DREI GREISLEIN
drei greislein tanzen um die welt.
der erste zeigt stolz auf seinen letzten stockzahn.
der zweite hat den stockschnupfen.
der dritte ist stocktaub.
dennoch tanzen sie
als musizierten ohrenbetäubende gewitter
als wären sie von altem wein befruchtet
der kühl und aufrecht in heißem stroh lag.
sie tanzen daß ihre schlafittchen fliegen.
sie tanzen daß ihre schlapphüte fliegen.
sie tanzen daß ihre schlappschuhe fliegen.
sie tanzen daß ihre schlappschwänze fliegen.
„Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914 gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.“ So schreibt Hans Arp in seinem Erinnerungsbuch Unsern täglichen Traum. Am 16. September 1886 als Sohn eines aus Kiel gebürtigen Zigarrenfabrikanten und einer singenden, klavierspielenden Elsässerin geboren, wuchs er dreisprachig auf. Deutsch redete er in der Schule und mit dem Vater, französisch mit der Mutter, sonst aber elsässisch, dessen Akzent bei ihm auch in die beiden anderen Sprachen einging. Die kulturellen Einflüsse sind nicht weniger vielfältig, wobei besonders der französische Rationalismus, die deutsche Romantik und der elsässische Humor genannt zu werden verdienen. Der unaufmerksame Schüler ist ein hingebungsvoller Leser der Werke Brentanos, Novalis’, Arnims, Mörikes und Tiecks, aber auch Rimbauds, Lautreamonts und Maeterlincks. Die Lektüre bringt ihn dazu, selbst zu schreiben und Anschluß an den Stürmer-Kreis zu suchen, dem unter anderen die elsässischen Dichter Otto Flake, Rene Schickele und Ernst Stadler angehören. So kommt es, daß der noch nicht Siebzehnjährige in der Zeitschrift Hazweiess sein erstes Gedicht veröffentlicht: in der heimatlichen Mundart. Der zugleich zeichnerisch interessierte Jüngling nimmt Malunterricht und wird 1900 Schüler an der Straßburger Kunstgewerbeschule. Als er sich in der Waldeinsamkeit der nahen Vogesen auf eine Prüfung vorbereiten soll, liest er und schreibt seinen ersten Gedichtband Logbuch, dessen Manuskript jedoch im Verlag Seemann in Berlin verlorengeht. Die Bitte seines Sohnes, die Ausbildung in Paris fortsetzen zu dürfen, schlägt der Vater ab. Er schickt Hans Arp auf die Großherzoglich Sächsische Hochschule für bildende Künste in Weimar, wo Carl Arp Landschaftsmaler ist und Tun und Lassen seines Vetters im Auge behalten kann. Doch sieht Hans auch dort Ausstellungen moderner Kunst, die der Mäzen und Sammler Harry Graf Kessler und der Architekt Henry van de Velde im Weimarer Kunstmuseum veranstalten. 1908 gelingt der Wechsel an die Académie Julian in Paris, deren akademische Ausbildung ihn letztlich nicht mehr befriedigt als die Weimarer und Straßburger. Enttäuscht geht er nach Weggis bei Luzern, wohin die Familie zog, nachdem der Vater gesundheitshalber gezwungen war, die Zigarrenfabrik zu verkaufen. Im Ringen nach Ausdruck zieht Hans sich in sich zurück:
Ich lebte einsam am Fuße der Rigi. Im Winter sah ich monatelang keinen Menschen. Ich las, dichtete, zeichnete, bildhauerte winzige Plastiken und schaute aus dem Fenster meines kleinen Zimmers in die von Schneewolken verhangenen Berge. Es war eine abstrakte Landschaft von kompromißloser Strenge.
In dieser Zeit schreibt Arp sein berühmtes Kaspar-Gedicht. Als die Familie 1913 Weggis verläßt und nach Zürich zieht, geht er nach Berlin, um einige Monate in Herwarth Waldens Galerie und gleichnamiger Zeitschrift Der Sturm zu arbeiten.
Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich nimmt Arp, um der deutschen Mobilmachung zu entgehen, einen der letzten Züge von Köln nach Paris. Mit seinem Bruder François, der ihm lebenslang eng verbunden bleibt, läßt er sich auf dem Montmartre nieder. In der Künstlerkantine Wassilef auf dem Montparnasse trifft er häufig Picasso, Jacob, Apollinaire und Modigliani, der, ein Kokainist, ihn unter Drogeneinfluß zeichnet. Arp studiert nun die Mystiker Jakob Böhme und Meister Eckhart sowie die Vorsokratiker, besonders Heraklit. Verdächtigt, deutsche Spione zu sein, und auf dem Polizeirevier verhört, gehen die Brüder Arp im Mai 1915 in die Schweiz, wo die deutsche Armee mit dem langen Arm des Konsulats nach ihnen greift. Hans gelingt es, geistige Gestörtheit glaubhaft zu machen, indem er, nach seinem Alter befragt, unablässig sein Geburtsdatum untereinander schreibt. Im gleichen Jahr lernt er in Zürich auf einer Ausstellung Sophie Taeuber kennen, die seine Lebensgefährtin wird. Sie hat die traditionelle, gegenständliche Kunst bereits hinter sich gelassen und ihren eigenen abstrakten, tief vergeistigten Weg gefunden. Arp ist voller Bewunderung für sie und arbeitet fortan mit ihr zusammen.
Das Völkergemetzel von Rekruten und Kriegsfreiwilligen währte bereits anderthalb Jahre, die Friedensinsel Schweiz war schon vielen Kriegsgegnern zur Zuflucht geworden, als in der Züricher Tagespresse jene kunstgeschichtlich so folgenreiche Anzeige erschien:
Zürich Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat sich eine Gesellschaft junger Künstler und Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu schaffen. Das Prinzip soll sein, daß bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden.
Inserent war Hugo Ball, aus Pirmasens gebürtiger Dichter, der mit seiner Freundin, der Flensburger Schauspielerin, Chansonette und Dichterin Emmy Hennings, in die Schweiz gekommen war. Die beiden hatten sich von Beginn ihres Exils an den Lebensunterhalt recht und schlecht mit Rezitationen und musikalischen Vorträgen verdient und strebten nun danach, selbst etwas aufzubauen. In den Räumen der Meierei, die einem Holländer gehörten, schienen sie einen geeigneten Ort ausfindig gemacht zu haben. Sie hatten Glück, und auch das Publikum blieb nicht aus. So konnte Ball unterm 5. Februar 1916, dem Gründungstag des Cabarets, im Tagebuch festhalten:
Das Lokal war überfüllt; viele konnten keinen Platz mehr finden. Gegen sechs Uhr abends, als man noch fleißig hämmerte und futuristische Plakate anbrachte, erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unterm Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco, der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging. Arp war auch zufällig da, und man verständigte sich ohne viel Worte. Bald hingen Jancos generöse ,Erzengel‘ bei den übrigen schönen Sachen, und Tzara las noch am selben Abend Verse älteren Stiles, die er in einer nicht unsympathischen Weise aus den Rocktaschen zusammensuchte.
Damit sind Geburtsumstände und -stunde einer Bewegung fixiert, die sich unter ihrem bald gefundenen Namen Dada zum Bürgerschreck und Inbegriff moderner Kunst auswachsen und auf andere Städte wie Berlin, Hannover, Köln, Paris übergreifen sollte. Dada (der Name wurde der Überlieferung nach mehr oder weniger zufällig im Wörterbuch gefunden und bedeutet französisch soviel wie Steckenpferd) war von Beginn an international. Dafür bürgte die zusammengewürfelte Herkunft seiner Züricher Gründer: zwei Deutsche, drei Rumänen, ein Elsässer. Verstärkung erhielten diese bald durch den Hessen Richard Huelsenbeck, den vielseitigen Walter Serner und den Maler Hans Richter. Optische Dokumente dieser ersten Dada-Abende existieren kaum. Darum sei hier die Beschreibung Hans Arps von einem inzwischen verschollenen Gemälde Marcel Jancos wiedergegeben, welche die Ballsche Geburtsurkunde bestätigt und erweitert:
In einem kunterbunten, überfüllten Lokal sind einige wunderliche Phantasten auf der Bühne zu sehen, welche Tzara, Janco, Ball, Huelsenbeck, Emmy Hennings und meine Wenigkeit darstellen. Wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns schreit, lacht und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Wir antworten darauf mit Liebesseufzern, mit Rülpsen, mit Gedichten, mit ,Muh, Muh‘ und ,Miau, Miau‘ mittelalterlicher Bruitisten. Tzara läßt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich Kesselpauke, während Ball, kreideweiß wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet.
Was im Cabaret Voltaire durchaus im Rahmen herkömmlicher Brettl-Kunst, teilweise sogar noch unter Einbeziehung von Repertoirenummern nicht direkt Beteiligter wie Wedekind und Mühsam begann, gewann in der Konfrontation mit dem Publikum schnell eigenes Profil und trieb seine charakteristischen neuen Blüten: das Lautgedicht, das Simultangedicht (mehrere Autoren lesen gleichzeitig verschiedene, gar verschiedensprachige Texte), das Gedicht aus freien, zufälligen Assoziationen, später von den Surrealisten ecriture automatique genannt. Es ist Arps Domäne, während Ball das Lautgedicht vorantreibt, der französischsprachige Rumäne Tzara gern den sich mit anderen überlagernden Vortrag inszeniert. Der lebhafte Gang der Ereignisse bringt bald Mißverständnisse über das, was sich da eigentlich vollzieht. So entsteht ein Drang zur Selbstklärung. Ball notiert:
Was wir zelebrieren, ist eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich… Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle. / Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß, daß sich im Widerspruche das Leben behauptet und daß seine Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abzielt. Jede Maske ist ihm darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem eine düpierende Kraft innewohnt. Das Direkte und das Primitive erscheint ihm inmitten enormer Unnatur als das Unglaubliche selbst. / … Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit. Abgeneigt jeder klugen Zurückhaltung, pflegt er die Neugier dessen, der eine blutige Freude noch an der fraglichsten Form der Fronde empfindet. Er weiß, daß die Welt der Systeme in Trümmer ging und daß die auf Barzahlung drängende Zeit einen Ramschverkauf der entgötterten Philosophien eröffnet hat. Wo für den Budenbesitzer der Schreck und das schlechte Gewissen beginnt, da beginnt für den Dadaisten ein helles Gelächter und eine milde Begütigung.
Diese manifesthaften Zeilen zeigen, daß es längst nicht mehr um bloße Unterhaltung ging, daß hier die künstlerische Avantgarde Europas um Position rang. Ihr Aufbegehren gegen den Lauf der Welt realisierte sich in signalhafter Exzentrik gegenüber dem bürgerlichen Publikum und in intensiver Suche nach neuen Wegen in der Kunst, die sie als „Feldzug gegen die Armeen des Goldenen Schnitts“ (Arp) verstanden. Als geschlossene Stilrichtung formierte sich Dada nicht. Seine Bedeutung lag im Aufbrechen der Verkrustungen, in Enthemmung und Entbindung der Kreativität. Daß die Dadaisten wach blieben für außerkünstlerische Umbrüche, belegt Balls Eintrag vom Juni 1917:
Seltsame Begebnisse: Während wir in Zürich, Spiegelgasse I, das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber in derselben Spiegelgasse, Nr. 6, wenn ich nicht irre, Herr Uljanow-Lenin. Er mußte jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiß nicht, ob mit Lust und Gewinn. Und während wir in der Bahnhofstraße die Galerie eröffneten, reisten die Russen nach Petersburg, um die Revolution auf die Beine zu stellen… Es wird interessant sein zu beobachten, was dort und was hier geschieht.
Arp erinnert sich:
Die kurzsichtigen Zürcher Bürger hatten nichts gegen Lenin einzuwenden, da er nicht herausfordernd aufgeputzt war. Dada jedoch ergrimmte sie. Unsere freundlich hervorgebrachten Warnungen, daß es aus sei mit der gemütlichen Zeit, ließ ihren Kamm vor Wut feuerrot schwellen. Das liebliche Gärtlein der Welt sollte weiterhin sanft blühen.
Mit Ende des Krieges waren auch Dadas Tage in Zürich gezählt. Sein Zentrum verlagert sich nach Berlin, wo der Missionar Huelsenbeck schon Anfang 1917 mit den Brüdern Herzfelde/Heartfield, Raoul Hausmann, Walter Mehring und Johannes Baader wilde, politisch radikale Jünger fand. In Genf kommt es noch zum „Ersten Weltkongreß der Dadaisten“, einem „Grand BaI Dada“ und einem Dada-Meeting unter freiem Himmel, auf dem Serner dem Kosmos einen Tritt gibt. Arp, der sich in Zürich mit begeisterter Hingabe, aber stets mit diskretem Humor beteiligt hatte, ohne sich in den Mittelpunkt zu drängen, knüpfte auch Kontakte nach Köln zu Max Ernst und Johannes Theodor Baargeld, nach Hannover zu Kurt Schwitters und zu den Berlinern. Bei allem Betrieb vernachlässigte er nicht seine künstlerische und dichterische Arbeit. Nun, 1920, kommt es endlich zur Veröffentlichung der Gedichtbände Die Wolkenpumpe und Der Vogel Selbdritt. Im Sommer geht Arp wieder nach Paris und tritt der dortigen Dada-Bewegung bei, die von Tzara, Breton, Soupault und Aragon getragen wird und sich zunächst auf die Literatur beschränkt. Den bald folgenden Übergang zum Surrealismus vollzieht er ohne Bruch und großen Wandel. Er besucht den Futuristen Marinetti in Rom und beteiligt sich am Konstruktivistenkongreß in Weimar. 1922 heiratet Arp Sophie Taeuber. Versuche zur Erlangung der Schweizer Staatsbürgerschaft scheitern wiederholt. Nach der Veröffentlichung von Der Pyramidenrock mit sprühender Nonsense-Dichtung in strengem Versmaß wird Arp von den Behörden als geistesgestört eingestuft, obgleich Hermann Hesse für ihn und seine Naturalisierung eintritt. So geht er nach einer Phase der Zusammenarbeit mit Kurt Schwitters 1925 wieder nach Paris, wo in der Rue Tourlaque auf dem Montmartre Ernst und Miró seine Ateliernachbarn sind. Obwohl er kein praktizierender Surrealist ist und niemals seinen unerschütterlichen Dadaismus verheimlicht, beteiligt er sich an der ersten Gruppenausstellung der Surrealisten, die über Negation und das Absurde hinausgehen und sich, inspiriert durch Freud, dem Irrationalen und Unterbewußten zuwenden. Für Arp bedeutet dies eine verstärkte Hinwendung zum Assoziativen und zum Traum. Seit seinem vierzigsten Lebensjahr französischer Staatsbürger (die elsässische Mutter und ein längerer Aufenthalt im seit 1918 repatriierten Elsaß machen es jetzt möglich), schreibt er jedoch zunächst weiter in deutscher Sprache. Das Honorar für die mit Sophie Taeuber realisierte Ausmalung des Straßburger Restaurants und Tanzkinos im Palais de L’Aubette erlaubt den Bau eines Atelierhauses in Meudon bei Paris. Die dreißiger Jahre beginnen als Jahre ruhiger, produktiver Arbeit auf vielen Feldern. Der Bildhauer Arp geht zur Rundplastik über und schafft seinen ersten Torso. In einem Zürcher Verlag erscheint der 1922 geschriebene Gedichtband weißt du schwarzt du. Arp wird immer öfter zu Ausstellungen eingeladen. Es gibt Ankäufe durch Museen und mäzenatische Freunde wie Marguerite Hagenbach und Maja Sacher, die regelmäßig Geld überweisen. Doch schon 1933 beginnt die Vertreibung der Dada-Freunde aus Deutschland. Arps Haus wird zum Treffpunkt. Im Alter von fünfzig Jahren beginnt Arp, französisch zu schreiben. Noch nennt er sich Hans, selbst die französischen Freunde nennen ihn so. Erst mit dem Kriegsbeginn 1939, der ihn in der Bretagne findet und zu überstürzter Rückkehr nach Paris veranlaßt, wird er Jean und signiert nun immer häufiger mit Jean Arp. Kurz vor der Einnahme von Paris durch die Deutschen am 14. Juni 1940 fliehen die Arps mit mehrwöchigen Zwischenstationen nach Südfrankreich, wo sie im Chateau de Folie, dem verlassenen schönen Anwesen eines jüdischen Industriellen, unterkommen. Bald mangelt es ihnen an Arbeitsmaterialien und, durch die verschärften Rationierungen, an Kohle und Lebensmitteln. Die Schweizer Freunde helfen auf wunderbaren Wegen mit Paketen. Arp legt seinen Dankbriefen Gedichte bei. Heimlich fährt einmal Sophie, einmal er (im Kofferraum eines Autos) nach Paris, um Freunde zu treffen und in Meudon nach dem Rechten zu sehen. Chateau de Folie wird konfisziert, man zieht in ein kleines Haus außerhalb von Grasse. Seit 1940 versuchen die Arps, ein Visum für die USA zu bekommen. Das Museum of Modern Art in New York ist bereit, die Überfahrt zu bezahlen. Trotzdem geschieht nichts. So flieht man nach Zürich, um es von dort zu versuchen. Im Haus des Freundes Max Bill geschieht die Katastrophe. Sophie erstickt im Schlaf an den ausströmenden Gasen eines Kohleofens. Untröstlich geht Arp für Wochen in ein Dominikanerkloster. Die Bildhauerei wird für vier Jahre unterbrochen. Auch in den Gedichten ist ihm sein Eigentliches zerschlagen. Sie wirken vom Leid wie erdrückt, leer und hilflos.
Sofort nach Kriegsende geht Arp wieder nach Frankreich, wo er Sophies Werke ordnet. Als er die Last der Einsamkeit nicht mehr erträgt, bittet er Marguerite Hagenbach, fortan sein Leben zu teilen. 1946 erscheint unter dem Titel Le Siège de l’air eine Sammlung seiner zwischen 1915 und 1945 in französischer Sprache geschriebenen Gedichte. Der Titel ist vieldeutig und kann „Sitz“, „Mittelpunkt“, aber auch „Belagerung der Luft“ bedeuten. Arp wird wieder aktiver, auch wenn er von nun an öfters depressive Phasen durchmacht und gesundheitlich labil bleibt. Die ihm von Anfang an immanente Religiosität erfüllt ihn nun intensiver. Er liest die christlichen Mystiker und führt ausgiebige Gespräche mit dem Mann seiner Nichte Ruth, der in tibetanischer Religion und Philosophie bewandert ist. Arps Schaffenskraft erweist sich als phönixhaft. Es entstehen wieder Plastiken, Reliefs, papiers déchirees (von ihm erfundene Technik des Aufklebens von zerrissenem, nach dem Zufall angeordnetem Papier) und auch wieder Gedichte, die sich langsam von Sophies Tod lösen und Mitte der fünfziger Jahre ihren spezifisch Arpschen Humor zurückgewinnen. Obwohl Arp, einmal gefragt, wie er sich entscheiden würde, hätte er zwischen Malerei und Dichtung zu wählen, antwortete, er würde es vorziehen, ein Dichter zu sein, wird Ruhm zu Lebzeiten nun dem bildenden Künstler zuteil. Mit achtundsechzig Jahren erhält er den Internationalen Preis für Skulptur auf der Biennale in Venedig, während seine Freunde Ernst und Miro die Preise für Malerei und Graphik zugesprochen bekommen. Von nun an mit Ehren überhäuft, von Besuchern heimgesucht und mit Aufträgen fast überfordert, zieht er sich nach der Heirat mit Marguerite Hagenbach 1959 in die Tessiner Villa Ronco dei Fiori in Solduno bei Locarno zurück, die er sich schon 1949 als zweiten Wohnsitz wählte. Hier gewinnt er mit dem Abstand noch einmal die Freiheit zur Arbeit zurück. Über Arps Arbeitsweise gibt der elsässische Freund Maxime Alexandre Auskunft, der einmal sechs Monate bei ihm wohnte: „In Meudon wohnten wir in dem Anbau, den er für seine Freunde hatte bauen lassen. Von sieben Uhr morgens an machte er sich an die Arbeit, ging im Morgenrock herum, vom Atelier, wo er Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen, Collagen und Reliefs anfertigte, zu einem der beiden Glaspavillone im Garten, wo er seine Plastiken ausführte. Er erschien von neuem, mit einer Mütze auf dem Kopf und weißen Handschuhen an den Händen – der Gips, so scheint es, irritiert wohl die Haut −, er hielt vor einem seiner Gipsmodelle, strich zunächst leicht darüber, entfernte sich dann, kam wieder näher, ging darum herum, nahm einen Spachtel und verbesserte ein Detail. Von Zeit zu Zeit nahm er seine Mütze ab, so als wollte er das, was er gerade geschaffen hatte, grüßen, dann ging er zur Tür, kam sofort mit einem Staubwedel zurück, um den Staub wegzuwischen, der entstanden war, verschwand darauf im Haus, wo er Gedichte schrieb. Und bis zum Abend machte er so unermüdlich die Runde…“ Diese Schilderung belegt sehr schön, wie für Arp seine vielfältige Arbeit im Grunde eine einzige war, parallel ausgeführt, miteinander verquickt. Nach außen führte er das Leben eines bildenden Künstlers, als den man ihn gemeinhin kannte, das seine materielle Existenz trug, die erst im Alter sorgenfrei wurde. Im Innersten fühlte er sich noch mehr als Dichter, den die Sprache lebenslang zu verjüngendem Spiel animierte. So nimmt es nicht wunder, daß am Ende die Maschine des Körpers eher ermüdete als das perpetuum mobile der Arpschen Phantasie. Noch auf dem Krankenbett des Basler Spitals seine Gedichte bessernd, starb Hans Arp am 7. Juni 1966 neunundsiebzigjährig an einem Herzinfarkt. Vier Monate zuvor erlebte er noch, wie am 5. Februar 1966 der Stadtpräsident von Zürich zum 50. Jahrestag von Dada ein von ihm geschaffenes Relief aus weißem Marmor mit einem eingelegten vergoldeten Nabel an der Fassade des ehemaligen Cabaret Voltaire enthüllte. Nun versammeln sich die Freunde auf dem Friedhof von Locarno, dessen Ehrenbürger er geworden war. Abschiedsreden halten sein Patenkind Mathieu Poncet, der Abbé Aubry aus Meudon, die Freunde Hans-Jörg Gisiger, Carola Giedion-Welcker und Fritz Usinger. Die Grabstätte, in der auch Platz für Sophie und Marguerite vorgesehen ist, entwarf er selbst. In ihrer Mitte steht, Himmel und Erde, Geburt und Tod wiedervereinigend, die Plastik „Stern“.
Als Kind hatte ich Angst vor dem Tod. Den Tod zu empfangen, den Tod zu geben. Schon die Idee des Altwerdens erschien mir unerträglich, und nun bin ich es… heiter, gelassen, sicher, einer gewissen Wahrheit nähergekommen zu sein. Ich würde Sie gerne das Glück mitfühlen lassen, das ein Mensch empfindet, der endlich mit sich eins geworden ist und der nichts anderes mehr möchte, als die Harmonie der Schöpfung, so gut er kann und bis zu seinem letzten Atemzug, zu besingen.
In seinem 1953 geschriebenen Text „Wegweiser“ erinnert sich Arp der Etappen seiner dichterischen Entwicklung:
… Schon in jener Zeit bezauberte mich das Wort. Ich füllte Seiten um Seiten mit ungewöhnlichen Wortverbindungen und bildete ungebräuchliche Verben aus Substantiven. Ich gestaltete bekannte Verse um und deklamierte sie mit Hingebung und gehobenem Herzen ohne Unterlaß, fort und fort, als sollte es kein Ende nehmen: ,Sterne sternen manchen Stern, daß zum Zwecke Sterne sternen, walde walde manchen Wald, daß zum Zwecke Wälder walden, zacke zacken manchen Zack, daß zum Zwecke Zacken zakken.‘ Der Mißbrauch der Unterlage ahndete sich oft grausam, und es erging mir wie dem Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Erst viel später erkannte ich das tiefe Wesen solcher ,sinnlosen Späße‘ und gestaltete dann bewußt solche Erlebnisse. Ich wanderte durch viele Dinge, Geschöpfe, Welten, und die Welt der Erscheinung begann zu gleiten, zu ziehen und sich zu verwandeln wie in den Märchen. Die Zimmer, Wälder, Wolken, Sterne, Hüte waren abwechselnd aus Eis, Erz, Nebel, Fleisch, Blut gebildet. Die Dinge begannen zu mir zu sprechen mit der lautlosen Stimme der Tiefe und Höhe.
Wörter, Schlagworte, Sätze, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus ihren Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte. Öfters bestimmte ich auch mit geschlossenen Augen Wörter und Sätze in Zeitungen, indem ich sie mit Bleistift anstrich. Ich nannte diese Gedichte Arpaden. Es war die schöne ,Dadazeit‘, in der wir das Ziselieren der Arbeit, die verwirrten Blicke der geistigen Ringkämpfer, die Titanen aus tiefstem Herzensgrund haßten und belachten. Ich schlang und flocht leicht und improvisierend Wörter und Sätze um die aus der Zeitung gewählten Wörter und Sätze. Das Leben ist ein rätselhafter Hauch, und die Folge daraus kann nicht mehr als ein rätselhafter Hauch sein…
Viele Gedichte aus der Wolkenpumpe sind automatischen Gedichten verwandt. Sie sind wie die surrealistischen, automatischen Gedichte unmittelbar niedergeschrieben, ohne Überlegung oder Überarbeitung. Dialektbildung, altertümliche Klänge, Jahrmarktslatein, verwirrende Onomatopoesien und Wortspasmen sind in diesen Gedichten besonders auffallend… Ich schrieb diese Gedichte in einer schwer leserlichen Handschrift, damit der Drucker gezwungen werde, seine Phantasie spielen zu lassen und beim Entziffern meines Textes dichterisch mitzuwirken. Diese kollektive Arbeit glückte gut. Verballhornungen, Zerformungen entstanden, die mich damals bewegten und ergriffen. Wie mancher mittelalterliche Kopist, sagte ich mir, hat durch Mißverstehen in seine Arbeit tiefsinnigen Geist gelegt!… In den Jahren 1914 bis 1930 las ich Chroniken aus dem Mittelalter, Volksbücher, Volkslieder; ich las besonders entzückt inDes Knaben Wunderhorn. Dies Buch klingt ,wie nie ein Harfenklang und keiner Frauen Sang, kein Vogel obenher‘. Ich liebte Gassenhauer, Kommerslieder. Einen großen Einfluß übten auf mich Kindergedichte und Kinderzeichnungen aus. Durch sie wurden andere Welten in mir erweckt. Aus einer unvergeßlichen, dunkelblauen Kinderzeichnung quoll mir ein Gedicht wie süßer Sommernachtsduft entgegen. Ich war unvoreingenommen. Jede lebendige Dichtung bewegte mich, und besonders die gewaltige Dichtung der Natur. Zu Tränen ergriffen lauschte ich dem lautlos brausenden Gedicht des Sternengefieders. Ich wollte die haarsträubenden Rhapsodien der Windsbraut, das Geister-Abc, bei dem es einen kalt zu überlaufen hat, das Bauchreden der vermeintlich unbelebten Dinge, ihr Knarren, Seufzen, Wimmern, Winseln, das Versmaß der nächtlich krachenden Möbel, die Piepspoesie der Angsthasen gestalten… An der Onomatopoesie versierter Handelsreisender hatte ich meine Freude und verschloß mich auch nicht der Locksprache der Köche, Hirten und Schürzenjäger. Mit welcher Freude ließ ich mich auch durch Zeitungen, diese Brunnenstuben der Dichtkunst, mit poetischem Extrakt speisen. Die Erfindung einer Art synthetischer Dichtkunst war mir gelungen. Ich habe noch verschiedenerlei Wortzucht und Wortokulierung getrieben und mich gerne von der unheimlichen Bildhaftigkeit und Vieldeutigkeit mancher Worte und Silben verführen lassen.
Die Bücher und GedichtfolgenDer Pyramidenrock, Die Blumensphinx, weißt du schwarzt du, Der gestiefelte Stern, Vier Knöpfe, zwei Löcher, zwei Besen sind in jener Zeit geschrieben worden.
Nach dem Tode meiner Mutter, im Jahre 1930, schrieb ich die Gedichte ,Träume vom Tod und vom Leben‘. In diesen Gedichten verwende ich öfters die gleichen Wörter. Die unfaßbare Vielfalt, mit der die Natur eine Blumenart in einem Felde anordnet, oder die Folge unendlich verschiedener Bauten, die ein Kind mit den gleichen Steinen eines Baukastens ausführt, haben mich wahrscheinlich angeregt, das gleiche mit Worten zu versuchen… Schon damals verkehrte ich nur noch selten in literarischen Cafés. Die kindische Überheblichkeit, die groteske Selbstüberschätzung ihrer treuen Gäste hatten mich gleich bei meinen ersten Zusammenkünften abgestoßen. Es waren sehr viele alberne Gesellen unter ihnen, die so taten, als könnten sie das Unbegreifliche begreifen. Ich lernte eine konfuse, unbescheidene Welt kennen, die mich oft aus Zusammenkünften verzweifelt enteilen ließ…
Nach dem Tode meiner Gefährtin, Sophie Taeuber, 1943, begannen die leidvollsten Jahre meines Lebens… Den zu Tode Getroffenen beschäftigen die Formprobleme nicht mehr. Er will sich dem unkörperlichen Reiche nähern. Er nimmt Abschied in kindlichen Mitteilungen. Der Unterschied zwischen einem zu Tode Verzweifelten und einem zu Tode Getroffenen ist groß. Der Verzweifelte kann sich in den Bau seiner Verzweiflung verschanzen, dem zu Tode Getroffenen aber stürzt die Welt ein. Die Eitelkeit des Menschen wurde mir unerträglich, und die Kunst und die ,Wirklichkeit‘ sinnlos.
In den letzten Jahren seines Lebens wurde Arp zum Mahner, zum Warner vor Bombe und Roboter, vor unreflektiertem technischem Fortschritt. Und es spricht für die Wesenhaftigkeit seines Humors, wenn er selbst bei diesem heiligen Ernst immer wieder aufblitzt. In seinem Denken und Streben, seinen Bemühungen um eine unpersönliche, Ich-lose Kunst hat sich Arp in Wort und geformtem Material immer mehr der Einfachheit der Natur angenähert, die schon zu Beginn seines Weges Pate stand. So schuf er über zwei Kriege, Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus hinweg ein Werk, das bei allen Wandlungen durch Einheitlichkeit besticht. Angesichts der Schlichtheit seiner Selbstdarstellung scheint vieles von anderen zu seinem Ruhm Gesagte angestrengt und überflüssig. War, wie AIfred Liede über das Fähnlein der ersten Dadaisten schreibt, Hugo Ball der Denker des Dadaismus, Richard Huelsenbeck der Aktivist und politische Revolutionär, Tristan Tzara der ästhetische Blageur, dann Hans Arp der Poet und Künstler. Während die meisten seiner Zeitgenossen gestrig anmuten, hat die Zeit für Arp gearbeitet. Kam er uns „abhanden mit der hand“, „abfußen mit dem fuß“, steht er als eine der genialen Doppelbegabungen unseres Jahrhunderts vor uns. Die Frage nach aktueller Wirkung beantwortet der Spanier Tapies derart, daß der Widerhall des Peitschenhiebs von Dada auch heute noch die verfaulten Mumien zu Boden werfe und den Himmel blauer fege denn je: „Arp gibt uns die Schönheit des ersten Tages zurück.
Richard Pietraß, Nachwort, Juli 1987
Lesung in der Akademie der Künste Berlin am 26.4.1987. Sowohl Walter Höllerer als auch Eugen Gomringer lesen eine stark personalisierte Auswahl der Gedichte von Hans Arp, die sie über ihre persönliche Erfahrung mit dem Dichter und Künstler motivieren. Beide kleiden ihre Lesungen in erörternde Passagen ein, die das Werk und die Person Hans Arps umkreisen. Oskar Pastior liest ohne Einbettung eine Auswahl an Gedichten von Hans Arp. Am Ende liest, über Tonband eingespielt, Hans Arp selbst einige Gedichte, was aus dieser Aufnahme ein diachrones Miteinander eigentlich entfernter Dichterstimmen macht.
HANS ARP
Phallobst
Langfassung
Am Rand des Phalles reibt die Nacht an Hüften.
Das Knäuel der Wölfe Leibdienst Phallheronen döst längst.
Die Lust trägt einen löchrigen Slip dinnen dört Wurzel
Leerstück.
Die Potenz schlappt auf der Hängematte.
Der Sex gebärt ausgelaugte Mädchen.
Peter Wawerzinek
HANS ARP
Gegen den Pulsschlag des Steins
Klopft der Gedanke der Hand
Raschelt der Kleidersaum der Straße
Atmen Felsen über mich hin
Steht das Oxyd des Meeres
Auf dem brennend zerbrechbaren Augen der Erde
Quer durch meinen Mund
bricht das harte Loch der Gebärde
Und meine Stimme winkt
Stille stolpre nur
Keine Schwere mehr die denkt
So
Bin ich über die Ohren verlobt mit dem Licht
Das Licht kauft mich auf
Läuft über meinen Schritt meinen Hals mein Haar
Ein Menschtrab
Der echte Mensch will
Stille trab nur
Durch stillgewordene Galoppade
Lucebert
ARS ARP
I
Ich hör die Stimme aus dem Grab:
„Der Kaspar ist tot“
Und verdammich das ist arg
Ein strenger Geist läuft zu auf mich
Und legt mir Opfer auf zur Strafe ewiglich
Grad jetzt da ich genauso häßlich wie begehrlich
Meine Mutter und noch mehr entehrend
Das wahre Himmelreich betrat
So alt und immer noch beflügelt
Bei dem Steigen bei dem landen
Springend aus Einem über beide
Auf das Bild von Dämons, Ebenbild
Und das alles nach Willen und Genie
Der Genen und der ausgetüftelten Chemie
Bin an und für sich ein schalkhafter Schalk
Der Natter und Ratte granatenvoller Balg
Von mehr Publikum als mir lieb adoriert
Selbst von gelehrten Narren die promoviert
über mich und den Nabel streicheln oder dem Arsch
fürwahr entlocken ein blutiges oder windiges Lied
Das ich singen würde oder sang und ach – jetzt halt sing
Ein taubstummer Sänger mit Rhapsodentalent
Ein bedürftiger Reicher den man gern verwöhnt
Großgrundbesitzer des verbotenen Gebiets
Welches das vielköpfige Volk zertritt und höhnt
Denn dem die Liebe ist hört nicht hin
II
In der Chronik der Zwerge wäre
Zu Vermelden daß es über Brandenburg
Eine Wohltat war dieser Regenbogen
Aus die Sonne anpissenden Liliputanern
Bei soviel Durst nach Riesen
„Du verabscheutest das leer Glänzende
Der Theaterwunder“ du glaubtest mal schnell
Deinen Gott zu dekorieren mit aufschaubaren Bildern
Doch es wurden juckende Nichtigkeiten
Auf dem omnipotenten Rücken
Tätowierungen durch verwöhnte Mücken
Und ist der Schöpfer mal kurz nicht da
Ganz leicht ist dann sein Gewicht ein Kork
Auf einer Flasche so groß wie ein Stausee
In dem Tempel und Kreuz vergessen
Wie auch das Knochenhaus des kugelsicheren Packs
Dem er der Obergerber des Zäpfchens
zwischen unbändigem Lallen und Hohngelächter
Gern „mäßige Ekstase“ verkünden darf
Das kann hier und da gähnende Wunden schlagen
Doch diese gähnende Wunde ist noch ganz munter
Sie bleibt durstig und ihre eigene Sau
III
Ich bin der Wächter der aus Wachs war
Nun jedoch allem gewachsen ist
Ist das Weltall geschlossen oder dicht
Mein Denken korkt und krönt die Schöpfung
Oder ist gleichsam der Zieher und weckt
– Erwache! – den wohltätigen Ingenieur
Der Zufall anbringt zwischen Willkür und Gesetz
Mit etwas Spaß mit etwas Schlaf
Enttäuscht das Leben nicht
Etwas Gelenkigkeit ist erlaubt
Doch Hände weg vom himmlischen Haus
der üppigwilden und doch mantiken Maus
Proteste hält man wie Teller bereit
Nur auf dem Podest der Ewigkeit
(Dort herrscht die Gaskonade) doch in ärmlichen Gewändern
Schreiten die Freier eingezogen – er mit Kröten
Als Nasenwärmer auf dem Hodensack und sie
Mit sich windenden Maden wie Pflaster auf dem Mund
(Ein schrecklicher Anblick aber ein schönes Gemälde)
Durch Straßen längs Burgen schreiten sie und keine
Hat Haare genug um sie monatlich per Pfund
über den Ägypter der Nonne zu verkaufen
Aber es gibt im Schmelztiegel an der Schere immer
Ein Haufen Kot als Rohstoff für die muskulöse
Olympische Bronze die in Ewigkeit auf der Balustrade steht und starrt
Pracht – sogar die allerfeinste –
Geht nie per Gramm
In der Kathedrale verweilt er kurz
Und kniet vor der Unschuld obschon sein
Schäbiges Schwert gezogen ist und betet:
Gib dem Nabel ein zum Himmel erhobenes Auge
Der Bauch – freilich ein untertäniger Anblick –
Birgt den unverhofften Ausblick auf erhabene Ideen
So daß nach eindringlichem Nachsinnen und scharfsinnigem
Darmgequake des Säufers und des Fressers
Man sogar aus der Froschperspektive
Die eigenen drückenden Lasten übersieht
So ein Unternehmen zwischen Pleite und Profit
Eine Kakerlake auf dem Rost geröstet
Es bleibe parat auf dem angelegten Pfad
Zwischen dem unsicheren Heute und der Vergänglichkeit
IV
„Der Zufall befreit uns aus dem Netze
Der Sinnlosigkeit“
Keinen Sinn sondern Unsinn gib
Der Angeborenen Steifheit
Mit gerecktem Kinn watet das graue Fleisch
Durch die Nebel des flachen Nachtlandes
Wo es regnet stotternd auf einem Bein
„In den stillen Pausen
Zwischen den stillen Strophen der Nacht
Ertönt die stillste Klage“
Schon krächzt die letzte Maquillage
Was bekümmert dich dort noch rundum den Beton
Der mit Neppmarmor maskierten Endstation
Wo kalte Gleichgültigkeit dich anfaßt
Und wie ein schneidender Wind dich auspackt
Die stillste Klage wenn das dir noch bleibt
So arm und nur ein Heller noch deines Glanzes
Obwohl eine unermeßliche Wand aus Dreck
Geh da dann hindurch
Lucebert
Aus dem Niederländischen übertragen von Rosemarie Still
HANS ARP ✝ 7.6.1966
Männer tragen unablässig Rosen. Wohin?
Frauen verwandeln sich in Sterne. Warum?
Felsen rollen Findlinge. Wohin?
Wolken jagen Gewitterwolken. Warum?
Sterne tragen Felsen,
Rosen Männer.
Findlinge rollen Wolken,
Männer Gewitterwolken.
Nichts bleibt übrig. Wo?
Frauen jagen Wolken und Rosen,
Männer Sterne,
Gewitterwolken verwandeln sich in Findlinge.
Übrig bleiben Felsen. Von wo?
Findlinge rollen unaufhörlich Rosen und Gewitterwolken
Wolken jagen Sterne und Frauen.
Übrig bleiben Männer und Felsen. Wann?
Wolken verwandeln sich in Gewitterwolken, Rosen in Findlinge und Frauen.
Es bleiben Männer, Felsen und Sterne übrig. Für wen?
Felsenwolken, Gewitterfindlinge, entsternte Rosen, Frau, Mann.
Ludvík Kundera
Übersetzt von Ludvík Kundera und Richard Pietraß
Carmela Thiele: Hans Arp waren Gattungsgrenzen fremd
Deutschlandfunk, 7.6.2016
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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