Hans Christoph Buch: Zu Joseph Brodskys Gedicht „Für die Unabhängigkeit der Ukraine“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Joseph Brodskys Gedicht „Für die Unabhängigkeit der Ukraine“. 

 

 

 

 

JOSEPH BRODSKY

Für die Unabhängigkeit der Ukraine

Lieber Karl der Zwölfte, Schlacht bei Poltawa,
Gott sei Dank, verloren. Wie der Burry sagte,
die Zeit wird es zeigen – Kuzkins Mutter, Ruinen,
Knochen der posthumen Freude mit einem Hauch von Ukraine.

Es ist nicht grün-beendet, verschwendet von einem Isotop,
– zhovto-blakitny fliegt über Konotop,
aus Leinwand geschnitten: Wissen Sie, Kanada hat auf Lager –
umsonst, das ohne Kreuz: aber die Ukrainer brauchen es nicht.

Goy du, Handtuch-Karbovanets, Samen in einer verschwitzten Tasche!
Es steht uns nicht zu, Katsap, sie des Verrats zu beschuldigen.
Sich selbst unter den Bildern von siebzig Jahren in Ryazan
mit überfluteten Augen lebten sie wie unter Tarzan.

Sagen wir ihnen, die klingelnde Mutter hält streng inne:
eine Tischdecke für Sie, Ukrainer, und ein Handtuch für die Straße.
Gehen Sie in einem Zhupan von uns weg, ohne in Uniform zu sprechen,
an eine dreibuchstabige Adresse für alle vier

Parteien. Jetzt die Hütte im Herrenhaus von Hansa einlassen
mit lyahami haben sie dich auf vier knochen gestellt, du bastarde.
Wie man in eine Schleife klettert, also zusammen, Hündinnen, die im Dickicht wählen,
und Hühnchen aus Borschtsch allein nagen ist süßer?

Verzeihen Sie, Ukrainer! Wir haben zusammen gelebt, das reicht.
Spucken oder so in Dnipro: vielleicht rollt er zurück,
Stolz auf uns verachtend, wie ein schneller, vollgestopfter
Abgewiesene Ecken und uralte Ressentiments.

Erinnere dich nicht schneidig daran! Dein Himmel, Brot
wir – wir ersticken an Kuchen und der Decke – nicht nötig.
Es gibt nichts, um das Blut zu verderben, Kleider auf der Brust zu zerreißen.
Ende, weißt du, Liebe, wenn es dazwischen war.

Warum vergeblich in zerrissenen Wurzeln mit einem Verb stöbern!
Die Erde hat dich geboren: Erde, schwarze Erde mit Podzol.
Laden Sie die Rechte vollständig herunter, nähen Sie uns das eine, das andere.
Dieses Land gibt dir, Kavunam, keinen Frieden.

Ach ja, Levada-Steppe, Krala, Bastan, Knödel.
Sie verloren mehr: mehr Menschen als Geld.
Wir werden es irgendwie schaffen. Und was eine Träne aus einem Auge betrifft,
Es gibt keinen Befehl für sie, bis zu einem anderen Zeitpunkt zu warten.

Mit Gott, Adler, Kosaken, Hetmans, Wächter!
Nur wenn es darum geht zu sterben, ihr Bogies,
Sie werden keuchen, die Kante der Matratze kratzen,
Zeilen von Alexander, nicht Taras’ Unsinn. [von hier]

 

Joseph Brodsky liest „Für die Unabhängigkeit der Ukraine“ in The Hall of the Palo Alto Jewish Community in Palo Alto in New York am 30.10.1992.

Dreigeteiltes Video Joseph Brodsky liest „На независимость Украины“ (1992), Mitschrift und ukrainische Demonstranten.

 

Ein hässlicher Fleck auf der sonst weissen politischen Weste

– Wie Joseph Brodsky dazu kam, in einem Gedicht die Ukraine zu schmähen. –

Der russische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky war ein grosser Dichter, aber kein Demokrat. Er pflegte einen absoluten Begriff von Kunst und dachte in imperialen Kategorien. Wo ihm Russland Weltreich war, landete die Ukraine in der Erdgrube.

Im Frühjahr 1972 lehnte der sowjetische Schriftstellerverband meine Bitte, den Dichter Joseph Brodsky zu treffen, empört ab mit der Begründung, ein Poet dieses Namens sei in Leningrad nicht bekannt: Es handle sich um einen Rowdy und Hooligan, der Auftritte verdienter Parteibarden durch Zwischenrufe störe und als arbeitsscheues Element zu Lagerhaft und Verbannung verurteilt worden sei. Dass Brodsky die Frage der Richterin, wer ihm erlaubt habe, Gedichte zu schreiben, ohne Mitglied des Schriftstellerverbands zu sein, mit „Gott“ beantwortete, kam erschwerend hinzu.
Sieben Jahre später traf ich am Check-in des Hotels Gloria in Rio de Janeiro einen Mann in Badehose, dem Diebe am Strand von Copacabana Kleider, Geld und Pass gestohlen hatten. „Der PEN-Club muss mir eine neue Identität besorgen“, rief Joseph Brodsky, den PEN-Präsident Mario Vargas Llosa zu dessen Tagung nach Rio eingeladen hatte; 1987 bekam er, seit der Ausbürgerung in New York lebend, den Literaturnobelpreis.

Als Brodsky mich in Amherst seinen Studenten vorstellte, verblüffte er mich mit einer Frage, die mich sprachlos machte: ob ich lieber im Stalinschen Gulag oder in Hitlers KZ ermordet worden wäre? Joseph Brodsky war ein antitotalitärer Dichter und Denker wie Czeslaw Milosz und Albert Camus: Begriffe wie Sowjetunion oder sowjetisch kommen in seinen Gedichten nicht vor, selbst den Ortsnamen Leningrad vermied er und nannte die Stadt, die sein Leben und Werk prägte, einfach nur Peter, sprich Pitter. Und ich staunte nicht schlecht, als er vor einem am Springerhaus aufgestellten Strassenschild, das die Entfernung nach Königsberg angab, für Fotos posieren wollte.

Noch verblüffter war ich, als ich Brodskys Gedicht „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ las. Ich kann und will den Text nicht zitieren – das Gedicht ist zu lang, und es ist unübersetzbar, weil es nur aus idiomatischen Redensarten und Schimpfwörtern besteht, die Russen und Ukrainer einander um die Ohren hauen: „Skalp-Locke“ und „Ziegenbart“ sind die harmlosesten. Noch dazu ist es gespickt mit schwer zu entschlüsselnden Anspielungen: von der Schlacht von Poltawa (1709) bis zu Lenins kratzendem R. Es handelt sich um eine Schimpfkanonade, deren Autor, sonst nicht zur Obszönität neigend, die Ukraine zur Sau macht. Hier ein Auszug, holprig, wie es sich für eine Schmähschrift gehört:

Lieber Karl XII., die Poltawa-Schlacht ging verloren
nur Ruinen am Wegrand und bleichende Knochen
Russland hat kein Recht, euch Verrat vorzuwerfen
mit Ikonen und Wodka besoffen gemacht, hat es euch um den Verstand gebracht
Marsch zurück in die Hütten, damit Piefkes und Polen
euch die Ärsche aufreissen bis zum Geht-nicht-mehr…

Was ist passiert? War Joseph Brodsky vom Saulus zum Paulus geworden oder umgekehrt? Hatte der zornige Dissident, der trotz einer Einladung von Bürgermeister Sobtschak nie in seine Heimat zurückkehrte, sich eines Besseren besonnen und beim Zerfall der UdSSR zwar nicht für die Sowjetunion, aber für den grossrussischen Nationalismus optiert? Und hat er die Aussage, er sei ein schlechter Russe, schlechter Jude und schlechter Amerikaner, aber ein guter Dichter, Lügen gestraft, indem er das Gedicht zum Vehikel einer reaktionären Ideologie machte? Populismus und Chauvinismus sind die richtigen Worte dafür!

Trotzdem wage ich zu behaupten, dass Brodsky sich im Grabe umdrehen würde angesichts der Tatsache, dass sein Poem nach Putins Annexion der Krim 2014 zum Gedicht des Jahres erklärt wurde und dem „Apparat“ – so nannte er die herrschende Nomenklatura – zur Rechtfertigung eines Völkermords diente, der vorher in Tschetschenien geprobt worden war.

Brodsky starb Anfang 1996, als Wladimir Putin noch in den Startlöchern stand, und hat den Aufstieg des Dresdener KGB-Manns zum allrussischen Zaren nicht mehr erlebt. Aber er hatte keine Illusionen und betonte mir gegenüber, auch Russland werde die Entkolonisierung nicht erspart bleiben: Auf den Kommunismus folge die Mafia, und auf diese der Faschismus.

Und es spricht Bände, dass er das Schmähgedicht aus seinem gedruckten Werk ausschloss, weniger aus politischen denn aus ästhetischen Gründen – es war ihm zu vulgär! Trotzdem trug er die Verse auf Lesungen vor, auswendig wie alle seine Gedichte, zuletzt vor russischen Juden in Palo Alto, und ein Videofilm zeigt, wie schwer er sich dabei tat. Eine halbherzige Distanzierung, wenn man so will, doch die Frage bleibt offen, warum der Nobelpreisträger es riskierte, nach dem Tod von früheren Feinden vereinnahmt zu werden?

Die Antwort ist so einfach wie kompliziert: Joseph Brodsky war Jude, aufgewachsen im von der Wehrmacht belagerten Leningrad mit dem Bewusstsein, einer verfolgten Minderheit anzugehören, die Hitlers Todeslagern und Stalins Hexenjagden auf jiddische Dichter und jüdische Ärzte mit knapper Not entging.

Weltoffene Hafenstädte wie das von Peter I. aus den Newa-Sümpfen gestampfte Petersburg oder Odessa, von Katharina II. gegründet, boten Juden besseren Schutz als jede Art von Provinz. Die antisemitischen Pogrome der sogenannten „Schwarzhundert“ waren in frischer Erinnerung, ähnlich wie die Tatsache, dass Ukrainer sich für das ihnen angetane Unrecht an Juden rächten und im KZ wie auch im Gulag von Opfern zu Tätern wurden. Derzeit bieten die Greueltaten tschetschenischer Söldner im Ukraine-Krieg ein Beispiel dafür, dass und wie unterdrückte Völker sich mit Aggressoren identifizieren.

Unter diesen Umständen optierten jüdische Intellektuelle eher für Russland als für die Ukraine, genauer gesagt für russische Sprache und Kultur. Es genügt, die Namen Isaak Babel und Ossip Mandelstam, aber auch Leo Trotzki zu nennen – alle drei wurden auf Stalins Befehl ermordet, wie ja die Opfer der Moskauer Prozesse vorwiegend Juden waren.

Dass heute ein jüdischer Komödiant die Gegenwehr der Ukraine gegen Russlands hochgerüstete Armee anführt, hätte Brodsky sich in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Hinzu kommt, dass sein Vater, dessen Marineuniform ihn als Kind tief beeindruckte, Offizier der Schwarzmeerflotte war und bei Stalins Tod die weinende Mutter umarmte, gleichzeitig aber den Sohn augenblinzelnd wissen liess, die Trauer sei gespielt. Diese Ambivalenz durchzieht auch Brodskys Gedicht, wo es heisst:

Wir kommen über euch hinweg.
Wenn ihr Tränen sehen wollt, wartet ab
bis die Wette wieder gilt.

Ein schaler Nachgeschmack bleibt, denn das Ukraine-Poem ist ein hässlicher Fleck auf Brodskys sonst weisser politischer Weste. Genaugenommen war der Dichter kein Demokrat: Kunst und Kultur sind aus seiner Sicht keine kritischen Partner der Macht, sondern eine Gegenmacht, die der Zeit ihren Stempel aufdrückt – nicht umgekehrt. Wenn Brodsky Dichtung sagt, meint er sich selbst, und nicht von ungefähr verglich er sich gern mit Ovid, der dem Kaiser, der ihn ans Schwarze Meer verbannte, in Hassliebe verbunden blieb. Nicht die römische Republik, das Imperium ist sein Bezugspunkt, ein Weltreich wie Russland und ein Vielvölkerstaat, wo Dichter Sand im Getriebe waren.

Dieses imperiale Selbstverständnis stiess an seine Grenzen, als die Ukraine nach 1991 zu neuen politischen Ufern aufbrach. Den demokratischen Aufstand auf dem Maidan hat Brodsky nicht mehr erlebt, aber schon in einer Polemik mit Milan Kundera erhob er Einspruch gegen die Gleichung: „Westen = Europa = Demokratie“, „Osten = Asien = Diktatur“, in der für Autoren wie Tolstoi und Dostojewski kein Platz war.

Das verstehe, wer will: Die Russisch-Dozentin, die mich durchs Literaturmuseum von Odessa führte, lobte Brodskys Schmähgedicht in den höchsten Tönen und sprach sich zugleich für die ukrainische Unabhängigkeit aus, die Brodsky in seinen Versen ja verdammt hatte.

Hans Christoph Buch, Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2022

Weitere Beiträge zu diesem Gedicht:

Michaeil Rykin: Genie und Narr – „Lebt wohl, Chochols!“: wie aus Joseph Brodsky das Schähgedicht „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ herausbrach

Eva Hepper: Wie Joseph Brodsky zum Ukraine-Hasser wurde

Olga Martynova: „Borschtsch“ „Schtschi“ und Brodsky

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