sicher gab erst das Spätwerk Anlaß zur Preiskrönung. Das lassen Sie uns untersuchen.
Bietet das Alterswerk formale Neuigkeiten, neue Gedanken, Themen, Motive? Keineswegs. Schon das lyrische Frühwerk bietet in nuce das, was der alte Herr dreißig Jahre später, weit- und leichtflüssiger, bei Limes publiziert. Es sind noch die gleichen Vokabeln mit denen er in der Jugend seine Gedichte ausstaffierte, also: die Leere, das gezeichnete Ich, zerfallendes Quartär, Art und Rasse, Fluten, Blut und Traum, Abgesänge, Tristesse, Ur und Gen und Sibelius’ Finnenlied. Dann die Lieblingsblumen: Flieder, Astern und vor allem Rosen: Rosen fuderweis. Das Interieur ist gleichgeblieben, nur verdünnt scheint die Suppe, die Formulierungen haben mehr Luft gekriegt – geballte Ladungen? – kaum noch. Im großenundganzen treibt man Variation, die Karten werden neu gemischt, die Spielregeln liegen fest. Ähnliches gilt für Essay und Rede.
Lesen Sie doch die Probleme der Lyrik und dann die alten kolossalen Dinge: Urgesicht, Das Genieproblem, Nach dem Nihilismus, Saison – da sind die PdL doch nur unwesentliche Abwandlung und Selbstzitat. Keine neuen griffigen Formeln, keine Erkenntnisbereicherung, eher so etwas wie allgemeinfaßliche Poetik für die reifere Jugend, pädagogisch anpopularisiert. Etwas sehr Nützliches dort, wo man von Expressionismus und Ausdruck keinen Schimmer hat, frisch und fotogen geboten, aber mit den epochemachenden Würfen der Jugend verglichen doch wohl einigermaßen abfallend.
„Altern als Problem für Künstler?“, die Frage hat Benn gestellt, und sein Ergebnis hieß:

Versucht man sich darüber zu orientieren, bekommt man keinen einheitlichen Eindruck.

Das mag stimmen, für den Bennschen Personalstil und seine Wandlung läßt sich aber doch einiges fixieren.
Benn, das zuvor, gehört zu jener Generation, die ihren Zeitstil weniger aus dem Zwerchfell heraus gestaltete, als vielmehr in hirnener Retorte. Bewußtseinsbelichtung und Experimentalformalismus markierten die Situation, Stil entstand nicht mehr, brach auf oder war da, Stil wurde gemacht. Die Symptome waren bei unterschiedlichsten Temperamenten und Gesinnungen analog: man reflektierte Naivitäten und Ursprünglichkeiten, die man selbst nicht mehr aufbrachte, man begeisterte sich an Negerplastiken und bäuerlicher Hinterglasmalerei, man entdeckte die Primitiven-Lyrik und die Kinderzeichnung: man ging auf allemöglichen archaischen Anregungen zurück und machte bislang völlig unerkannte Reize für die moderne Kunst wieder flott. Parodie, Ironie, Montage und Artistik bestimmten das Bild. Brecht parodierte Kirchenlied und Oper, Thomas Mann den klassischen Roman, Hasenclever ironisierte und aktualisierte die griechische Mythologie, Tatlin lehrte Maschinenkunst. Anderswo begann die Lyrik raffiniert zu stammeln, die überkommene Grammatik wurde angetrümmert oder völlig über den Haufen geworfen, Traum und Paranoia wurden durch die Surrealisten mobilisiert. Benn, neben anderen, montierte Umgangssprachliches in seine Strophen, oft genormten Kitsch, sprachliche Fertigware, Fach- und Beamtenwelsch, korrumpiertes Pressedeutsch, ausgepowerte Floskeln, Annoncentexte.

Nach Arbeitstagen
wenn der Sonntag naht,
sollst du dich tragen
in den Forst der Stadt,
die Massenglücks
sind schon tränennah,
bald ist die Lücke
für die Trance da.

Das ist Zynismus reinster Galle, der Sonnabendabend, der Forst, das Glück, die Tränen, die bürgerliche Seeleninstallation: alles in die Strophe einbezogen, die Entlarvung des Kitsches durch den Überkitsch. Das Motiv taucht später, scheinbar ähnlich, wieder auf.

Ach hin zu deinem Munde,
du Tag vor Feiertag,
Sonnabendrosenstunde,
da man noch hoffen mag!

Noch Parodie des Kitsches? Na, ich weiß nicht. Sicher aber nur noch spurenweise nachweisbar, denn die Rosenseligkeit ist für Benn fast durch die Bank und durch die Bücher eine sehrsehr echte Regung. Und man braucht schließlich nur einen Blick auf die nächste Strophe zu werfen, um zu schmecken, wie ernst es hier einer nimmt.

Der Fächer noch geschlossen,
das Horn noch nicht geleert,
das Licht noch nicht verflossen,
die Lust noch nicht gewährt!

Nein, bei den Rosen bezieht Benn seine „Wallungswerte“ und in Rosennähe werden Knie und Gehirn weich, wir haben nicht den geringsten Anlaß, den Ausdruck „Sonnabendrosenstunde“ ironisch zu nehmen, wir haben schließlich noch eine andere Formulierung im Ohr, „Rosenmöwenlied“.
Es liegt nun durchaus nicht an dem edlen Gewächs als solchem, die Pflanze ist nach wie vor auf dem Boden der Poesie anzusiedeln, und Benn hat gute Strophen damit bestückt, aber es sind doch immerhin sehr gefährliche Blumen, vielleicht die gefährlichsten: wer sie nicht in die geeignete sprachliche Umgebung zu setzen fähig ist, dem stehen sie an wie Oblaten aus dem Poesiealbum. Was halten Sie beispielsweise von einer „Schale später Rosen“? Schale, späte Rosen des späten Benn. Weiter nischt. Und er hatte früher gedichtet „Rosengefälle“, und das in solcher Strophe:

Monde fallen, die Blüte
fällt im Schauer des Spät,
Nebel am Haupt die Mythe
Siegenden Manns vergeht,
tief im Rosengefälle
wird nur Verwehtes beschenkt,
während die Ewige Stelle
trostlos die Stirne senkt.

Das sind immerhin Rosen aus Laurins Garten, meine Damen und Herren, am Wörthersee gewachsen aber sind die folgenden:

Wenn erst die Rosen verrinnen
aus Vasen oder am Strauch
und ihr Entblättern beginnen,
fallen die Tränen auch.

Erinnerungsworte an Deinen Mitkonfirmanden Gottfried B….? Na?! Immerhin, die Lücke für die Trance: was der Masse als Glück nicht ansteht, ist dem lyrischen Ich billig oder „der Künstler ist der einzige, der mit den Dingen fertig wird“ (Ptolemäer, 1947).
Ergeben sich schon Gesichtspunkte für den Altersstil? Den des Gottfried Benn? Dies auf jeden Fall, daß der gehässig-aggressive Zynismus (prächtig-prächtig) in die passive Rührseligkeit des lyrischen Ich umgeschlagen ist, das heult uns nun die Jacke voll, monomanisch fasziniert vom eigenen Gewimmer.

(wird fortgesetzt)

Leslie Meier (das ist Peter Rühmkorf), Studentenkurier, Nr. 7, 1957

Gottfried Benn – nach 25 Jahren

Es war 1957, vor ziemlich genau 25 Jahren, als der Verfasser dieser Zeilen einen Vergleich zog zwischen den jungen Franzosen, die einst, wie Paul Valéry behauptete, bereit waren, sich für die Verse Mallarmés in Stücke hauen zu lassen, und den jungen Deutschen, die in dem Jahrzehnt nach 1945 Gottfried Benn für sich entdeckten. In Stücke hauen lassen und dann noch Vokabeln wie Stolz, Laster und Geheimnis – das hört sich heute reichlich emphatisch an. Und doch, blättert man in der seither erschienenen und zu beträchtlichem Umfang angeschwollenen Benn-Literatur, so stößt man bald auf kaum weniger exzessive Formulierungen, wenn es darum geht, die überraschende Wirkung zu beschreiben, die der Halbvergessene und eben noch Verfemte auf die Generation der noch einmal Davongekommenen ausübte.
1957, das Jahr nach Benns Tod, war auch das Jahr, in welchem sein später Ruhm den Kulminationspunkt erreichte. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre begann Benn der Prozeß der allmählichen Abkoppelung. Die vielen, die bis dahin hingebungsvoll à la manière de Benn gedichtet hatten, verspürten in wachsendem Maße das Bedürfnis, sich von der übermächtigen Vaterfigur zu lösen; und das nicht nur, weil sie „ausgelernt“ hatten und nunmehr des eigenen Tons sicher zu sein glaubten, sondern auch aus einem Gefühl der Enttäuschung.
Der hochgeehrte und vielgefeierte Benn war – jedenfalls in ihrer Einschätzung – nicht mehr der, für den sie sich in der Stunde Null entschieden hatten. Was nicht nur sie, was auch orientierungsbedürftige Leser sehr verschiedener intellektueller Herkunft und Beschaffenheit damals suchten und in Benn fanden, war der Mann ohne Tricks und ideologischen Schwindel, der große Phrasenlose, der Verächter der Konventionen, der Anti-Bourgeois, der mit ein paar hingefetzten Zeilen wie „Fortschritt, Zylinderglanz und Westenweiße / des Bürgermastdarms und der Bauchgeschmeiße“ („Prolog zu einem deutschen Dichterwettstreit“, 1922) unüberbietbare „Beiträge zur Klinik des Deutschtums“ geliefert hatte. Es war der Mann einer „soliden Hoffnungslosigkeit“ (Peter Rühmkorf), mit dessen Hilfe man der eigenen Verstörtheit Herr zu werden suchte. Selbst das Artistenevangelium, das Benn inmitten einer Trümmerwelt verkündete, ja selbst noch der ehrwürdige Begriff des Statischen („Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe des Weisen“) gewannen unter solchen Vorzeichen kämpferische Selbstbehauptungsqualität.
Doch eben dieser Benn einer jeder Illusion und jeder Begütigung abgeneigten Unbedingtheit trat nun mehr und mehr zurück hinter einem anderen, den es auch früher schon gegeben hatte – aber als Nebenstimme. Der Autor des „Ich trage dich wie eine Wunde / auf meiner Stirn, die sich nicht schließt“ („Mutter“, 1913) wußte sehr wohl, daß seine mit Fleiß kultivierte und zur Stilfigur erhobene Schroffheit die Kehrseite einer übergroßen Erschütterungsfähigkeit war und daß sein ostentativer Zynismus und seine imperiale Kälte sich immer wieder jäher Gefühlsüberflutung zu erwehren hatten. Das unwillig-selbstkritische „Viel zu sentimental“ in einem Brief an den Verleger Alfred Richard Meyer aus dem Jahre 1913 zeigt, daß hier schon früh ein Konfliktpunkt lag und daß Benn entschlossen war, dem, was er später das „Wallungsweiche“ nannte, nicht nachzugeben.
Nun aber, in der lyrischen Produktion der fünfziger Jahre, beginnt gerade diese zu dominieren. Das schluchzende Melos, die luxurierende Melancholie, die betörende Mixtur aus Schlagzeile und Träne, aus Marmor und schwingendem Seelenlaut – sie bestimmen zunehmend das Bild des Lyrikers Benn und schmälern, für viele, dessen Verbindlichkeit. Manches, das auch jetzt noch etwas von der aggressiven Durchschlagskraft des frühen Benn hat („Radio“, „General“, „Kleiner Kulturspiegel“), wird erst später aus dem Nachlaß bekannt. In den veröffentlichten Gedichten von 1951, 1953 und 1955 gibt es kaum noch die lyrische Attacke. Wehmütige Finalstimmung herrscht vor, dekorative Resignation und glanzvoll instrumentierte Abschiedsmusik statt der „aufrührerischen Tiefe“ des Worts, die Benn noch wenige Jahre zuvor als „das Erlebnis unserer Generation“ gefeiert hatte. Zwar vertritt er im Prinzip noch immer die Überzeugung, es sei – so 1952 an Max Niedermayer – „besser und anständiger, bis zum Schluß seiner Produktion hart zu bleiben, statt milde, reif und familienhaft zu werden“. Doch nicht selten scheint er gerade dies zu sein; und die Vermutung liegt nahe, daß es solche und ähnliche Eigenschaften sind, denen er einen erheblichen Teil seiner Alterspopularität verdankt.
Ist das nun wirklich, wie die enttäuschten Jünger meinen, Weltverlust und geistiges Fluchtverhalten? Ist der große Unerbittliche, der „wahrhaft Aufständische“, wie ihn Carl Sternheim einst genannt hatte, nachgiebig geworden, hat er sich – das höhnische Wort vom Dichter des Adenauer-Staats geht um – angepaßt und zu „sacchariner Feierlichkeit“ (Rühmkorf) bekehrt? Oder ist es nicht vielmehr die letzte, ehrliche Konsequenz einer Kunstgesinnung, die keine „geschichtlichen Ansatzkräfte“ gelten läßt, sondern allein den konstitutionell bedingten, individuellen Ausdruckszwang?
„Die biologische Spannung endet in Kunst.“ Nimmt man diesen zentralen Bekenntnissatz aus dem „Doppelleben“ ernst, dann muß er – einschließlich der unvermeidlichen natürlichen Verluste und Schwerpunktverlagerungen – auch für jene „gewissen Lebensabende“ gelten, die Benn so wissend und mit so schmerzlicher Intensität besungen hat. Es gibt doch zu denken, daß er in seinen letzten Lebensjahren dem Thema „Altern als Problem für Künstler“ die angestrengteste, intimste Aufmerksamkeit schenkte, daß es seine erklärte Absicht war, in den Vortrag, der diesen Titel trägt, „eine Art Selbstporträt des Alten G. B. hineinzubugsieren“ (an F.W. Oelze, 15.11.1953), und daß in diesem Selbstporträt auffallend viel von Melancholie und Marasmus, vom „… Gram der Müdigkeiten“ und vom „Grau der Leere“ die Rede ist.
Doch die Aufbruchsstimmung von 1968 war solchen Überlegungen nicht günstig. Man suchte Gewißheit im Kollektiv, das Tragisch-Individuelle wurde für „obsolet“ erklärt. Eine vorwiegend soziologisch orientierte Literaturauslegung folgte diesem Trend bis zum Ausgang der siebziger Jahre. Sie gefiel sich darin, in Benn vornehmlich ein Opfer gesellschaftlicher Zurückweisungen zu sehen einen sozial Zukurzgekommenen, der sich im Gedicht Ersatzbefriedigungen verschaffte und seine Tage in einem Hinterzimmer mit Blick – er sagt es ja selbst! – „auf einen Kaninchenstall und zwei Hortensien“ beschloß.
Auch die vielberufene Sentimentalität habe keine biologisch-konstitutionellen, sondern vor allem sozialpsychologische Ursachen. „Die poetische Sentimentalität produziert das ihr verweigerte soziale Mitleidsquantum in narzißhafter Übertreibung immer schon mit. Die mythische Gestalt des Narziß wird bei Benn zu einer sozialen Ersatzfigur“ (Jürgen Schröder in Gottfried Benn, Poesie und Sozialisation, 1978). Sonderbar nur, daß die Sentimentalisierung  seiner lyrischen Sprache ihre heftigsten Blüten gerade zu einem Zeitpunkt trieb, als das soziale Defizit durch eine wahre Hochflut von allgemeiner Verehrung, offizieller Auszeichnung und auch materieller Anerkennung weitgehend ausgeglichen war.
Eine mit Zensuren nicht sparende Benn Chronik (ebenfalls 1978 erschienen) schwelgt geradezu in apodiktischen und zumindest in solcher Einseitigkeit fragwürdigen Zuweisungen wie „outcast-Syndrom“, „persönliches Inferioritätsgefühl“, „fortwährendes Leiden am Gefühl der Nichtzugehörigkeit“. Des Dichters „Beharren auf Fragen der künstlerischen Form“ wird zur „Position des Rückzugs aus dem nach hochfliegender Erwartung so bitter enttäuschenden Tagesgeschehen“ trivialisiert, seine Kunsttheorie auf die Maße eines „Defensivunternehmens angesichts seines tagespolitischen Scheiterns“ heruntergebracht. „Außenseiterschaft durch unbemittelte Herkunft“, „Inferioritätssituation in Schule, Ausbildung und Offizierskorps“, „mangelnder beruflicher Erfolg als Arzt“ – mit solchen Akzentsetzungen wird der Sozialneid förmlich zum schöpferischen Prinzip erhoben. Benns Dichten, seine Poetik, seine künstlerische Existenz schlechthin wären demnach nichts weiter als die verbitterte oder wehleidige Reaktion auf frustrierende Außenerfahrungen.
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Unbekümmertheit darüber die Bennsche Grundsubstanz hinweg argumentiert wird – so, als gäbe es sie gar nicht, als handle es sich ganz einfach um eine biographische Fehlentwicklung, als hätte ein sozial begünstigter Benn essentiell anders gedichtet als der uns bekannte: gemeinschaftsbewußt, gesellschaftlich konstruktiv, zukunftsfroh. Muß man wirklich ernsthaft daran erinnern, daß es so etwas wie eine zwanghafte innere Disposition zum Außenseitertum gibt? Daß ein mit allzu empfindlichen Antennen Ausgestatteter, ein „Hautloser“ wie Benn in jeder wie auch immer gearteten Gesellschaft und unter noch so opulenten Lebensbedingungen ins sogenannte Abseits geraten wäre? Mehr noch, daß er in jedem Fall das Abseits als den Ort seiner Bestimmung, das heißt: seiner spezifischen Produktivität gesucht hätte? Das hat nichts mit Ressentiment, nichts mit „Ersatz-Aristokratisierung“ zu tun, sondern mit dem Selbstschutz des schöpferischen Menschen, der seine Bedingungen kennt.
Wenn Benn davon spricht, sein Leben außerhalb der Zeit und in permanentem Widerspruch zu ihr sei „keine Laune, keine Koketterie, keine Literatur“, es sei „körperlicher, konstitutioneller Zwang“ (an Ellinor Büller-Klinkowström, 19.5.1937), oder wenn es in einem Brief an Oelze lapidar heißt: „Mit keiner Maske ist das zu verdecken, mit keinem Lächeln abzuschwächen, man ist gezeichnet und fremd: der Gegentyp“ (5.12.1940), dann sind das Selbstdefinitionen, die wir ernst zu nehmen und zu respektieren haben. Hier geht es nicht um die sozialen Verweigerungs- und Absonderungsprozesse eines Gleichgültigen, nicht um solipsistischen Einsamkeitskult, auch nicht um zeitgeschichtlich motivierte Stimmungslagen, sondern um die Voraussetzungen einer Produktivität, die anders als um den Preis eines Existierens „am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt“ nicht zu haben war, die immer wieder eine „Sphäre von Schweigen und Verlorenheit“ („Epilog und lyrisches Ich“, 1928) brauchte, um sich nach ihrem Gesetz erfüllen zu können.
Doch die Aufständischen von 1968 und ihre Nachfolgedenker waren nicht bereit, dem Autor von „Was sagt ihr zu dem Wogen der Geschichte, / ist wo ein Reich, das nicht zum Abgrund kreist“, („Choral“, 1933) dergleichen zuzubilligen. Zwar wollten auch sie nicht ganz auf ihn verzichten, aber sie wollten ihn anders; sie wollten einen Benn, auf den sie ihre von Brecht abgeleiteten Kategorien und Kriterien anwenden konnten, und mußten dabei zwangsläufig zu schiefen Resultaten kommen. Inzwischen hat nun die vorhersehbare Brecht-Dämmerung eingesetzt. Der Traum von einer veränderten Gesellschaft, die zugleich auch den veränderten Menschen hervorbringt, einen neuen, von sielt selbst entlasteten, untragischen Menschentyp, hat sich als ein nicht einmal frommer Betrug erwiesen.
Ausgehend von den Rändern der bröckelnden Wohlstandsgesellschaft, breitet sich ein Klima aus, das dem der zweiten Hälfte der vierziger Jahre nicht unähnlich ist: ein neue Sinnlosigkeitserlebnis; das Gefühl einer ganzen Generation, betrogen worden zu sein; das Versagen der großen „Macher“ und der wachsende Abscheu vor ihrer Unglaubwürdigkeit; die Angst, noch weiter verplant zu werden und als Einzelner vollends in die Defensive zu geraten; Angst auch vor der totalen emotionalen Verödung; und schließlich schiere Existenz- und Zukunftsangst angesichts einer selbstmörderischen Globalstrategie. Fast könnte es scheinen, als habe Benn etwas Derartiges vorausgesehen, wenn er im „Ptolemäer“, der „Berliner Novelle, 1947“, von einer Situation spricht, bei der es nicht mehr „um den Verfall des einzelnen Menschen“ gehe, „auch nicht einmal den einer Rasse, eines Kontinents oder einer sozialen Ordnung, eines geschichtlichen Systems“, sondern um „etwas weit Ausholenderes“, nämlich „die Zukunftslosigkeit eines ganzen Schöpfungswurfes“.
Abermals hält also eine Generation von Desillusionierten nach ihrem Dichter Ausschau, nach einem Geist, der nicht verspricht und doch Zuversicht vermittelt. „Wir lernten unsere Leiden überblicken und sie bewußt in die Prozesse, auf die es ankam, eingliedern.“ Das war Benns Wirkung um 1948, wie ein Betroffener, Peter Rühmkorf, sie beschrieben hat. Wird es jetzt wieder so sein? Tatsächlich fehlt es heute, zu Beginn der achtziger Jahre, nicht an Beobachtungen und Prognosen, die auf ein zweites, posthumes comeback Benns (nach dem triumphalen ersten von 1949) hindeuten. Gottfried Benn als Troubadour einer Nofuture-Generation? Und wenn ja, in welcher Eigenschaft? Als der Artist, der „singend seziert“, oder als die zu lustvoller Entrückung einladende lyrische Droge? Auch dies letztere wäre denkbar. Zwischen der narkotischen Verführungskraft, die von der introvertierten Lyrik der Bennschen Spätphase ausgeht, und den autistischen Ekstasen einer Rock- und Disco-Jugend lassen sich unschwer Entsprechungen finden.
Einstweilen bleibt das überwiegend Spekulation. Sicher ist nur, daß Benn in den achtziger und neunziger Jahren die Chance hat, vollständiger und besser verstanden zu werden, als das vor einem Menschenalter möglich war. Dazu trägt entscheidend die Veröffentlichung der in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden Briefe an F.W. Oelze bei, den Bremer Großkaufmann und weltkundigen Literaturfreund. Ihm hat Benn sich in einer Weise erschlossen, die diese mehr als 700 Briefe zu einer Art journal intime macht. Wir lernen darin den leidenden Menschen hinter allen Stilisierungen und Abstraktionen kennen, den großen Abweisenden als einen großen Bekenner, den Intellektualisten als zartfühlenden, besorgten Freund und Arzt, den scheinbar weltabgewandten Verfechter eines absoluten Kunstanspruchs als hellwachen Zeitgenossen, für den der vielbespöttelte Elfenbeinturm nicht Fluchtburg, sondern vorgeschobener Beobachtungsposten war.
Die Oelze-Briefe schaffen ein unbefangeneres Verhältnis zum Gesamtphänomen Benn. Auch sie sind, wie Richard Exner hervorgehoben hat, „zum großen Teil Werk“. Das bedeutet, der Wille zum Ausdruck war für Benn so sehr bestimmende Triebkraft, daß selbst noch eine beiläufige Briefzeile in jenen Prozeß einbezogen wurde, den er in einem der Briefe als den „Übergang des Sachverhalts in den Ausdruck“ definiert (13.8.1950). Damit verliert auch eine allzu penible Abgrenzung des Lyrikers gegen den Prosaisten an Gewicht. Wo alles Ausdruck ist, fallen die kategorialen Schranken. Wer die Oelze-Briefe ganz in sich aufgenommen hat, wird vielleicht mehr noch als bisher geneigt sein, den Lyriker Benn nicht zuletzt in seiner Prosa aufzusuchen.
Man mag darüber streiten, wie oft Benn das vollkommene Gedicht gelungen ist. Die vollkommene Zeile, die unwiderlegbare, sich selber tragende Wortfolge, in der Erkenntnis und Emotion zu einem unwiderstehlichen Dritten zusammenfließen – darin war er Meister; und die findet sich nicht nur im Gedicht, sondern gerade auch in seiner Prosa, vor allem der späten. Er selbst setzte in seinem letzten Lebensjahrzehnt ausdrücklich auf das „entschieden potentere und störrige neuere Prosagehirn“. So an Oelze am 19.5.1948; und kurz zuvor an den Verleger Peter Schifferli: „Ich habe das Gefühl, daß ich in den Prosasachen mehr von meiner inneren Lage und auch der Lage der Zeit realisiere als in den Gedichten.“
„Roman des Phänotyp“, „Drei alte Männer“ und „Der Ptolemäer“ stehen ihm augenscheinlich und erklärtermaßen näher als die so erfolgreichen Statischen Gedichte. Als er in der Landsberger Klausur den „Roman des Phänotyp“ („Es ist ein Roman nach innen, der Roman der tatsächlichen inneren Schichten in uns“) vollendet hat, teilt er das Oelze in der Überzeugung mit, dies werde „das einerseits Gelösteste und andererseits Concentrierteste sein, was zur Zeit innerhalb Europas zu liefern ist“ (3.5. und 12.7.1944). Ein maßgeblicher Teil seiner lyrischen Energien geht in das ein, was er in wachsendem Enthusiasmus und in immer neuen Anläufen als „absolute Prosa“ definiert. Es ist ein diffuser Begriff, der vieles in sich aufnehmen kann und eben deshalb geeignet ist, einer Ästhetik der Brüche, Widersprüche und bewußten Kontrastierungen als Plattform zu dienen. Absolute Prosa – das ist eine Prosa, die von der schlichten Tatsache ausgeht, daß es „für den inneren Menschen Raum und Zeit und Übergänge nicht gibt“, und die darum, statt auf einer fiktiven Kausalität zu bestehen, den Mut hat, „einzelne Sätze und Absätze ohne Motivbeziehung hintereinanderzustellen… also blockartig zu verfahren“. Eben dies sei modern, heißt es in dem 1949 entstandenen, aber seltsamerweise erst posthum veröffentlichten Prosastück „Der Radardenker“, das selber berückende Beispiele solcher Modernität enthält.
„Reines Ausdrucksarrangement“, diese Definition findet sich schon im „Roman des Phänotyp“; und im „Ptolemäer“ ist kühn genug – von einer Methode des „prismatischen Infantilismus“ die Rede:

Sie ruft wohl in jedem die Erinnerung an Kinderspiele wach, wir liefen mit kleinen Taschenspiegeln und fingen die Sonne ein, die reflektierten wir dann auf Besitzer, die vor ihren uns gegenüberliegenden Läden standen, das erregte Unwillen und böses Blut, wir aber hielten uns im Schatten. Was wir ins Helle bekamen, war natürlich nur Haut, Stuck, Flecke, Leberflecke des Äußeren, Warzen am Olymp des Scheins, nichts Wesenhaftes…

Hans Paeschke bemerkt dazu im Merkur (Juli 1981): „Was für ein Kompendium von Stilkriterien für die Literatur unserer Tage, von Wolfgang Koeppen bis Uwe Johnson, von Peter Handke bis Botho Strauß!“
Wir befinden uns also mit dem, was Gottfried Benn – bald raunend, bald mit äußerster begrifflicher Schärfe – von seiner „Alterskanzel“ herab bekanntgab, mitten in der Gegenwart; und es ließe sich durchaus denken, daß mancher Angehörige einer neuen Generation von Schreibern und von Lesern sich auf vertraute und ermutigende Art angesprochen fühlt, wenn er in einem der Briefe an Oelze (21.3.1948) auf die Wendung „fragmentarisch und kometarisch“ als Charakteristikum für einen künftigen Prosastil stößt: Kometarisch, das bedeutet: kometenhaft; und ein Komet ist ein Schweifstern, der sich auf weitausholender Bahn bewegt und einen Lichtschweif hinter sich herzieht.

Günter Blöcker, 1982 aus: Bruno Hillebrand (Hrsg.): Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen 1957–1986, S. Fischer Verlag, 1987

Dr. Gottfried Benn, oder: Der verlaufene Christ

Zwei Jäger begegneten einander:
DER EINE   Ich habe gestern Ihre Frau getroffen.
DER ANDERE    Ja –: wo denn?
DER EINE    Zwischen die Augen.

Menschen getroffen; dies ist der Titel eines späten Gedichts; wir können es ein letztestes nennen. Die 19 Verse legen einen weiten Weg zurück, 50 Jahre in 57 Sekunden.

MENSCHEN GETROFFEN

Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben –
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, als wollten sie einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ –
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.

Die Überschrift ist der erste Vers, die erste Strophe, zugleich Incipit-Formel und Exposition. Der Ton macht den Gehalt. Akkusativ; perfektes Verb. Korporationen-Jargon: „Kolossal gekneipt gestern. Noch übermorgen behämmert.“ Soldatische Kürze: „Operation abgeschlossen.“ Oder, historisch patiniert, Friedrich Wilhelm III: „Später kommen. Sind schläfrig“.
Vers 2) übersetzt das Geschnarre, das keine Antwort wünscht und zuläßt, in verwunderte Mitteilung. Wer Vers 2 spricht, wird, während er den Wortlaut artikuliert, Vers 1 noch anwesend sein lassen. Ich, der ich zu schnarren pflege, habe Menschen getroffen, die
Vers 3) wenn man sie nach ihrem Namen fragte – Name?! –
Verse 4…9) die Graumäusigkeit ihres Namens weitschweifig still kommentieren. Nur war das ganz ergebene Frl. Christian nicht gefragt worden, wie es nicht heiße. Indem das schlichte Ding verbal leugnet, daß es dies tue, nimmt es das Erinnerungsvermögen in Anspruch. Es hat sich abgegrenzt als ein Besonderes. Es wird, Vers 18, „das Sanfte“ genannt werden.
Verse 10…16) Das Gedicht, nachdem es den besonderen Menschen notiert hat, betritt eine besondere Sphäre: diejenige der Autodidakten. Sie ist eng, eine Bolge, in welcher Mühselige und Beladene, Erniedrigte und Beleidigte nach Wissen dürsten. Wo geräumige Hirnkästen vollgestopft werden mit Kraut und Rüben, wo mystische Schuster und Schneider Weltordnungen aus sich grübeln, wo das Genialische ins Abstruse mündet und das Abstruse den Schulsystemen seine Verachtung genialisch erweist. Ein Ort der Urzeugung, ein Sumpf, worinnen die Holme gründen der Leiter, die Bruno H. Bürgel gegen den gestirnten Himmel richtete. Auf höherer Sprosse, und immer doch über dem Moder, wird die reine Stirn der Engel sichtbar.
Der dies uns bezeugt, der Armenarzt, hat das Schnarren vergessen. Wen aber lobt derart demütigen Tons der Dichter? –: dienende Frauen; die Humanität ist weiblichen Geschlechts. Warum, wiederum aber, – und ich weiß keinen Grund dafür zu nennen –: warum kichern mich aus den Portraits der Jungfern Christian und Nausikaa zwei Physiognomien ganz anderer Provenienz an, huschen zwischen den Zeilen umher die Kunigunde Rosenstiel und die Meta Nackedey?
Verse 17…19) Seit eh und je war gefragt worden, wie das Elend und das Böse in die Welt gekommen seien. Jahrhundertelang hatte ein- und dieselbe Frage immer neue und scharfsinnige Theodiceen provoziert gehabt; die Antworten des Kirchenvaters Augustinus, des Kirchenlehrers Thomas, des Philosophen Leibniz werden Ihnen geläufig sein. Die Sozialutopien der Neuzeit sind säkularisierte Theodiceen: der Mensch nimmt die Schuld auf sich und erlöst Gott. Benns Conclusio kippt die Frage in ihr Gegenteil. Der Sachverhalt, um dessentwillen Gott zur Rechenschaft gezogen werden muß, entfällt. Irgendein Allgütiger tut, wir wissen nicht wie, was er kann; im übrigen gehört die Welt den Dämonen. Es hat ja Zeiten gegeben, da die Menschen den Ursprung des Sanften und des Guten so sicher zu kennen glaubten, daß sie ihren Glauben für Wissen zu halten nicht unberechtigt waren. Die Verse 17…19 bilanzieren unendlich traurig ein individuelles Leben; der gleiche Wortlaut artikuliert ungerührt das, was unser plattes Jahrhundertende für der Weisheit letzten Schluß ausgibt: daß nämlich von Heilsgeschichte niemals habe die Rede sein dürfen.
Ein Jahrhundert-Gedicht also; es ist nicht gut gedichtet. Zufall-Enjambements; rhythmisch unklare Folge der Verslängen; über „ladylike wie Gräfinnen“ könnte ich mich ausschütten vor Lachen. Warum ich nicht lache, ist dies: Es ist Einer des Todes erschrocken darüber, daß die Welt wirklich so ist, wie er sie sieht, und er fürchtet, sie werde, wenn er den Blick nicht abwende, noch scheußlicher werden, als sie ist. Da hat er das Blatt nicht mehr sehen wollen und es weggegeben.
Bitte gedenken Sie nun des eingangs erzählten Jägerwitzes. Wer hat die dienenden Frauen zwischen die Augen getroffen? Der Ptolemäer:

Niemand wird auf den Gedanken kommen, hinter dieser Gefühlsparadoxie stünde Sorge hinsichtlich des Tauwetters, der mit ihm verbundenen Schneeschmelze und der etwa vor meinem Haus zu findenden toten Gestalten –, ach, das wären ja ephemere Dinge! In einer Epoche, die nur die Masse gelten ließ, war die Vorstellung einer Individualleiche Romantik. Vor einer Zeit, vor der jedes persönliche Leben, jede Verfeinerung, jedes produktive Oszillieren als Ästhetizismus und reaktionär gebrandmarkt wurde, brauche ich mich wegen einiger fehlender Roboter, Lebensläufe, Leerläufe nicht zu scheuen, ich blieb durchaus im Sinne dieser Zeit, sollte sie zusehn, wie sie zu ihren juridischen Verhandlungsinhalten gelangte.

Der mörderische Ptolemäer ist von Profession Barbier, also das, was am Ziel seiner Wanderjahre Wilhelm Meister geworden war. Indes reflektiert der arme Hund im Mief seiner Hütte jenes „produktive Oszillieren“, welches die peinlichste Deskription des Miefes soeben generiert; die Kreatur darf, daß der Autor ihr Geschöpf sei, wähnen. Die Selbsterniederung des Urhebers als Figur parodiert depressiv grüblerisch die Selbsterniederung Gottes als Mensch. Was immer uns daraus blühen würde, das Paradies ist es nicht:

Ein Morgen erhob sich, der Hahn krähte, er krähte dreimal, er schrie geradezu nach Verrat –, aber niemand war mehr da, der verraten werden konnte oder der verriet. Alles schlief, der Prophet und die Prophezeiten; auf dem Ölberg lag Tau, die Palmen rauschten in einem unfühlbaren Wind –, da flog eine Taube empor, spirirus sanctus, ihre Flügel schwirrten und die Wolken nahmen sie auf sie kehrte nicht mehr zurück – das Dogma war zu Ende.

Derartige Texte, reziproke Eschatologien, fanden ihr enthusiasmiertes Publikum in der Zeit zwischen dem Start des Marshall-Plans und dem Ende des sog. Wirtschaftswunders. Eine Schulfreundin des Dichters, wir wollen sie Kunigunde Nackedey nennen, eröffnete am 18. Mai 1950 ihre Seele wie folgt:

O Doktor Benn!!!!!
Ich glaube,
das können Sie sich nicht vorstellen, wie blödsinnig ich mich über Ihren kleinen Brief und das Buch gefreut habe! Lachte, heulte und mindestens eine halbe Stunde ging ich in meinem Zimmer laut mit Ihnen redend auf und ab. (Man kann das in meinem Zimmer.) Sie waren wieder so nah!
Und dann verkroch ich mich mit den drei alten Männern auf der Couch (bildlich) und versank in Ihren Kreis, – ach! in den wohlbekannten, unheimlich anziehenden und geheimnisvollen! Las, rannte rum, las wieder und geriet in eine Art erhöhten Daseins!
Am Tag drauf – das Buch ist schon Sonnabend gekommen – las ich es in ruhigerem Zustande nochmals, umringt von alten Lexika, die mir zugänglich waren. Obwohl ich in den vergangenen Jahren doch allerlei dazugelernt habe und Ihre schieren Fremdworte mir oft keine mehr sind, so strudelts doch öfter gewaltig in den schwach durchbluteten Hohlgängen meines Hürns –
wenn ich versuche, das Ahnend-Erfaßte oder ,tiefdämmernd‘ Erahnte nun mehr durchzudenken –
vor Ihrer Souveränität (mit der Sie Begriffe abwandeln, mit Worten jonglieren aus geistigen Landschaften, in die Unsereiner bestenfalls durch eine Türritze geguckt hat. Und die Komprimiertheit, die Koncisität – hinter jedem Wort fängt eine ganze Welt an!
Und dann plötzlich ein kleiner Satz, und in dem ist alles eigene Fühlen und man ist so betroffen und so angerührt, daß man vergehen könnte!
Es sind himmlische Tage, denn ich lese immer wieder und kann schon manche Stellen auswendig, trotz des oben angedeuteten cerebralen Zustandes!!!!
Danke Ihnen tausendmal!!!

Gewiß, das ist Backfisch-Schwärmerei; verzücktes Lallen. Indes, gesetzte Männer gerieten in den gleichen Zustand und gebrauchten dieselben Vokabeln.

Ernst Robert Curtius; am 6. Sept. 1948:

Ich teile wahrscheinlich keine einzige Ihrer Überzeugungen. Aber die Gewalt Ihrer Prosa wie Ihrer Verse hat ja mit der Biologie nichts zu tun (alles hat natürlich damit zu tun – aber Sie verstehen mich). Wenn ich eine Seite von Ihnen vorlese, versinkt die ganze deutsche Literatur seit George & HofmannsthaI.

Und am 18. Dez. 50; seine Bedenken übertäubend:

Nihilismus als Glücksgefühl – auch das möchte man für eine ,individuelle Monomanie‘ halten, nicht für eine Signatur der letzten hundert Jahre, wie es Ihr imperatives und diktatorisches Denken fordert. Es ist für den Betrachter von hohem Reiz, zu sehen, wie Sie Ihre Monomanie verallgemeinern. War nicht der von Ihnen mit Recht gefeierte Heinrich Mann (ein größerer Potentat doch wohl als sein Bruder) zugleich ein Dichter, der die Welt verändern wollte? Madame Legros steht neben Violante. – Glauben Sie nicht, daß ich ,Einwände‘ vorbringen möchte. Ihrem monumentalen Werk gegenüber wäre das lächerlich. Aber Sie provozieren Reaktionen und Reflexionen. Und dann berausche ich mich wieder an Ihren Sprach-Essenzen und sage mir vor: ,Rom im Arm der Antonine‘.
In Verehrung und Dankbarkeit
Ihr

Oder Richard Alewyn; am 1. Mai 1956: (Meine Verehrung für Sie)

darf sich in diesem Falle immerhin auf zwei entscheidende Begegnungen mit Ihrem Werk berufen; die erste vor etwa 35 Jahren in zartestem Alter, die nicht weniger als ein Check war, der sein Opfer aus dem humanistischen Schlummer rütteln half, die zweite nach dem zweiten Krieg, als ich – nach fünfzehnjähriger Entfernung und Entfremdung – gerade rechtzeitig auf die deutsche Bühne zurückkehrt (sic!), um die Enthüllung Ihrer kristallinischen, ekstatischen und schwermütigen Klassik miterleben zu dürfen, die uns allen die Zuversicht hat wiederschenken helfen in das deutsche Wort und das deutsche Gedicht.

Offensichtlich war Benn das widerfahren, was er 1930 als Problem beschrieben gehabt hatte: Geniewerdung.

Der Gedanke lautet: Genie wird nicht geboren, sondern entsteht. Nicht die Anlage, die Leistung, auch nicht der Erfolg allein genügt, sondern es muß etwas anderes hinzukommen, nämlich die Aufnahme bei der Gruppe, beim Volk, bei der Zeit, häufig einer späteren. Genie muß erlebt werden. Man müßte also weniger von Genie sprechen, sondern von Geniewerdung, es ist ein extrem soziologischer Prozeß, der aber nichts zu tun hat mit einer metaphysischen und unklaren Reifung der Zeit für Persönlichkeiten und Ideen, es ist ein kollektivistisches Umformungsphänomen, am Ausgang steht die historische Figur und am Ende steht das Genie.

Die historische Figur: wie stand sie vor der Gemeinde? – nach dem Kriege. Gottfried Benn hatte sich, wie fast alle Deutschen, dem Hitler an den Hals geworfen und dann, durch Erfahrung gewitzigt, von ihm sich abgewandt. Den feinen Unterschied, daß nämlich sie selbst, die Volksgenossen, erst durch Stalingrad, die gebombten Städte und den Einmarsch der Alliierten gewitzigt worden waren, hingegen dem Dichter, ein Dezennium früher als ihnen, durch Mißachtung seiner Dichtung, das Regime verekelt worden war –: diesen feinen Unterschied übersahen sie gern. Vox populi, vox Nackedey; 24. April 1950:

Ich erinnere mich an einen Besuch, da wohnten Sie noch mit dem Blick in die Gneisenaustraße, (bilde mir ein, das kleine schmale Zimmer hinter dem Behandlungszimmer mit den vielen Besuchern!) Sie sagten damals 33 zu mir: „Europa rase unaufhaltsam seinem Untergange zu und diese braunen Myrmidonen wären ein letzter Versuch, die rasenden Rosse vor dem Wagen hoch- und zurückzureißen“ und dann sagten sie (sic!), die Welle vom Osten greife unaufhaltsam um die Welt.

Wer 1949 den Band Trunkene Flut aufschlug, konnte den Neudruck eines Gedichts aus dem Jahre 1933 lesen: und die eigne dumpf taumelnde oder hirnwütige Vita in entsagendes Ausharren auf verlorenem Posten poetisch transzendiert glauben; alte Kameraden – „dennoch die Schwerter halten / vor die Stunde der Welt.“

Hanns Johst trieb seinen Persilschein ein:

Sehr geehrter, lieber Herr Gottfried Benn,
verzeihen Sie bitte den Egoismus dieses Überfalles, aber ich werde noch immer entnazifiziert, und mein Anwalt benötigt dafür eine Erklärung, daß ich die Berufung zum Praesidenten der Reichskulturschrifttumskammer erst erhielt und annahm nach dem mich die deutsche Akademie der Dichtung in geheimer Wahl einstimmig (glaube ich) zu ihrem Vorsitzenden gewählt hatte. Die Ernennung von Goebbels folgte ja erst im Okt. 1935. Wenn Sie mir diese Tatsache bestätigen könnten und möchten, wäre mir das sehr lieb.
Daß ich Goebbels gegenüber betonte, ich betrachte diese Berufung rein representativ
(sic!) und würde keineswegs meinen ständigen Wohnsitz Oberallmannshausen gegen Berlin vertauschen und die Kompetenzen für das gesamte Verlagswesen müssten einem Fachmann übergeben werden. Herr Wilhelm Baur wurde dafür ernannt und war nun völlig gleichgeschaltet, da ich für diese Dinge überhaupt kein Organ hatte. Falls Sie sich auf diese Voraussetzungen meiner Berufung, die über Goebbels hinaus auf Weisung des Führers geschah erinnern sollten, wäre es für meine Situation naturgemäß sehr günstig.
Noch einmal: Verzeihen Sie diese blamable Belästigung! Nach vier Jahren Stacheldraht und Zelle lebe ich wieder in Oberallmannshausen und gewinne langsam nach dem Höllensturz aus meinem Wolkenkukuksheim Atem.
Zu den wenigen Freuden gehörte das Wissen um Ihren Lebensweg, soweit es mich in seinen Dokumentalien erreichte.
Nehmen Sie bitte – auch von meiner Frau – die herzlichsten Lebenszeichen entgegen / von Ihrem / Hanns Johst

Dergestalt gedieh, scheint es, allgemeiner Konsens; enthusiasmierte Kenner des elitären Werks priesen einen Dichter, über welchen die mehr oder minder belasteten Volksgenossen nur noch zu erfahren brauchten, daß er, gleich ihnen, Dreck am Stecken habe, um von ihm sich repräsentiert zu fühlen. Denn er ist unser.
Kunigunde Nackedey referiert die Modalität des Geniewerdung-Verfahrens; in ihren Stilfiguren könnte ein Juror die Frauleins auf dem Laufsteg und den Ausgang der Miss-Wahl beim Sektfrühstück kommentiert haben:

Bin sehr wählerisch. Deshalb ärgerte ich mich auch so schlagrührend über beiliegenden Artikel von H.E. Friedrich, sonst recht geschätzt von MIR. Der hat Sie da in einen Topp geschmissen mit Leuten, das ist schon ein starker Mangel an Qualitätsgefühl. Obwohl alle hoch zu ehren sind. Aber immerhin gibts Grade.
In kleinem Salon in Ihrem Umkreis würde ich lediglich den blau unterstrichenen einen Platz gewähren. Schon Hofmannsthal, nein – auch Trakl, Spitteler, Holz – ja auch er, – Loerke, Weiß, Werfel, Ringeln. (ich meine, nu wolln wir mal die Kirche im Dorf lassen!) Weinheber – müssen nebenan sitzen, meinswegen können die Flügeltüren auf bleiben. Aber von den Mitlebenden – da ist er wohl leicht durch Perspektive verwirrt! Hesse! Demian habe durchgekriegt, auch das Glasperlenspiel – aber er ist doch ein müder Hengst! Himmel. Und trieft von selbstbeglückter ,Bescheidenheit‘!! Nee. Schroeder, Geiger, Carossa – gewiß – sind vornehm, wundervoll – doch fehlt das Michelangeloeske absolument! Becher! Das ist eine Frechheit. Was ist er – ein alter Trottel, der einstmals, in meiner Jugend, ,eine Hoffnung‘ war. Mehr nicht. Zuck – anbetungswürdig, aber doch in ner gänzlich anderen
Kategorie. Die Seideln!!! Die Le Fort würde ohne ihre religiöse Brunst auch nicht so weit vorne stehen dürfen, Kaschnitz und Kasack kenne ich wenig, doch immerhin einiges, – blieb ohne Eindruck. Reinhold Schneider, von mir persönlich hoch verehrt, ein edler Mensch, – ich kann über ihn leider nur sagen, daß er an Kraft ungemein verloren hat, seit er der Ausstellungskatholik geworden ist. Er drückt sich auch neuerdings so weitschweifig aus, ich begreifs oft erst nach mehrmaligem Lesen. Aber nicht, weil wie bei Ihnen, in die knappest mögliche Form der vollste Gehalt gedrängt ist, sondern weils alles so auseinander labert. Leip, Jünger! Den habe ich überhaupt gefressen! Die Sünde wider den Geist bedeutet seine Langeweile und Wichtigtuerei. Britting und Lange, Horst Lange – gut, gewiß, aber …. Nee! Nee!!!!! Und dann Holthusen und Günther Eich – da wüßte ich Diverse die noch eher dranwären.
Vor allem dichten sie alle viel zu viel
. (31. Mai 1950)

Wie kommt Becher auf den Laufsteg? Das ist ein anderes Kapitel, und das schreibe ich nicht. Nur soviel: Benns Antipode wäre er gern gewesen und behauptete des öftern, er sei es, nur glaubte ihm keiner.
Ich berufe einen Zeitzeugen: Lothar Böhme, den Maler, einen Großen seiner Zunft. Er war in den 50er Jahren beidlebig gewesen; er hauste im Osten und studierte im Westen. Zweimal täglich übertrat er die Grenze, wechselte er die Welten. „Sobald ich morgens über die Linie getreten war“, sagt er, „war ich in Benns Welt, und die verfluchte Dialektik Brechts lag hinter mir, und sobald ich abends über die Linie getreten war, kehrte ich ein in die Welt Brechts und das verfluchte kaleidoskopische Geflirre Benns lag hinter mir.“
Dem intellektuellen Twen waren die Dichter Symbolfiguren. Sein Kürzel lautete nicht: Adenauer und Ulbricht, sondern: Benn und Brecht –: obwohl Benns Wortcocktails mit der Cocktailbar am Bahnhof Gesundbrunnen genau so wenig, oder viel, zu tun hatten wie Brechts pädagogische Chorlieder mit dem Städtchen in Pankow. Der Blick des jungen Malers scheint elitär beschränkt, oberflächlich flüchtig; indes, er durchschaute die Oberfläche und erfaßte intuitiv die sozialästhetischen Substrukturen.
Nämlich: Die Nachkriegsjahre zeitigten in beiden deutschen Territorien starke soziale Mobilität, jedoch auf unterschiedliche Weise.
Im Osten hatten, von einem Tag zum anderen, Autodidakten das Sagen, von oben an bis unten aus. Autodidakten wurden von Autodidakten unterwiesen. Weitreichende wirtschaftliche Entscheidungen wurden getroffen von Männern, denen die Doppelte Buchführung ein Böhmisches Dorf war. Zudem sollte die gesamte Ökonomie auf einen neuen Fuß gestellt werden; die sowjetischen Erfahrungen, welche für vorbildlich galten, waren die Erfahrungen ökonomischer Autodidakten unter inkommensurablen Umständen. Die Fachleute, sofern sie nicht schon im Westen waren, wurden mißtrauisch beäugt; ihr Fachwissen war unkontrollierbar. Die Fachleute ihrerseits sahen die regierenden Autodidakten in den Tagen und Werken Stalins, des Autodidakten, grübeln wie die ernsten Bibelforscher in der Hl. Geschrift. Entweder wandten sie sich ab von diesen Käuzen, oder sie verkauzten. Da sie nämlich auf das philosophische Terrain gezogen wurden, das ihnen fremd war wie ihren Lehrern, wurden sie philosophische Autodidakten zweiter Generation. In der dritten Generation ging das Wissen darum, daß die Gesamtgesellschaft ein autodidaktisches Konstrukt sei, verloren, damit die Tugend des Autodidakten; sie ist beschrieben mit der Devise: De omnibus dubitandum.
Brechts Werk, als ein ästhetisches System des Zweifelns empfunden, mußte in diesem Milieu gleichermaßen Zustimmung wie Ablehnung erfahren. Denn wenn der Zweifel zur Selbsthemmung systematischen Lernens wird, da ermuntert und mahnt er, und wo monotones Gepauke den Zweifel überdröhnt, dort steht er im Wege: als ein Getreuer Eckhart.
Im Westen blieb die Tradition fachlicher Kompetenz unangefochten; modifiziert ward die Verwertung der Kompetenz. Gründerjahre. Die Phase vor der Währungsreform, eben weil sie ökonomisch verzwickt war, bereitete den Boden.

Wer überleben und produzieren wollte, mußte in dem verwirrenden Dickicht von vier Märkten mit unterschiedlichen Währungen bzw. Währungsersatz eindringen und dort präsent sein, auf den preisgestoppten, rationierten Märkten, den grauen Märkten der Kompensation, dem von den Behörden verteufelten, unentbehrlichen Schwarzmarkt und mit Hilfe der alliierten Handelsbüros auf den Außenmärkten mit nicht minder großer Nachfrage. (Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs)

Mit Hinblick auf die unausweichlich ins Haus stehende Währungsreform klug zurückgehaltene, aus der grauen und der schwarzen Wirtschaft rührende materielle Bestände wurden durch die Reform schlagartig in anlagehungriges Kapital verwandelt. Ich muß hier den Fortgang nicht ausführen. Der Marshall-Plan. Müller-Armacks und Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ließ die abhängig Beschäftigten am Boom partizipieren. Auch Minderbemittelte konnten sich für vergleichsweise wohlhabend achten. Die Gesellschaft war so bestürzt über ihren neuen Reichtum, daß sie ihn für ein Wunder erklärte –: das Wirtschaftswunder.
Wie verhält neuer Reichtum sich zu kulturellen Gütern? Er bewundert und investiert in seine Bewunderung. Er mag den Abstand zum bewunderten Objekt nicht verlieren, weil ja gerade der die Bewunderung konstituiert und die Solidität der Investition verbürgt; darum eben schätzt er diejenigen kulturellen Güter am höchsten, die außerhalb seines Begriffsvermögens liegen. Dergestalt gesteht er dem elitären Künstler einen souveränen Raum zu, worin das Werk der modischen Korrosion nicht ausgesetzt ist, d.h. wo es dauern mag solange der Boom dauert, als konservierter Widerspruch, konservativ.
Wie der Autodidakt den Getreuen Eckhart adoptiert, so schließt der Homo novus den Menschenfeind in sein Herze. Benn in seiner Höhle, am Untersuchungsstuhl das Ewig-Gleiche vor Augen, der auf dem Rezeptblock, poetisch brummend und polternd, die Geschichte austilgt: war der nicht ein anderer Diogenes? ein jüngerer Apemanthus? Der Misanthropus, da er sich vereinzelt, repräsentiert er nicht die allgemeine Vereinzelung? und ist er nicht, da er knurrend unserer Vanitas den Rücken kehrt, der inkarnierte Wahrspruch: et in Arcadia ego. Zu deutsch: in jedem Aufschwung wohnt die Rezession.
Wie ward Gottfried Benn zum Menschenfeinde? Es ist ihm an der Wiege gesungen worden, im Pfarrhaus. Armut und lutherische Orthodoxie. Rigide Lehre, Rechtgläubigkeit, wie bekannt, induziert den Widerspruch und bannt zugleich, sofern sie monopolistisch waltet, den Widerspruch in das Koordinatensystem, welches sie selbst gefügt hat. Nur wer ein Christ ist, hat Ursach, mit dem Teufel zu kokettieren, und je perfekter der Glaube den Alltag regiert, desto höher steigen die Chancen des Versuchers.
Die Welt war, wie Gottfried zu glauben nicht umhin konnte, dualistisch, und da der Alte über das Reich der Seele alle Gewalt hatte, mußte der Jüngling auf das Territorium des Leibes hinübertreten, sofern er einen eignen Claim sich abstecken wollte. Also gelangte er in die Pathologie und erblickte den sündigen Leib in seiner scheußlichsten, d.h. wahren, Gestalt: als Madensack.
Der kalte Grobianismus der Morgue-Gedichte, welcher den esoterischen Ruhm des jungen Mediziners begründete, sprießt aus barocker Wurzel und atmet theologischen Duft. Der Vater hätte die Verse des Sohnes unverändert für die Bußpredigt verwenden können; nur Gnade und Erlösung zu verheißen wäre noch ihm überlassen geblieben; ja und auch dazu hätte der poetische Text ihm den Ansatz geboten:

MANN UND FRAU GEHN DURCH DIE KREBSBARACKE

Der Mann:

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Die Schlußstrophe (22 … 24) paraphrasiert Moses 1/3/19:

Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.

Über den gängigen Querverweis auf Prediger 12/7 schließen die Auferstehung und das Leben unmittelbar an:

Denn der Staub muß wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Das Schriftbild bekundet Benns poetisches Modell: die Verse sind zu Dreier-Gruppen geordnet. Einmal hat der Dichter diese Struktur kaschiert, einmal sie verlassen. Die Verse 13 und 14 sind formal geteilt, metrisch sind sie ein Vers: „Kein Mensch hat so viel Blut. – Hier dieser schnitt man /“
Heikler sind die Verse 7 und 8 (Strophe 2):

Das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Wir verstehen, was gemeint ist: diese Vagina nämlich war irgendeinem Mann ein großes Erlebnis (Vers 7). Nur ist leider von der Größe die Rede, wie wenn ein möglichst großer Innen-Durchmesser das Wünschenswerteste wäre. Vers 7 parodiert sich selbst; der überzählige Vers 8 erläutert, was gemeint, aber nicht gesagt ist, überspielt notdürftig die unfreiwillige Komik: ist Metastase im Gedicht.
Terzinen also; Divina Comoedia; Inferno. Wer spricht? – Vergil. Zu wem? – zu einer Beatrice, vermute ich. Was hat er ihr zu sagen? – der Mann spricht: Carpe diem.

Ich lese das Gedicht noch einmal; zwei Stellen sind gestrichen; ein Wort geändert.

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.
Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann was.

Komm, sieh diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut. Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Das Gedicht, Sie spüren es, vermißt die amputierten Verse keineswegs. Selbstverständlich dürfen wir nicht amputieren. Wie das poetische Konstrukt gewinnt, in eben dem Maße verliert der Autor. Seine schwachen Verse erschließen seine Person. Ohne sie verstünden wir ihn nicht. Dort, wo die Metaphorik überanstrengt, d.h. vom konkreten Wortsinn nicht gestützt ist, erkennen wir seine enttäuschte Religiosität, Gottverlassenheit; was der Verfasser glauben möchte, aber weder glauben will noch kann, das wird er poetisch nicht zur Evidenz bringen.
Wohl aber wird es seine bürgerliche Existenz determinieren. Nach allem, was wir wissen können, liebte Dr. Benn seinen Beruf nicht. Es hat ihn gegraust; der Hautarzt unter lebenswierigem Ekzem leidend. Wahrscheinlich deshalb war sein Kragen immer hochgeschlossen, seine Wohnung troglodytisch. Ekel, Ekel; Commedia dell’arte. Arzt, hilf dir selbst.
Was aber der Leib ihm sagt, das hört er nicht. Preußisch-protestantisch-kantische Pflichtethik. Sie ernährt ihren Mann und frommt der ärztlichen Charitas; den Dichter lädiert sie:

Dennoch die Schwerter halten
(– Schwerter! – im Zeitalter der Panzerketten und der Luftwaffe –)
vor die Stunde der Welt.

So spricht der Menschenfreund. Er besitzt Moralität. Moralität, nach Kant, ist pflichtgemäßes Handeln ohne Neigung, oder, noch besser, gegen sie. Der Menschenfreund ist kein Mensch, wie der Hundefreund kein Hund ist.

Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht, weil er am Leben den mindesten Geschmack findet. (Kritik der praktischen Vernunft)

Die zitierten, gewollt-erhabenen, Verse also sind sonderbarer Interferenz geschuldet: kalt konstatierende Poetik und kalt gebietende Ethik verfließen ineinander; die verschwommene Resultante besitzt weder ethische noch poetische Qualität. Erst als der Dichter darauf verzichtete, eine Neigung zur neigungsfreien Pflichterfüllung sich einreden zu wollen, hat das Tasten und Tappen ein Ziel, hat er zu sich selbst gefunden: zum Menschenfeinde.
Die Qualifikation zum Menschenfeind ist vollzogen, sobald der Menschenfreund des Treibens überdrüssig geworden ist. Das lyrische Werk bezeugt den Widerstand gegen das Taedium, welches den Dichter aus allen sechs Richtungen angähnt. Abgebrochene Gänge zu erhofften Göttern. Pochen an Goethes Tür, Kratzen an Storms Fenster. Im Café-Haus Kästner besichtigt. Am Rande der Trauerfeier für den Fürsten Kraft (– der Fürst dieser Welt –) dem Kollegen Tucholsky aus dem Nibelungen-Lied vorgelesen.
Die Adaptation der Nibelungen-Strophe war ein bedeutender, folgenreicher Griff. Eine alt-versunkene poetische Gestalt steht nur dann auf und wandelt, wenn der jüngere Dichter seinem Jahrhundert Elemente analogen Formgehalts abluchst. Gegenbeispiel: Münchhausens Balladen, diese geschminkten Zombies.

Fürst Kraft ist – liest man – gestorben:

hätte Tucholsky das Gedicht geschrieben, nur die Metrik wäre anders gewesen, ein artiges Chanson, glatt. Benn copulierte dem heroischen Vers das moderne Heldenleben; derart, mit Buster Keatons eiserner Stirn, hatte Goethe den Schlafrock des Löwenwirts im Hexameter verhandelt gehabt.
Oder: Der Sänger. Das Ich spricht zu einem Du, nämlich: die Lexik des XX. Jhs. zur Metrik des XIV. Das Gespräch vergißt die Spaltung, indem es sie definiert. Die Helden sind anonym, Du, mein alter Anonymus, Du also bist der Heros.
Der Doppelkontakt – der Fürst der Neuzeit ist in die Grube gesenkt, der Dichter der Vorzeit auf den Schild gehoben – setzt die Aventiuren des lyrischen Ichs frei. Palau; Valse triste; Schutt; Schädelstätten. Man lasse alle Hoffnung sausen, dann, eventuell, zeigt sich der Gral.
Sie werden Spuren dieser Ausschweifungen in Hermlins Balladen entdecken; die zentralen Gedichte Franz Fühmanns sind Kontrafakturen zu Benn.
Die stärkste Spur, denke ich, legte die späte Prosa; sie führt zu einem Wirklichgroßen. Der Menschenfeind – wohlgemerkt, meine Damen und Herren, wir sprechen hier nicht von einem zufälligen verdammenswürdigen Individuum, sondern von einer dichtungshistorisch definierten Spezies, Misanthropus familiaris – der Menschenfeind treibt sein Wesen im Gewusel, er kann der Menschenmasse nicht entraten. Je enger die Engnis, desto größer seine Distanz. Molieres Misanthrop ist undenkbar ohne den Salon; Schweiß und Parfüm reifen seine Suada. Privatphilosoph und Narrenhammer:

Das Geschäft, das Hochhaus, die see- und wälderzerblockende Metropole: hier hatte ich mein Leben gegründet, hier wollte ich seinen Abschluß bestimmen mit der genauen Verfügung, die Hälfte meiner Asche in den Septemberwind zu streuen und die andere in eine leere Büchse von Nescafé zu bergen.

Das Geschäft heißt Lotos, blüht in Lotosland, wird frequentiert von Lotophagen. Ein Kosmetik-Salon, Barbierstube. „Handgriffe, Lotion, Kundendienst für das psychophysische Ideal, – ganz auf der Höhe: ein vielgewanderter, selbständig gewordener Coiffeur.“ Lotos, das ist Vergessen; was macht Vergessen? –: Kosmetik. Was geschminkt werden kann, das ist nicht; eine syphilitische Nase? – nein, die haben wir nicht gesehn.

Aus ausländischen Blättern ersehe ich, schon wieder 67 Marken von verschiedenen Haar- und kosmetischen Wässern bietet eine einzige Maison, das also stirbt nicht aus, aber wenn damit Schluß ist, werden sie etwas anderes finden. Öl für Roboter oder Salbe für Leichen, – alles ist, wie es sein wird, und das Ende ist gut. (Der Ptolemäer; 1947)

Vier Jahre drauf, 1951, betrat ein Anderer die Szene, widersprach dem Menschenfeind und beerbte ihn: der Waldgänger.

Waldgänger aber nennen wir jenen, der, durch den großen Prozeß vereinzelt und heimatlos geworden, sich endlich der Vernichtung ausgeliefert sieht. Das könnte das Schicksal vieler, ja aller sein – es muß also noch eine Bestimmung hinzukommen. Diese liegt darin, daß der Waldgänger Widerstand zu leisten entschlossen ist und den, vielleicht aussichtslosen, Kampf zu führen gedenkt. Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt.

Dies, über die Schulter, ad Benn. Ein Größerer, verkündet das Traktat, werde kommen:

Vorausgeschickt sei nur, daß in der Kunst tatsächlich das Thema des umstellten Einzelnen an Raum gewinnt. Naturgemäß wird das besonders in der Menschenschilderung hervortreten, wie sie der Bühne und dem Lichtspiel zukommt, vor allem aber dem Roman. Und wirklich sehen wir die Perspektive wechseln, insofern die Schilderung der fortschreitenden oder sich zersetzenden Gesellschaft abgelöst wird durch die Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem technischen Kollektiv und seiner Welt. Indem der Autor in ihre Tiefe eindringt, wird er selbst zum Waldgänger, denn Autorschaft ist nur ein Name für Unabhängigkeit.
Von diesen Schilderungen führt eine gerade Linie zu Edgar Allan Poe. Das Außerordentliche an diesem Geist liegt an der Sparsamkeit. Wir hören das Leitmotiv, noch ehe sich der Vorhang hebt, und wissen bei den ersten Takten, daß das Schauspiel bedrohlich werden wird. Die knappen mathematischen Figuren sind zugleich Schicksalsfiguren; darauf beruht ihr unerhörter Bann. Der Malstrom, das ist der Trichter, der unwiderstehliche Sog, mit dem die Leere, das Nichts anzieht. Die Wassergrube gibt uns das Bild des Kessels, der immer dichteren Umkreisung, der Raum wird enger und drängt auf die Ratten zu. Das Pendel ist das Sinnbild der toten, meßbaren Zeit. Es ist die scharfe Sichel des Kronos, die an ihm schwingt und den Gefesselten bedroht, doch die ihn zugleich befreit, wenn er sich ihrer zu bedienen weiß.
(Der Waldgang; 12)

Ernst Jünger hat gewiß sich nicht träumen lassen, daß seine Prophetie so erfüllt werden würde, wie es dann geschehen ist. Die Spur führt vom Menschenfeind über den Waldgänger zum Einsiedel. Benn und Jünger sind konterkariert, vollendet und gerechtfertigt durch Arno Schmidt. Der Einsiedel ist kein Menschenfeind, da er ja den Menschen entkommen ist, und er ist kein Waldgänger, da er die Stabilitas loci gefunden hat.
Dies nun ist ein anderes Labyrinth; ergreifen Sie den Zipfel des Fadens:

DIE KLAUSE AM SCHAUERFELD

Wo der Einsiedel Daniel Pagenstecher das Gesamtwissen auf den Punkt versammelt hat
Denn Askesis ist die Vorbereitung des Athleten auf den Wettkampf
Wo die Ratsuchenden Wilma und Paul anklopfen
Wie die Kantone bei Nikolaus von Flüe im XV. Jahrhundert
Und E.A. Poe einschleppen, den Maalstrom Welt
Sodaß der Klausner versucht wird
Und die Hölle losbricht in Gestalt eines Jahrmarktfestes in Niedersachsen
Und wo der himmlischen Liebe Fränzchen dem Frätzchen
Die infernalische Freundin, die Christa, als Schatten am Fuß klebt
Wo der Teufel persönlich gesehen wird, herrisch, am Rande der Handlung
Im Zentrum aber der Fabel:
Regelgerecht (– so tritt der historisch verbürgte
Fürst im Roman auf).

Wovon ging die Rede? – von Gottfried Benn.

Marl Mickel, neue deutsche literatur, Heft 518, März/April 1998

Zum 70. Geburtstag

− Rundfunkinterview Hannes Borckmann mit Gottfried Benn am 30.4.1956. −

Hannes Borckmann: Wenn ich heute zu Ihnen gekommen bin, Herr Dr. Benn, an Ihrem 70. Geburtstag, so habe ich zuerst einmal unsere Glückwünsche auszusprechen, und wir haben es alle als eine Verpflichtung empfunden, dem Dichter unserer Stadt, der Weltruf hat, zum heutigen Tage unsere Wünsche zu übermitteln. Aber, Herr Doktor, auch noch etwas anderes hat mich hergetrieben. Ich will sagen, daß es vielleicht viel wichtiger ist, Herr Dr. Benn, daß wir von Ihnen, dem 70jährigen, heute erfahren, wie er nach Rückblick auf sein langes Leben, wie er die Zeit und dieses Leben ausdeutet. Zum Beispiel, Herr Doktor, ich kann mir denken, es werden sehr viele junge Menschen an Sie herantreten, Sie werden Briefe erhalten, Sie werden Gedichte zugeschickt bekommen, Sie werden sie lesen, und Sie werden oftmals gezwungen sein, Stellung zu nehmen zu dem, was die jungen Menschen auszusagen haben. Was sagen Sie, Herr Doktor, den jungen Menschen?

Gottfried Benn: Es war ja eine sehr stürmische Generation, zu der ich gehörte, eine sehr revolutionäre, und wenn ich heute auf das alles zurückblicke, dann habe ich mich ja nun schon oft gefragt: Was war eigentlich wertvoller und für den Betreffenden besser – früh zu sterben wie die meisten dieser Generation? Es war ja eine Generation, die von vornherein kein langes Leben hatte; viele sind im Krieg gefallen. Oder ist es eigentlich wertvoller, alt zu werden und sozusagen zu reifen und diese Krisen, die man mit seiner Generation mitgebracht hatte, zu einer Art klassischem Abschluß zu bringen, wie ich es versucht habe? Ich weiß nicht, wer der Glücklichere ist: der Überlebende, der alt wird und seinen siebzigsten Geburtstag feiert, oder die Jungen, die im Glanz ihrer großen Talente gestorben sind wie Heym oder Trakl. Das wäre das eine. Und was die jungen Leute angeht, die mir sehr viele Gedichte schicken, so ist es sehr schwer, da sich ein Urteil zu bilden, und ich bin furchtbar vorsichtig, denn man kann mit zwanzig Jahren sehr konventionell und sehr schlechte Gedichte machen, und wenn man reif ist oder etwas in sich hat, kann man mit fünfundzwanzig große Sachen aus sich herausschleudern. Also ich halte mich im Urteil immer sehr zurück und sage den jungen Leuten: Versuchen Sie, wie weit Sie kommen, wenn Sie in sich selber bleiben, wenn Sie nicht nach Ruhm gehen, nicht nach Erfolg. Ich habe gesehen, daß meine Generation, die Leute meiner Generation, zum Teil daran gescheitert sind, daß sie zu früh berühmt wurden. Sie waren dann von der Kritik festgelegt auf einen bestimmten Stil, und da kamen sie innerlich nicht mehr los, denn sie hätten ihren Ruhm zerbrechen müssen, den man ihnen auferlegt hat, und das konnten die meisten nicht fertig bringen. Und so sind sie alt geworden, ohne zu neuen Positionen zu kommen, ohne zu neuen inneren Krisen zu kommen. Denn die Kunst ist ja doch eine tragische Angelegenheit außerhalb jeder bürgerlichen und geisteswissenschaftlichen Funktion eigentlich, muß man immer wieder sagen. Sie ist etwas Tragisches und Revolutionäres. Manche von den Jüngeren habe ich schon an meinen Verleger verwiesen, der ja ein Spezialist für Lyrik geworden ist, der Limes-Verlag in Wiesbaden. Der gibt jetzt eine Reihe jüngerer Autoren, lyrischer Autoren raus. Da sind einige ganz nette Talente darunter. Was nun wird, weiß man natürlich nicht, und insofern helfe ich manchen jungen Leuten. Aber wenn mir einer drei Gedichte schickt, kann ich darüber natürlich nichts sagen. Ich habe übrigens ein rührendes Schreiben heute gekriegt, da schreibt eine junge Dame: „Ihre Gedichte stehen mir so nahe, daß ich sicher bin, Sie wollen auch gerne von mir welche lesen. Ich schicke Ihnen hier zehn mit.“

Borckmann: Ich bin der Meinung, Herr Doktor, so ein Gefühl muß nicht täuschen, wenn es eine echte Empfindung ist, bei dem jungen Menschen, der ihnen das schrieb, kann schon ein echter Kontakt vorhanden sein.

Benn: Übrigens möchte ich einen Spruch von Rilke dabei erwähnen. Der hat gesagt: Nichts ist für ein Gedicht wichtig: etwa einen neuen Dichter zu schaffen oder einem neuen Dichter ein Vorbild zu sein. Es muß jeder seinen eigenen Weg gehen. Ein Gedicht ist nie ein Vorbild, denn es kommt aus zu weiten Fernen und persönlichen Substanzen heraus. Es kann keine Schule machen. Es gab ja auch, alle zehn Jahre nur einen großen Lyriker in allen Ländern. In jeder Straße gibt es einen Friseur, aber es gibt nicht in jeder Straße einen Lyriker, wie man denken kann, wenn man die vielen Gedichte in den Zeitungen und den Zeitschriften liest.

Borckmann: Herr Doktor, Sie haben sicher noch Wünsche und davon sicher auch einige Wünsche, die sich auf die Jugend beziehen.

Benn: Ja, ich wünsche sehr, daß Deutschland wieder so genial wird, wie es ja zweifellos seinen Anlagen nach ist. Ich halte es für eine geniale Nation, die Deutschen, gerade was die Lyrik angeht, wie ja auch die Musik. Aber es hat nicht jede Generation das Geschenk einer neuen Sprache und eines neuen Inhalts bekommen. Meine Generation war eben dazu bestimmt, die alten Formen, die seit Goethe galten, noch bei George und Rilke waren, zu zerbrechen und eine neue Sprache zu schaffen.

Aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Band VII/1, Klett-Cotta, 2003

Das Fremde singen: Pound, Benn, Dylan

– Eröffnungsvortrag der Tagung Der Dichter und sein Schatten am 27.4.2011 in Greifswald. –

(…)

II
Mehrstimmigkeit – das einzige wirksame Gegengift gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber. Gegen Germanengequatsche.
Mehrstimmigkeit: Material aus allen Richtungen, ohne Rücksicht auf die jeweilige Provenienz. Beim Schreiben von Gedichten macht sich nicht derjenige die Finger schmutzig, der in die staubige Plattenkiste greift, sondern nur immer derjenige, der eherne Werte verkündet oder deren Verlust beklagt.
Mehrstimmigkeit auch: Wenn eine Einzelstimme vier Oktaven umfaßt und Arrangeur und Schallplattenproduzent einzelne Laute aus dem Spektrum herausgreifen und am Schneidetisch so aneinanderfügen, als mache die Stimme einen Satz vom schrillen Schrei zum tiefen Grollen. Also her mit dem Zeug:

gebt Gottesliter,
Höllenyards,
gebt Rillen
einzuhalten,
aufzuhalten
einnisten möchte man schreien –
nichts –
gebt Rillen!
1

Wie bitte?

Oder Urwald, Masse aus Saft
dunkelgrünem
unmessbar
gebt Gottesliter
Höllenyards
gebt Rillen
nichts –
Zahnräder
aus wo und wann und immer
2

Noch einmal: Wie bitte, was? Die vierte Strophe des Gedichts „Nur noch flüchtig alles“ von Gottfried Benn, samt einer Variante, entstanden am 15. März 1955.
Nur noch flüchtig alles: Ich will nicht bestreiten, daß Benns Gedichte, zumal die späten, von einer tiefen Melancholie geprägt sind – dem Dichter darum aber die Trauer um den Untergang des Abendlandes auf die Schultern zu laden, halte ich für unstatthaft, um nicht zu sagen: obszön. Gottfried Benn war entschieden ein Modedichter, war es von Anfang an, er hielt das Ohr am Puls der Zeit, begierig, Modeströmungen aufzunehmen, aufzugreifen und in Gedichte einfließen zu lassen, die gegenwartsbezogene, gegenwärtige, akute Gedichte sein sollten.
Gottfried Benns Gedichte: das jeweils großgeschriebene JETZT, und nicht die ,große Ewigkeit‘. Nur so läßt sich sein sensationeller Erfolg der letzten Lebensjahre erklären, immer auf „Tournéen“, „u las vor u. sang meine Arien“, wie er am 5. Januar 1955 an Thea Sternheim schreibt.3 Mit welcher Wucht er, der annähernd Siebzigjährige, mit seinen Gedichten und öffentlichen Auftritten die Altväterlichkeit der Jungen aushebelt, läßt sich an einem Bericht ablesen, den Thea Sternheim Ende November 1955 vom Limes-Verlag erhält – hier ein längeres Zitat daraus:

Am 15. war Benn dann schon wieder in Köln, wo er im NWDR mit Reinhold Schneider diskutierte. Thema: Soll die Dichtung das Leben bessern? Über 300 Leute in einem für 160 berechneten Saal. Zunächst je ein Referat von Benn und Schneider, die einander sehr sympathisch sind, anschliessend öffentliche Diskussion, die teilweise recht komisch gewesen sein muss. Unter anderem trat Heinrich Böll auf – ich weiss nicht, ob Sie den Namen kennen, er hat hier grossen Erfolg […] –, der langatmig erklärte, der christliche Dichter habe es ja wesentlich schwerer als der nicht glaubensmäßig gebundene, einerseits wolle er das Kunstwerk, andererseits aber habe er die ungeheure Belastung im Rücken, dass das Neue Testament über Kunst nicht aussagt, ohne sie auskommt; das Überwinden dieser Diskrepanz sei ein so tragisches Unterfangen. Benn fragte nur: Warum lassen Sie das Schreiben nicht, wenn es sie so bedrückt? Böll war zunächst sprachlos und begann dann, aus Thomas v. Aquin vorzulesen, worauf man ihn schleunigst aus der Diskussion zog.4

Soweit die rasende Reporterin Marguerite Schlüter vom Limes-Verlag, die noch die Mitteilung folgen läßt: „werden wir zum 70. Geburtstag eine Langspielplatte machen lassen“.5 – Eine befreiende, aber im Rückblick doch auch erschütternde Momentaufnahme, es handelt sich um Benns letzten öffentlichen Auftritt, und wir alle wissen ja, welche Literaturauffassung die folgenden Jahrzehnte in Westdeutschland beherrschen soll – das schöne alte SCHÖNE WAHRE GUTE, in welcher Gestalt und mit welcher Stoßrichtung auch immer, und im Osten dasselbe minus Thomas von Aquin.

gebt Gottesliter,
Höllenyards,
gebt Rillen

… werden wir eine Langspielplatte machen lassen…

einzuhalten,
aufzuhalten
einnisten möchte man schreien –
nichts –
gebt Rillen!

… der langatmig erklärte, der christliche Dichter habe es ja wesentlich schwerer als der nicht glaubensmäßig gebundene…

gebt Gottesliter,
Höllenyards,

Vor einigen Jahren habe ich die merkwürdige „Rillen“-Strophe aus Benns „Nur noch flüchtig alles“ einmal bei einer Veranstaltung an der Universität in Weimar in die Diskussion geworfen, und es fiel den anwesenden Literaturwissenschaftlern sichtlich schwer, die erratischen „Rillen“ nicht als ehernes Dichterwort zu deuten, die „Rillen“ unter welchen Verrenkungen auch immer in einen Sinnzusammenhang des Gesamtgedichts einzupassen. Mein Vorschlag, sie, die „Rillen“ als eine allzu wörtliche Übertragung Benns aus dem Englischen aufzufassen, wurde zwar zur Kenntnis genommen – doch nur, um alle literaturwissenschaftliche Energie dagegen aufzubieten. Und das trotz der Unzahl großartiger – ich betone: großartiger – Englischfehler und Englischbastardisierungen in den späten Gedichten von Gottfried Benn. Mit den „Rillen“ können natürlich die zwei Rillen einer Schallplatte gemeint sein, doch die Aufforderung „gebt Rillen!“ scheint mir doch eher darauf hinzudeuten, daß Benn im Jazz- oder Blueszusammenhang eine Formulierung wie ,give the groove‘, ,groove it‘ oder ,let’s groove‘ gehört haben könnte, also die Aufforderung eines Bandleaders oder Sängers an die Band, mit dem Spielen zu beginnen, um dann im Wörterbuch unter ,groove‘ nachzuschlagen – und Benns Englischwörterbuch heißt ja meistens ,Oelze‘ oder ,Ilse‘ oder ,verschwiegene junge Dame‘ –, wo er auf die wörtliche Bedeutung von ,groove‘, nämlich ,Rille‘, gestoßen sein dürfte – was mit der Slangphrase ,let’s groove‘ nur sehr entfernt zu tun hat. An anderer Stelle, im Gedicht „Destille“, heißt es bei Benn im Tanzmusikzusammenhang: „ewig Rhythmenschübe“6 – das trifft den Groove schon besser.
Und um welchen Groove, um welche „Rillen“, welche „Höllenyards“ und welchen „Urwald“, welche „Masse aus Saft“ könnte es sich in „Nur noch flüchtig alles“ genauer handeln? Könnte man den Gedichttitel nicht auch einmal weniger im Sinne eines ,wehmütigen Abschieds vom klassischen Abendland‘ lesen, sondern schlichter auf flüchtige Medienkontakte, auf den Kontakt mit als flüchtig erachteten Medien beziehen?
„Nur noch flüchtig alles – nun die Anden“, schreibt Benn im März 1955. Die erste Hälfte der fünfziger Jahre führt mit Korea-Krise und Indochina-Krise, mit fanatischer Kommunistenfurcht und der täglichen Furcht vor dem Dritten Weltkrieg, der ein Atomkrieg sein und zweifellos einen ,Großteil der Menschheit‘, also die Europäer, auslöschen wird, sowie mit dem Bewußtsein, daß die Kolonialzeit nun langsam zu Ende geht – Ezra Pound hätte sich da, „Marokkaner und anderer Abschaum“, gut noch einmal als Propagandadichter für einige europäische Regierungen verdingen können –, die erste Hälfte der fünfziger Jahre führt in der westlichen Welt zur dritten – oder siebten, oder zwölften – großen Exotik-Welle: Daß die in Musik, im Film und auf den Bühnen präsentierten exotischen Medienwelten natürlich alles andere als ,authentisch‘ sind, ist gar nicht zu bedauern, im Gegenteil: Das exotische Ägypten, das exotische Mexiko, die exotische Karibik und so weiter sind entweder artifiziell, oder sie sind gar nicht.
Zu behaupten, Benn habe Zeit seines Lebens etwas für die Exotik übrig gehabt, für dieses nach immer dem gleichen Rezept hergestellte Gebräu aus Ethnologie plus Hollywood plus Südfrucht plus leicht bekleidete Dame, hieße gehörig untertreiben – oder: Schrumpfköpfe zum Sonnengott tragen.
Die Südsee, Josephine Baker, das Bananen-, yes, Bananenröckchen. Überhaupt: Benns Obst- und Gemüsestand wäre, wie Rilkes Obst- und Gemüsestand7 – „Banane – Ich ohne“ –, einmal einer ernsthaften Untersuchung wert. Dann tritt – wie Gedichte brauchen auch Exotica immer einen Rest Geheimnis – Carmen Miranda auf. Schon folgen Thor Heyerdahl, Kon Tiki, Polynesien, Hawaii, der Voodoo, die Kannibalen, der Mambo, „Lotosland“ als erste Abschnittüberschrift des Ptolemäer und als hundertfach aufgenommenes Exotica-Paradestück: „Nur noch flüchtig alles – nun die Anden“…
Bei der schillerndsten Figur der Exotik-Welle in den Fünfzigern, so heißt es seinerzeit, handele es sich um eine echte Nachfahrin eines Inka-Königs, sie sei gewissermaßen direkt aus den Anden ins Tonstudio in Los Angeles gekommen, und der Exotica-König Les Baxter wird es einmal im Interview bestätigen – ob man allerdings einem Les Baxter Glauben schenken sollte, der auf seinen Plattenhüllen als weltreisender Musikethnologe gepriesen wird, obwohl er später bekennt, er habe Los Angeles kaum je verlassen, und seine exotischen Musikwelten seien allesamt in seinem Kopf antstanden8 … Andere behaupten, die Sängerin stamme aus Brooklyn oder aus Harlem und habe ihren tatsächlichen Namen, Amy Camus, nur in anagrammatischer Verwandlung exotischer gemacht, was aber dem Erfolg ihrer seit 1950 erscheinenden Alben nicht schadet, The Voice of the Xtabay, Legend of the Sun Virgin, Mambo!, Legend of the Jivaro – der Leser weiß bereits, auf wen ich abziele: auf die Andenprinzessin Yma Sumac, deren Stimmenumfang vier Oktaven umfaßt, auch wenn die Sprünge vom tiefen Grollen zum schrillen Schrei das Ergebnis minutiöser Arbeit am Schneidetisch sind. Sei’s drum –

gebt Gottesliter,
Höllenyards,
gebt Rillen

Oder Urwald, Masse aus Saft
dunkelgrünem
unmessbar

– nun die Anden

Ein Siebzigjähriger, der Yma Sumac hört? – Ganz gleich, ob dies den Tatsachen entspricht, das Bild, die Vorstellung allein genügt, um sich klar zu machen, welch tiefe Kluft zwischen Gottfried Benn und dem abstrusen, schrumpfgermanenhaften Tiefsinnsgestotter im Nachkriegsdeutschland herrscht, das er zum Beispiel im Kölner Sendesaal zu hören bekommt. Wenn man die Wahl hat zwischen der vor dem Hintergrund der zurückliegenden zwölf Jahre rundweg verlogenen Beschwörung des christlichen Abendlands und der rundweg verlogenen Inszenierung einer jungen Sängerin, die hinter einem Kannibalenkessel hockt, über dem ein handelsüblicher Schrumpfkopf aus Plastik schwebt – wer würde sich da nicht für Yma Sumac entscheiden?
Es geht mir auch gar nicht darum, in den Gedichten Benns hieb- und stichfest Verweise auf konkrete Anden-Exotica oder auf eine konkrete Sängerin aufzuspüren – schließlich ist diese Mood-Music mit riesigen Streichorchestern und Marimbas und Bongos und ,Urwaldflöten‘ selbst dezidiert darauf ausgerichtet, eine akustische Tapete zu bilden, einen weichgezeichneten Hintergrundklang, aus dem das Individuum – als Sänger oder Instrumentalist – nur selten namentlich hervortritt. Wenn überhaupt jemand im Zentrum steht, seinen Namen gibt, sei es Les Baxter, sei es Martin Denny oder Esquivel, dann ist es der Arrangeur, der mit Geschick und ,Geschmack‘ vorfabrizierte musikkulturelle Versatzstücke miteinander verknüpft und ausgestaltet – ein im Grunde ganz ähnliches Konzept wie bei Benn, wenn er in seiner modifizierend zitierenden Arbeitsweise aus Fremdmaterial ,echten Benn‘ werden läßt.
Bereits im Juni 1950 übrigens hat Gottfried Benn das perfekte Porträt eines typischen Exotica-Konsumenten geschrieben, der sich ,die große Welt da draußen‘ frei Haus liefern läßt und von Lied zu Lied, oder von Gedichtstrophe zu Gedichtstrophe, vorfabrizierte ,Eindrücke‘ aus einer Wildnis namens Havanna oder einer Metropole namens New York aneinanderreiht, zu einem schwindelerregenden Panorama aus Wüste und Wunder und Hibiskus und Manna kompiliert, ohne daß sein ,lch‘ dazu die heimische Couch oder die Boxerkneipe um die Ecke verlassen müßte.

REISEN

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofsstraßen und rue’en,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den fifth avenue’en
fällt Sie die Leere an –

ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.
9

… „selbst auf den fifth avenue’en“: großartig, wie sich hier der traditionsgemäß mit einem Einschlag ins Französische parlierende Preuße der Neuen Welt zuwendet. Ein Glück für uns, daß sich seinerzeit die Reihe Das literarische Archiv der Deutschen Grammophon Gesellschaft der „große[n] und dankbare[n] Aufgabe“ stellte, wie es im Klappentext der LP mit Benn-Gedichten heißt, „dem von ersten Interpreten gesprochenen Dichterwort gleiches Heimatrecht auf der Schallplatte [zu] verschaffen, wie es die Musik längst besitzt“.10 – ,Gleiches Heimatrecht‘, das klingt nach gefühltem Ostpreußen plus Schwarzwaldstube, Deutschordens-Exotica – dagegen Benn: „Boulevards, Lidos, Laan“: großartig! Aber: Was bedeutet das letzte Wort eigentlich? Irgendwas mit ,Straße‘, wie der Zusammenhang nahelegt – könnte es sich bei „Laan“ um einen selbstgebastelten Plural zur englischen ,Lone‘ handeln?
Sicher, Benn ist auch schon früher – in einem Fragment zum Hindemith-Oratorium „Das Unaufhörliche“ – nicht davor zurückgeschreckt, „Ohre“ auf „nevermore“11zu reimen. Mit Beginn der fünfziger Jahre aber stellt er sich mutig den sprachlichen und musikalischen Herausforderungen, die seit dem 10. Juli 1943 nach und nach Richtung Norden gewandert sind: der US-Populärkultur, oder, genauer: einem Gemenge von Kulturen und kulturellen Versatzstücken, in dem Kaukasier wie Benn oder Pound nur eine Stimme unter vielen darstellen. „Was schlimm ist [//] Wenn man kein Englisch kann“:12 Gewiß. Aber Ezra Pound konnte Englisch – und wollte es nicht mehr können, sobald er sich mit „marocchini ed altra immondizia“ konfrontiert sah.
Eine (Befreiung, eine Sprach- und Kulturbefreiung, von der sich Europa zum Glück, zum Glück für uns alle, nicht wieder ,erholen‘ wird: Um nachzuvollziehen, mit welcher Vehemenz, mit welchem Mutwillen Gottfried Benn sich aneignet, was er eingestandenermaßen nicht versteht, lohnt es sich, seine späten Gedichtbände in ihrer ursprünglichen Gestalt in die Hand zu nehmen. Hier, Fragmente, 1951, das Eröffnungsgedicht, Seite 5: „Du übersiehst dich nicht –“, und gleich die zweite Strophe lautet:

Was hängen nun die Girlanden,
was strömt nun das Klavier,
was zischen die Jazz und die Banden,
wenn alle Abende landen
so abgebrochen in dir?13

DIE Jazz! Die BANDEN! – Doch vermutlich wieder so ein selbstgebildeter Plural – zu Bands? Dann: „Negerspirituals“ (im Titelgedicht „Fragmente“14), dann die Exotica-Ingredienzien „Totemtier“ und „formaler Priapismus“ („Satzbau“15), dann reimt sich „die Coca-Cola-Industrie“ auf „und ist musikalisch in einer anderen Melodie“ („Restaurant“16), dann „Samba“ – „oder die Lieder vom Ohio“ („Begegnungen“17), dann – wie eben zitiert – „ewiges Manna“ „aus Habana“ „für Ihre Wüstennot“ – Moment mal: Kuba? Wüste? Eine klassische Exotica-Überlagerung, entschieden nichts für Geographen, nichts für Ethnologen: Auf einem gemalten oder photographierten oder akustischen Bild hat alles Platz, was sich unter ,fremd und verführerisch‘ fassen läßt.
Den totalen Englisch-Flash gönnt Benn sich – mit „Lady“ und „Blues“ und „Jitterbug“ und „Bathdreß“ und „Stories“ und „big red room“ – im Teil IV seines Gedichts „Spät“18, den er interessanterweise bei der Zusammenstellung des Bandes Destillationen ausscheidet und der zu seinen Lebzeiten nur einmal gedruckt wird: Lustigerweise auf Seite 3 der 1951 erschienenen zweiten Nummer von Das literarische Deutschland. Zeitung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Selige Zeiten, als sich noch nicht einmal die obersten Sprachhüter der Republik in panischen Abwehrschlachten gegen das Denglische aufrieben – oder nahm man Benns US-Kauderwelsch, Benns Sklavensprachenzitate zähneknirschend in Kauf, um damit zu signalisieren, man sei Amerika-freundlich eingestellt, man sei – McCarthy-Ära – auf keinen Fall Kommunist?
„Die neuen sogenannten Gedichte sind ja wohl alle eines Akademikers u. Olympiers unwürdig“, schreibt Benn am 27. Juni 1950 an Oelze: „Aber Sie wissen, wie sehr ich die Unwürde liebe.“19Können wir das bitte einmal ernstnehmen? Ein Akademiker, der seine Freude an Benns Vorstößen in die Beat Poetry hätte, wäre vielleicht der „Professor Bop“ von Babs Gonzales.
Aber Gottfried Benn hätte ja gar nicht erst zum Beat, zum Bebopper, zum Doctor Bop werden müssen – die deutschen Kulturträger nahmen ihn längst als solchen wahr. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jedenfalls wird er als ,Jazznigger‘ geführt, wenn auch selbstverständlich nicht unter diesem Begriff, nachdem das Wort ,Niggerjazz‘ zwischen 1933 und 1945 einen ,schlechten Klang‘ bekommen hat. Nein, der Kritiker Gerhard Nebel weiß seine Worte zu wählen und spricht von „den von Gottfried Benn in wildem Saxophongenösel beschworenen Epiphanien der Öde“20: Nur ein kleiner Schlenker in einem Haßartikel auf Thomas Mann – soviel zum Thema ,Würde 1950‘.
,Wildes Saxophongenäsel‘ – darauf antwortet Benn, der alte Hipster, ziemlich cool – und das bedeutet: nicht so leicht aus der Reserve zu locken – mit einem astreinen Cowboy-und-Indianer-Gedicht, das er seinem Brieffreund Oelze schickt, um die klandestine Widmung ergänzt: „Gewissen Kritikern…“
Sein Titel lautet „Auf -!“ – und man kann ihn als Trappersignal deuten, endlich mit der Herde aufzubrechen. Zugleich signalisiert die Überschrift ein Lob- oder Spottgedicht, anstelle des Gedankenstriches wäre ein Name einzusetzen, in diesem Fall Gerhard Nebel. Einer der tonangebenden Kritiker der jungen Bundesrepublik wird in einem Western-Gedicht verewigt – keine schlechte Volte.

AUF-!

Auf – drüben in den Weiden,
da will ein Gauch, ein Gang
uns das Geschäft verleiden
und unseren Rundgesang.

Da steht ein Unbekannter,
der wittert jeden Wind,
es ist ein schwarzer Panther,
der schlägt das Rind.

Sechs Büchsen und vier Panzer –
das Fell vors Vertiko –:
nun sind die guten Pflanzer
im Blockhaus wieder froh.
21

Gangster, Panzer, Kalter Krieg und Western-Idylle, der aus seinem US-amerikanischen Exil entschieden nicht nach Deutschland zurückgekehrte Thomas Mann und die allzeit schußbereiten deutschen Landser, Kritiker, Pflanzer: Das kommt von Benn treffsicher und elegant zugleich aus der Hüfte geschossen, als extemporiere er seine Schmähverse an einer Straßenecke in Harlem, wo man halt weiß, wie man die Dirty Dozens zu spielen hat.

(…)

Marcel Beyer, aus Uta Degner und Elisabetta Mengaldo (Hrsg.): Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik, Fink, 2014

Artistik und Existenz

Darmstadt ist der Ort, wo noch die größten Gegensätze der deutschsprachigen Literatur eines Tages zusammenfinden. Anlaß ist die alljährliche Verleihung des Büchner-Preises, einer Auszeichnung, der sich noch keiner, dem sie widerfuhr, entzogen hat. Auch nicht die beiden Dichter, um deren Darmstädter Auftritte es im folgenden geht. Jeder, dem das Gedicht als lebendiges Zeugnis und nicht nur totes Schmuckstück etwas bedeutet, kennt die Namen. Leben und Werk der beiden sind geradezu porentief erforscht. Man wird über Gottfried Benn und Paul Celan stapelweise Monographien finden, und bis zum letzten Liebesbrief und handschriftlichen Zettelchen ist alles kommentiert und gedeutet. Ungewöhnlich ist eigentlich nur, die beiden in einem Atemzug zu nennen. Mir ist klar, daß damit ein Geschmack verletzt wird: Allein ihre Gegenüberstellung ist eine bodenlose Provokation.
Denn es gibt im zwanzigsten Jahrhundert keinen Dichtersolitär, der einmal so umzankt, in linken wie rechten und streng religiösen Kreisen so verteufelt gewesen wäre wie Benn, Immoralist und Schockästhetiker für die einen, den anderen Fabrikant lyrischer Blümchentapeten. Und es gibt nicht leicht ein so eifersüchtig gehütetes Terrain wie die Lyrik von Paul Celan – die eigentlich nur Kabbalisten und Kryptologen zusteht. Zu meiner Schande muß ich gestehen: Ich habe bis heute Schwierigkeiten mit der Betonung des Namens. Heißt es nun Celan (gesprochen wie W-Lan), oder sagt man Celan, wie man Elan sagt, nach dem französischen Wort für Schwung und Begeisterung? Ich habe mich dann belehren lassen, der Mann hieß Celan, so bestimmte er es selbst.
Im Falle Benns ist die Sache einfacher, obgleich es namenskundlich in den braunen dreißiger Jahren einige Irritationen gab. Einem Denunzianten war offenbar die Karl-May-Leserphantasie durchgegangen. Der Dichter sollte beweisen, daß seine Altvorderen nicht aus dem Orient stammten. „Jedenfalls hat der Name Benn mit der hebräischen Silbe ben (Sohn) überhaupt nichts zu tun…“, schloß er verärgert, aber auch ein wenig beflissen, seinen essayistischen Ariernachweis. Deutsche Geschichte – eine Peinlichkeit für alle Betroffenen.

Zunächst also die „Daten“. Der eine ist 65 Jahre alt, als er den Preis 1951 erhält, der andere 40, als er ihn 1960 bekommt. Dieser überstand die Hitlerherrschaft, der er anfangs noch akklamiert hatte, ehe der Ekel ihn packte, als Chamäleon in der Uniform eines Wehrmachtsarztes. Die Eltern des anderen kamen 1942 in einem deutschen Konzentrationslager im besetzten Rumänien um, die Mutter, wie man weiß, durch Genickschuß. Mosaischen Glaubens der eine, vielsprachig, in Czernowitz, Bukowina (heute Ukraine), aufgewachsen und gelegentlich dort auch zur Synagoge gegangen, der andere Sohn eines protestantischen Pastors im Brandenburger Land.
Beide waren sie, in einer seltenen, von heute aus nur mehr dramatisch zu nennenden Weise an die deutsche Sprache gebunden – eine Sprache, der Benn seinen erkennbar scharfen Akzent verlieh und Celan etwas, das er in der Darmstädter Rede für sich den Akut nannte. Ein Betonungszeichen, das die steigende Stimmführung anzeigt wie der Accent aigu – es lohnt sich, den Hinweis ernst zu nehmen.

Ich setze – mir bleibt keine andere Wahl –, ich setze den Akut.

Das hörte sich damals rätselvoller an, als es ist. War der Akut nicht zuallererst dies betonte é im Namen Celan? Der Dichter gab also damit doch nur seinen Eintritt in die deutsche Literatur bekannt. Er deutete an, daß er von nun an nicht mehr zu weichen gedachte:

ich setze den Akut.

Und der Coup, so verschlüsselt wie offen angekündigt, ist ihm gelungen. Nicht viel wird bleiben von der Dichtung jenes Wahnsinnsjahrhunderts, aber gewiß doch einiges von Benn und Celan.
Von Antipoden zu sprechen fällt leicht, allzu ungleich sind diese beiden Protagonisten deutscher Poesie. Auch kamen sie nie miteinander in Berührung, der eine bleibt, vom anderen aus betrachtet, Australier. Es gibt in der umfangreichen Korrespondenz Benns nicht einen Hinweis auf das Werk des Jüngeren, von dem bis zu Benns Tod immerhin schon die Bände Mohn und Gedächtnis und Von Schwelle zu Schwelle erschienen waren. Celan dagegen äußert sich deutlich, man kam damals an Benn nicht vorbei. In den Notizen zur Büchner-Preis-Rede findet sich einiges, und schon die Rede zum Bremer Literaturpreis hatte sich gegen Benns monologische Kunst gerichtet. Celan stößt sich auch daran, daß Gedichte neuerdings gemacht werden, wie Benn es in seinem Vortrag Probleme der Lyrik dekretiert hatte. Er denkt nicht einen Augenblick an Handwerkliches, sondern kommt von der Mache sogleich auf die Machenschaft. Über den weltmännischen Zug in der Lyrik des Älteren kann er, der Vielsprachige und heimatlose Europäer, nur lachen:

Felice notte! Dichtet unser so wohltuend widerspruchsvoller Gott. Benn

Widerspruchsvoll ist ein Pluspunkt für Benn, weit ernster fällt aber die Abrechnung mit seiner historischen Rolle aus. Daß Benn den moralisch Indifferenten spielte, verübelt er ihm; da blitzt es aus ihm heraus:

Überstehn ist alles – nein, es ist nicht alles; nein, überleben ist unanständig, man muß, als Überlebender, erst recht um sein Leben schreiben… von der Artistik ist es nur ein Schritt zur posthumen Beschönigung. (Notiz, 30.5.1960)

Der Ausdruck Antipoden führt also, wie man sieht, in größte Erklärungsnot. Denn was hatten sie beide, werktechnisch betrachtet, schon miteinander zu schaffen – außer, daß man sich gelegentlich in einem Wort traf, im Vers nämlich, wo solche Treffer sofort ins Auge fallen. Um so mehr erstaunt nun, daß ihre Darmstädter Preisreden sich in mehreren Punkten berühren.
Die Kunst, sagt Celan; das Mysterium der Kunst, sagt Benn. „Die Kunst, das ist“ – und damit bricht, kaum begonnen, Celans Definition auch schon ab. Bis zuletzt wird sie, in unzähligen Anläufen, zu keiner eindeutigen Bestimmung geführt, nur immer weiter und weiter umkreist. Man hat den Eindruck, daß eben darin das Betriebsgeheimnis dieser Rede lag, die tatsächlich etwas Beunruhigendes und Vexatorisches hatte, in ihren schwebenden Andeutungen, ihrer quälenden Repetition.
„Die Kunst“ – ist der Auftakt, ein Anfangsakkord. Allein auf der ersten Seite kehrt das Wort elfmal wieder, im ganzen vierunddreißigmal. Ich stelle mir vor, wie das Publikum jedesmal zusammenzuckte. Der Peitschenknall eines Dompteurs hat die gleiche Wirkung: Dagegen stand die weiche, hohe Kantorstimme des Vortragenden. Die Wiederholung schafft aber auch den verblüffenden Effekt einer völligen Sinnentleerung. Das Wort wird bis auf den Knochen abgeschabt, bis nur die reine – übrigens immer schon etwas streng klingende – deutsche Silbe übrigbleibt: Kunst.
Hier zeigt sich einer der verborgenen Aspekte in Celans Werk, sein Hang zur konkreten, zur Lautpoesie. Und von Anfang an wird der Finger in eine Wunde gelegt. Was, wenn in aller Kunst, Literatur im besonderen, ein Mechanismus steckt, der den Menschen verleugnet, ihn in eine Puppe verwandelt oder zum Schauspieler macht? Büchners Verdacht, an Lenz vorgeführt, an Woyzeck, Leonce und Lena und den Figuren der Französischen Revolution, traf das Automatenhafte der Kunst, das Motiv findet sich in jedem seiner Stücke, und Celan folgt dieser Spur. Benn sieht in der Kunst dagegen das Verhängnis, ein Diktat höherer Mächte. Er spricht von Blut und Opfern, die ihr dargebracht werden müssen, von Wahnsinn und Blindheit und Verdammnis. Er träumt ganz klassisch noch von Vollendung.
Und noch eins fällt auf: In dem Augenblick, da Celan auf das Gedicht zu sprechen kommt und Gedanken entwickelt, die mit der „Atemwende“ seiner eigenen Poetik einhergehen, sind die Kunst, dieser nervige Einsilber, und sein aufdringliches Staccato plötzlich verschwunden. Zweimal nur kehrt sie zurück, schon bezwungen, unschädlich gemacht, ein böser Kasper, der hinter die Kulissen eines Puppentheaters versinkt, während an seiner Statt sich, im schlichten Kleid, schüchtern, das neue, wahrhaftige Gedicht ankündigt, ein Wesen wie die Gänsemagd oder das Aschenputtel. „Das Gedicht“, so die vielkommentierte Stelle, „wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen.“ Gesucht wurde ein Wahres, Sterbliches, etwas, das alle Artistik und alles Kunstpriestertum hinter sich läßt. Das Mißverständnis wollte es, daß gerade ihm dann das Etikett ,hermetische Dichtung‘ angeklebt wurde.
Man kann sich nun fragen, ob Benn nicht Ähnliches vorschwebte, als er in späteren Jahren vom Nicht-Gedicht sprach, aus einer Abneigung gegen das idealistische, erhabene, seraphische Gedicht. Der Unterschied liegt wohl eher, bei aller Herkunftsferne der beiden Preisträger, im Blick auf das eigene Werk. Hier der zögernde, alles andere als offensive Vorausgriff auf ein noch namenloses Schreiben – und da die lapidare Lebensbilanz.
Gottfried Benn, der große Provokateur, hat in Darmstadt eine Sonntagsrede gehalten. Zur Zeit der Preisentgegennahme empfand er sich bereits als Fossil: als einen der letzten Überlebenden aus der literarischen Generation der Expressionisten. Ein anderer aus der Truppe, der im Saal anwesende Schriftsteller Kasimir Edschmid, wird wie ein alter Kamerad öffentlich begrüßt. Es muß der persönlichste Moment des ganzen Festakts gewesen sein. Sonst bleibt die Rede betont nüchtern und comme il faut, sie ist kaum mehr als ein Grußwort, vom Pflichtgefühl diktiert. Wer ein Geschenk erhält, soll sich artig bedanken. Man sieht ihn förmlich am Schreibtisch seiner Berliner Arztpraxis die paar Zeilen zusammenkratzen, das ist er dem Anlaß schuldig. Er tut es, wie er dem Brieffreund Oelze mitteilt, „um der Akademie etwas Auftrieb zu geben“. Gleichzeitig bittet er ihn, der Feier fernzubleiben.

Lohnt auch nicht, ist doch nur Staffage…

Vielfach sind Dankesreden ja doch nur Rhetorikübungen, etwas verschwitzte, gravitätische Angelegenheiten, das Genre verdirbt leicht den Stil. Einmal aber weicht der Redner vom Protokoll ab und rauscht durch die Decke:

Wir rühren an das Mysterium der Kunst, ihre Herkunft, ihr Leben unter den Fittichen der Dämonen. Die Dämonen fragen nicht nach Anstand und Gepflegtheit der Sitte, ihre schwer erbeutete Nahrung sind Tränen, Asphodelen und Blut.

Dämonische Kräfte also: Man fragt sich, welche Dämonen da wohl gemeint sein mochten? (Sokrates sprach vom eigenen Dämon, der dem Menschen zum Schicksal wird, man könnte auch sagen: sein persönlicher Quälgeist. Es gibt ihn bei Milton und Goethe, es gibt ihn bei Puschkin und, am eindrucksvollsten, bei Lermontow, wo es heißt:

Und die Muse der sanften Inspiration
Fürchtet sich vor seinen unterirdischen Augen.

Hier aber dürften noch andere Kräfte im Spiel gewesen sein.) Unwillkürlich kam mir dazu ein Bild in den Sinn, ich sah es einmal in einer Berliner Zeitung. Es war kurz nach dem Mauerfall, als Archäologen auf dem ehemaligen Niemandsland rund um den Potsdamer Platz nach den Resten des sagenumwobenen Führerbunkers suchten. Das einzige, was man fand, waren die unterirdischen Räume der Wachmannschaften, sie standen zum Teil unter Wasser. In einem davon wurde ein Wandgemälde entdeckt. Ein amateurhafter Freskenmaler hatte in schneidiger Symbolik dort ein paar Todesengel verewigt. Es waren keine etruskischen Flügeldämonen, sondern junge Männer in SS-Uniform, aus deren Schultern grotesk ein paar lang herabhängende, sichelförmige Flügel wuchsen. Auch Gottfried Benn ist ihnen begegnet, nachts auf einem Bahnsteig in Polen. In seiner Selbstdarstellung mit dem Titel Doppelleben beschreibt er eine Szene vom November 1944: Er ist dienstlich unterwegs von seinem Quartier in Landsberg an der Warthe nach Berlin, ins Oberkommando der Wehrmacht. Auf dem Abfahrtsbahnhof besteigt er einen Zug aus dem Osten, da pfeift ihn ein SS-Mann zurück.

Ich verstehe nicht. Er meldet, es ist der Zug aus dem Führerhauptquartier nur für Herren höchster Stäbe. Ich begreife, in meiner Aktentasche könnte sehr wohl eine Eierhandgranate sein. Ich steige in den nächsten Zug, d.h. quetsche mich in eine Toilette 3. Klasse, ich in Oberstenuniform, zwischen Ostarbeiter.

Ich frage mich, was Celan, er war damals vierundzwanzig Jahre alt, um dieselbe Zeit, im letzten Kriegswinter, in Czernowitz tat. Ging er mit hochgeschlagenem Mantel umher, ein aus dem Arbeitslager Entlassener, in der mittlerweile wieder von der Wehrmacht geräumten Stadt? Man weiß, er studierte damals Anglistik, arbeitete als Arzthelfer an einer psychiatrischen Klinik, unterm Schutz der Roten Armee, die an Judenverfolgungen kein Interesse hatte. Da waren der Vater und die über alles geliebte Mutter schon seit zwei Jahren tot.

Man kann verstehen, wie sich von hier aus ein Graben auftut – der Abgrund zwischen Artistik und Existenz. Oder, um es in den Begriffen der beiden Dichter fortzusetzen: zwischen Ausdruckskunst und Askese. Dies ist nicht der Moment, Politiken der Poesie gegeneinander abzuwägen. Wenn das moderne Gedicht sich von allen Zumutungen erbaulicher Sinnproduktion emanzipiert hat, dann doch in sehr verschiedene Richtungen. Die Dichter pfeifen auf Popularität, sie wollen nicht mehr, wie Ossip Mandelstam sagte, „Lieferanten von Bedeutungs-Konfektion“ sein. Gerade darum aber wurden ihre neuen Programme mit solcher Unbedingtheit entwickelt, daß sie sich schließlich unversöhnlich gegenüberstanden. Wer wagte zu entscheiden, welches denn nun das wahre Abzeichen der Geschichte im Gedicht ist – eher dies, ein Gebilde aus kunstvoll verfugten Ton- und Bildreizen zu sein, ein reiner Wortkristall, oder statt dessen gleichsam ein Stück vom eigenen Körper, so kreatürlich wie ein abgeschnittener, krummer Fingernagel?
„Dämonen“, sagt Benn, aber Celan will es genauer wissen, er spricht in der Büchner-Preis-Rede vom „Datum“. Aus der Sicht der Poesie ist dies eher ein blasser Ausdruck, im Kontext von Leben und Werk jedoch ein Ein-und-Alles, ein Wahrheitsmoment. Nicht nur, daß Celan Gedichte, zur Freude der Forscher, stets korrekt datierte, er glaubte auch an die historische Aussagekraft des einzelnen Datums. So war bei ihm, lesen wir, schließlich alles Schreiben auf jenen „20. Jänner“ hin ausgerichtet, den auch die Rede mehrfach zur Sprache bringt. Es blieb nicht bei der üblichen Anspielung auf Büchners Novelle und jenen Jakob Michael Reinhold Lenz, der „den 20. Jänner durchs Gebirg ging“, sondern hier konnte ein feines Ohr schon damals ein anderes Datum heraushören. Im selben Jahr, als Celan den Preis erhält, wird Adolf Eichmann in Argentinien von den Israelis gefaßt. Kein Zufall: Der „20. Jänner“ war auch das Datum der Wannsee-Konferenz (1942), die für Familie Antschel, so der Geburtsname des Dichters, zum Schicksal wurde. Celan gehört zu den intrikaten Dichtern, bei denen alles mit allem verbunden ist. Das Gedicht hängt mit sämtlichen Fasern am Leben des Dichters, Rekursion ist seine Regel, ein fürchterliches Gesetz, das noch im Verfolgungswahn nichts als die eigenen Prognosen bestätigt findet.
Im selben Jahr war die sogenannte Goll-Affäre ins Rollen gekommen. Celan, der sich von vielen Seiten verleumdet sah, argwöhnte später, der Büchner-Preis sei eine Art Ablaßhandel gewesen, ein Alibi, um ihn danach „um so besser heruntermachen zu können“, schrieb er an einen Freund. Die Preisrede läßt sich auch als Verteidigungsschrift lesen, darin liegt ihre noch heute spürbare Spannung. Hier spricht kein selbstzufriedener Autor, aus der Höhe des Alters und seiner unumstrittenen Verdienste, man hört aus den Sätzen eher den Atem des gejagten Wildes. Daher das Abgehackte, Gehetzte, das sich im Satzbau widerspiegelt, in der auch graphisch so auffälligen Faktur voller Parenthesen, Auslassungen und Gedankenstriche. Der Meridian (das Wort kam ihm von Nelly Sachs zugeflogen) ist die wohl bestvorbereitete, dringlichste Dankesrede der Literaturgeschichte.

Im Literaturarchiv Marbach wurden mir einmal die nachgelassenen Bibliotheken der beiden Dichter gezeigt. Ich hatte nicht darum gebeten, aber wie Archivare nun einmal sind: Sie zeigen gern ihre Schätze her. Da sah ich sie also, Rücken an Rücken gestellt, eng beieinander im Keller. Die alphabetische Ordnung hatte es so gefügt. Nach dem B mit den Bücherbeständen Gottfried Benns kam der Buchstabe C mit der bibliophilen Hinterlassenschaft Celans. Der Unterschied hätte nicht größer sein können: Es war der von Monokultur und Vielsprachigkeit. Während der eine die Weltliteratur und darunter auch die moderne Dichtung Europas und Amerikas (etwa den stolz auf Augenhöhe beobachteten T.S. Eliot) ausschließlich in Übersetzungen las, gab es für den anderen nicht nur die eine Dichtersprache. Ein Drittel seines Werkes bestand aus Übersetzungen. Es fanden sich dort die Originalausgaben der Valéry, Ungaretti und Jessenin und mit den Anstreichungen von Celans Hand – für Benn, wie für die meisten von uns, sprachliches Ausland.
Sie sind sich nie begegnet, außer in Anthologien. Nicht einmal denselben Raum haben beide betreten, als sie in Gedenken an Büchner den Preis in Empfang nahmen. Ihre Darmstädter Reden fanden, umzugsbedingt, in verschiedenen Sälen statt. Gottfried Benn hielt seine Darmstädter Rede im Neuen Saal in den Ausstellungsgebäuden auf der Mathildenhöhe, Celan die seine in der sogenannten Otto-Berndt-Halle.

„Daten! Daten! Überall fehlen Daten!“ sagt einer der Drei alten Männer in Benns szenischem Dialog von 1948. Während Celan im selben Jahr in dem Gedicht „Nähe der Gräber“ sich mit einer Frage quält, die ihn nicht mehr loslassen sollte.

Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,
den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?

Durs Grünbein, aus Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Suhrkamp Verlag, 2019

 

Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949

Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949

Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957

L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962

Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966

Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981

Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn

Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn

 

 

 

Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte

 

Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.

 

Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis

Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011

 

Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966

Zum 10. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966

Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976

Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976

Zum 20. Todestag des Autors:

Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976

Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986

Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986

Zum 50. Todestag des Autors:

Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006

Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006

Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12, 3 & 4 +
Internet Archive + Kalliope + KLG + IMDb +
Georg-Büchner-Preis 1, 2, 3 & 4
Autorenäußerungen zu Person und Werk von Gottfried Benn
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Gottfried Benn: Deutsche Rundschau ✝ Merkur
Aufbau ✝ Tumba

 

Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.

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