Günter Kunert: Zu Ernst Blass’ Gedicht „Nachts“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Blass’ Gedicht „Nachts“ aus Robert Seitz und Heinz Zucker (Hrsg.): Um uns die Stadt. –

 

 

 

 

ERNST BLASS

Nachts

Ich bin gegangen durch viele Straßen
In dem mir scheinbar bekannten Berlin.
Ich sprach mit Menschen, die neben mir saßen.
Sie grüßten mich und ließen mich ziehn,

Nun liege ich einsam in den Kissen
Und fühle nur, daß alles war.
Und dennoch ist es mir ganz entrissen
Und auch im Grunde gar nicht mehr klar.

Auf meinem Nachttisch tickt die Uhr,
In meiner Nähe ist ein Schrank.
Und ich, dem alles widerfuhr,
Bin nicht gesund und bin nicht krank.

Ich seh noch eines Mädchens Glieder,
Und höre Plaudern überall,
Dazwischen meiner eigenen Lieder
Einsilbig alten Regenfall.

Dort vor dem Fenster ist die Straße,
Das nächtlich windige Berlin.
Die ihr mich meßt mit falschem Maße,
Laßt mich, ich bitt euch, wieder ziehn.

 

Visionärer Abschied

Das ist eines der seltsamsten Gedichte, obwohl es so eindeutig scheint: stünde nicht der Name des Autors darüber, es wäre historisch schwer einzuordnen; einzig der Gebrauch bestimmter, heute ungewohnter Wörter und Wendungen verrät die zeitliche Entfernung. Aber die Grundhaltung, die Basis des Gebildes, ist ganz gegenwärtig. Nicht nur steckt darin eine der unseren verwandte Ambivalenz („Bin nicht gesund und bin nicht krank…“), sondern erst recht, was mit dem modernen, fast modischen Begriff „Sinnverlust“ vorschnell benannt wird. Aber es handelt sich um einen speziellen Verlust, der erst den des Sinnes nach sich zieht.
Liest man synchron Gedichte, die nach 1945 geschrieben wurden, ist es, als nähme dieses sie alle vorweg – fünfunddreißig Jahre bevor literarisch die Bilanz der absoluten Sinnlosigkeit gezogen wird. Denn diese fünf knappen Strophen sind ein visionärer Abschied von Berlin. Die Stadt existiert nur noch im Rückerinnern der ersten Strophe: nicht ein einzelner wird sich seines Vergehens vor einer Urbs aeterna bewußt, im Gegenteil: vom vordem evozierten Ambiente heißt es: „… alles war.“ Und „… ist es mir ganz entrissen.“ Und diesem Verschwundensein der mächtigen Kapitale folgt die Frage nach dem Sinn, aber formuliert als Antwort:

im Grunde nicht ganz klar.

Nichts sonst meint dieses unauffällige, unbestimmte es, welches dem Dichter entrissen wird, als seine Stadt; und daß dieses Abhandenkommen durch nichts mehr transzendiert wird, entspricht völlig unserer Sicht auf die Ereignisse der letzten fünfzig, sechzig Jahre. Die gigantischen Greuel unserer Historie, Schutt und Asche, in die sich unsere gegenständliche Vergangenheit verwandelt hat, die anhaltende Zerstörung durch Maximierung immer mechanistischer werdender Gesellschaften, sind durch keinen Sinn geheiligt.
Greifbare Realität hat bloß noch die Uhr auf dem Nachttisch, der Schrank in der Nähe dessen, „dem alles widerfuhr“, wobei er uns das Widerfahrene vorenthält und der Entschlüsselung überläßt. Daß ihm aber außer Untergang und Sinnverlust noch anderes zustieß, entnehmen wir den letzten beiden rätselhaften Zeilen: Wer sind denn eigentlich jene, die dem Dichter etwas antaten, was in der Formulierung, mit falschem Maß gemessen worden zu sein, wohl nur umschrieben ist, und in deren Gewalt er sich offenkundig befindet, da er sie bitten muß, ihn ziehen zu lassen? Um Rezensenten handelt es sich schwerlich, da deren Macht kaum ausreicht, einen fehleingeschätzten Dichter an die Stätte ihrer eigenen Tätigkeit zu fesseln.
Verbindet sich sein prophetischer Instinkt mit der Vorahnung des eigenen Schicksals?
Ernst Blass, anfänglich Expressionist aus dem Kreis um Hoddis und Hiller, kam 1933 auf den braunen Index und durfte nichts mehr veröffentlichen. Gerade neunundvierzig Jahre alt starb er, schon unbekannt und vergessen in einem Deutschland, das seine Dichter vertrieb oder totschlug und noch im eigenen Zusammenbruch radikal die Vorahnung der Expressionisten von der Katastrophe wahrmachte. Genau diese Tendenz ihrer Werke hat sich bestätigt, jene andere, die auf Menschheitsverbrüderung zielte, ist hingegen von der realen Menschheit desavouiert worden, und zwar dermaßen, daß noch immer viele, viel zu viele zeitgenössische Dichter in aller Welt mit gutem Grund die letzten beiden Zeilen des Gedichts wiederholen müssen:

Die ihr mich meßt mit falschem Maße,
Laßt mich, ich bitt euch, wieder ziehen.

So antizipiert Dichtung, was Wirklichkeit, zum immer neuen Schrecken der Dichter, prompt einlöst.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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