PROLOG
Ein Beben
geht durch den Vers,
die Seismographen schlagen aus,
der Jamben straff gespannter Bogen bricht,
der Reim,
der in sich selbst verliebt,
stirbt ab.
Die Sprache
steht vor uns auf,
nackt,
und wirft das Halseisen
zu Boden.
Vers libre,
mit dir
will ich die Wahrheit
befreien,
und wenn die Erde aufschreit,
nachts,
sei wie das Gras,
das immer wieder sich
erhebt.
Hanns Cibulkas Gedichte entwerfen mit wenigen Strichen Landschaften. Die böhmischen Weinberge seiner Kindheit, die vom Rauch des Krieges verhangenen Marmorbauten und Olivenhaine Italiens und die thüringische Heimat werden sichtbar. Sie sind Stationen der Biographie und zugleich Bezugspunkte eines Lebensverständnisses, das Harmonie zwischen Mensch und Natur nicht als Idylle, sondern als widersprüchlichen Weg der Menschwerdung auffaßt. Dabei wird dem Dichter die Zwiesprache mit Kunstwerken zur Begegnung mit souveräner menschlicher Schöpferkraft.
Verlag Neues Leben, Ankündigung in Gyula Illyés: Poesiealbum 180, 1982
schreibt und liest sich Cibulkas Dichtung. Der leuchtende Atem, der durch sie hindurchgeht, das Leisgemalte seiner Lautmalerei vollzieht sich im Wechselgesang der Vokale aus Farbe und Musik. In ihnen wägt und wiegt der umgängliche Mensch Würde und Welt und zeigt uns die Metapher ihr Gemüt. Die Liebe braucht noch ihren Schwalbenhimmel, das Leben seinen Rebstock und auch der Wind, der zeitlos uns betroffen, verständlich und vergänglich macht, seine lebensbewußte Anschaulichkeit.
Walter Werner, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1982
– Zu den Gedichten Hanns Cibulkas. –
I
Komm, tritt ein in das Gespräch…
Gedichte von Zeitgenossen, die man seit Jahren kennt, weil man, den Autoren verbunden, an ihrem Erscheinen Anteil hatte, üben bei der Wiederbegegnung einen zwiespältigen Reiz aus. Man weiß ja um die Voraussetzungen und: Schwierigkeiten ihres Entstehens und hat dafür die entsprechenden Zeilen parat. Man kann sie zitieren. Verse, bei denen vergessene Erinnerungen aufsteigen, scheinbar Bekanntes, kaum noch bewußte Situationen, erhalten zugleich einen lautlosen Untertext, der mitzusprechen beginnt. „Wo beginnen?“ fragt ein Gedicht und antwortet:
Dort, wo deine Fragen
offen sind.
Hanns Cibulka hat in einer Tagebucheintragung seiner „Dornburger Blätter“ von 1972 zu beschreiben versucht, was uns Gedichte, so gelesen, bedeuten können. Er spricht über Rilkes „Mich rührt so sehr / böhmischen Volkes Weise“, das er mit fünfzehn Jahren in einer „Stunde inneren Offenseins“ zum erstenmal las:
Ich wußte nicht, was es war, es war da… Jäh trat das Phänomen des Werdens, das Gesetz der Entfaltung, der Verwirklichung des eigenen Daseins in mein Bewußtsein. Zugleich fühlte ich eine undefinierbare Angst in mir aufsteigen. Diese Angst war nicht gesellschaftlich bedingt. Was wußte ich damals schon von der Klassenauseinandersetzung in meinem eigenen Land? Vielleicht war es die Angst vor dem Verrinnen der Zeit… oder es war die Angst vor dem In-die-Welt-geworfen-Sein, dem Hinausgetriebenwerden, ein Funke jener kosmischen Angst, der Weltenangst, die den Werdenden immer überfällt?… In solchem Sich-selbst-Bewußtwerden liegt die entscheidende Signatur unseres Lebens, hier liegt aber auch, ob wir es annehmen oder nicht, das Gravitationsfeld bis weit über den Tod hinaus..
Natürlich erklärt Cibulka mit dieser späten Deutung eines frühen Leseerlebnisses nur, was ihn selbst dazu brachte, Gedichte zu schreiben: Der innere Impuls, der sich darin offenbart, „daß es Augenblicke gibt“ wo das Leben nicht mehr linear, nicht mehr flächenhaft sondern mit vielen Dimensionen, Räumen, die einander durchdringen, auf uns zukommt – manchmal mit einem einzigen Vers. „Getroffen von einem Tag, / der keine Lüge kennt“ – lautet er im Gedicht über die Landschaft bei Dornburg. Er tritt hervor im Bild des „heimatlosen Engels“, der ihn zeitlebens begleitet und für den es viele Namen gibt, aber keine endgültige Gestalt:
Seit meiner Kindheit
stellst du mir nach…
Er schreckt uns – Furcht vor dem wortlosen Raum – im Ruf der „Sybille von Cumä“:
Stimmen… Dann
rede ich in Zungen…
Er erscheint – Funke jener kosmischen Angst – als sichtbares Zeichen:
… was nicht mehr lesbar
unter der Asche
steht auf.
Daß es dem Sprecher notwendig ist, sich in dieser Welt zwischen Herkunft und Zukunft zu orientieren in einem ständigen Zwiegespräch aus Angst und Hoffnung ohne gültige Antwort, das gibt solchen Versen schließlich den inständigen Ton und die Geste, daß wir ihm zuhören: zu günstiger Stunde und, das Gespräch aufnehmend, zu erwidern versuchen.
Da ist kein Anlaß zu gering, keine Vision unvorstellbar, um nicht in ihnen zu lesen und etwas von unseren Erwartungen oder Befürchtungen zu finden. Mag er sich dabei auch ins Wort fallen – „Worte, / geschunden, / getreten, / ausgewiesen, / zurückgeholt / und wieder verleugnet“ – mag er nach der genauen Bezeichnung fahnden, nach dem unvergleichlichen Bild vergeblich suchen, es treffen, es verfehlen; auch die noch sichtbare Mühe spricht von dem, wonach man strebt und unterwegs ist – „Da geht / so manches noch von Land zu Land / unausgesprochen…“ Botschaften und Anfragen, die uns zugerufen werden; die man nach- und mitsprechen kann wie Verfügungen oder Warnungen. Cibulka spricht von der „Bruderschaft im Wort“. Kann ich andeuten, worauf seine Gedichte aus sind?
Für seine Gespräche mit Tschu, einem imaginären Ost-West-Dialog zwischen abendländischen und östlichen Ansichten über große Entfernung und Jahrhunderte hinweg – Unterhaltung, wie sie heute, käme die Welt aus ihrer selbstzerstörerischen Gefährdung zur Besinnung, vielleicht wirklich in irgendeinem Garten stattfinden könnte –, fand Hanns Cibulka Gleichnisse im alten chinesischen Buch I Ging. Da ist – als ein Beispiel – das Bild eines Baumes auf dem Berg das Schriftzeichen für den Begriff Entwicklung. „Der Baum ist weithin sichtbar“ – heißt es dazu im Kommentar – „und seine Entwicklung ist von Einfluß auf das Landschaftsbild der ganzen Gegend.“ „Wo immer / der Baum auch steht, / der Wind / wird ihn erreichen“, hieß es im Gedicht Cibulkas auf den chinesischen Lyriker „Po Chü-I“. Der Baum wird zum Sinnbild menschlicher Persönlichkeit. Sein Wachstum – heißt es – „geht allmählich vor sich. Die Wirkung auf die Menschen kann auch nur allmählich sein. Eine plötzliche Beeinflussung oder Erweckung ist nachhaltig.“
Ich lese mit Versen Cibulkas in meiner Hand:
Wege,
wer hat sie eingezeichnet…
Was wandert da
nicht alles mit uns fort…
Gelebte
Landschaft,
was sich hier einschreibt,
größer
als jede Galaxis.
II
Ein halbes Leben
habe ich versucht
deine Landschaften zu entziffern…
Die Gedichte Hanns Cibulkas, seit 1953 in nunmehr sieben Bänden vorliegend, haben nie Schlagzeilen gemacht. Weder standen sie im Mittelpunkt literarischer Debatten, noch waren sie Gegenstand kulturpolitischer Polemik, wie erst jüngst sein Prosabuch Swantow in der Debatte über Umweltbedrohung. Sie wirkten auf andere, stille Art.
Sprach man dennoch in der Öffentlichkeit von ihnen, nannte man sie gern „problematisch“. Ein Dichter, der im Bild den widerspruchsvollen Gedanken zu fassen suchte, der für abstrakte, naturwissenschaftliche Begriffe die Metapher finden wollte, mithin das sinnlich Wirkliche im theoretisch Unwirklichen, das Irreale in der Realität – und dies alles, „hier darf der Dichter Grenzen überschreiten, die dem logischen Denken verwehrt sind“, auf dem begrenzten Spannungsfeld des Gedichts – zweifellos eine problematische Natur.
Die Kritik achtete seine begabte „Gestaltungskraft“, nicht ohne einzuschränken, daß er sich seinen schöpferischen Intuitionen nicht frei und bedenkenlos überließ, also Wirklichkeit „singend heraufbeschwor“, sondern, mit dem modernen wissenschaftlichen Instrumentarium durchaus vertraut, der poetischen Landschaft gegenübertrat und scheinbar nüchtern konstatierte:
Zwischen Meßlatte
Winkelspiegel und Prisma
das alte Bild
eine Brücke
über den Fluß…
Andererseits vermißte man materialistische Konsequenzen, wenn seine Gedanken – „Der Himmel, / ein offenes, Tor / für den Wind. / Niemandsland“ – nicht mit dem gewohnten oder verordneten ideologischen Konzept übereinstimmten, sondern eben diese Divergenz zwischen objektiven Fakten und subjektivem Gewissen auszutragen und bildhaft zu „definieren“ suchten:
Nicht meßbar
die Schatten der Bäume,
die Spiele der Kinder,
unauffindbar
bleibt in der Landschaft
die Erinnerung
stehen.
(„Geodäsie“)
Solche poetische Landvermessung kannte man nach Anschauung und Diktion weder in der liedhaften Lyrik, wie sie seit Beginn der fünfziger Jahre agitatorisch und apologetisch im Schwange war (Cibulka gehörte zum Arbeitskreis junger Autoren in Thüringen), noch von der dialektisch-didaktischen Schule Brechts, die Natur und Landschaft nur im Wechselverhältnis zu den kausalen gesellschaftlichen Bedingungen erkannte. Bei aller Berührung und Verführung, die von solchen Zeitströmungen ausgingen, denen man sich nur schwer entziehen konnte (verfehlte Übungen in balladesken Reimstrophen, in bemühter, gesellschaftskritischer Chronik finden sich in seinem ersten Band Märzlicht von 1953), stand Cibulka (wählt man die gültigen Versblöcke von damals – „Ukrainisches Largo“ und „Arioso“ – und meidet manche rhetorisch-forcierten Stücke danach) eigentlich abseits von solchen Richtungen. Er konzentrierte sich schon früh auf die für ihn allein wesentlichen existentiellen Erfahrungen: … „Krieg, der ständige Umgang mit dem Tod… die Begegnung mit Halina… und nicht zuletzt der Verlust meiner Heimat“ – und erkennt in ihnen sein Lebensthema.
Diese Erlebnisse waren stärker als alles, was in den letzten dreißig Jahren auf mich zukam; sie packten mich dort, wo der Mensch am verwundbarsten ist. („Liebeserklärung in K.“)
Während er beständig auf solchen Motiven beharrt, löst er sich zugleich in seiner Sprache Schritt für Schritt von den klassischen Traditionen und Formen, die ihm zunächst maßstabgebend waren: vom Hexameter Homers –
Fremd allen fröhlichen Menschen ließ uns der Krieg aller Kriege…
von den schönen, aber auch „hermetisch abgeriegelten“ Strophen Platens –
Was nützen tausend Zungen meinen Scherzen…
vom elegischen Pathos Hölderlins –
Ich kam dir entgegen / an der Mauer von Syrakus / fliehendes Vaterland…
von Georg Trakls dunkler Schwermut –
silberne Tröstung
Er beginnt sich freizuschreiben und findet im „Vers libre“ –
der Jamben straff gespannter Bogen bricht –
die Gangart, seine Gedichte zu strukturieren; seine Sehweise nah dem sich schließenden, geprägten Bild, aber auch offen dem einfallenden, reflektierenden Zweifel an solcher Geschlossenheit – Diskrepanzen im Gedicht, denen er sich nicht entziehen kann, auch weil er es nicht will. Vor allem: Ohne die Dichtung, wie es üblich war, nur als Vehikel des weltanschaulichen Bekenntnisses in der aktuellen politischen Auseinandersetzung zu betrachten.
Ihm ist das poetische Bild, so wird er es rückschauend für sich beanspruchen, „Offenbarung. Es kennt die Zusammenhänge der Welt… verbindet die entgegengesetzten Ufer… weiß um die Verwandschaft aller Dinge… Gibt der Natur auf einer höheren Ebene das zurück, was die Idee, die Weltanschauung von ihr gewonnen hat“ (Sanddornzeit). Er spricht von der „Tranzendenz des Lebens“, die es im Gedicht sichtbar zu machen gilt; philosophische Perspektive, wie sie freilich in den ästhetischen Diskussionen nicht in Erwägung gezogen wurde.
Was veranlaßt ihn zu solcher Bestimmung des Poetischen? Hanns Cibulka, 1920 geboren in der damaligen ČSR, einem kleinen Vielvölkerstaat, stammt aus einer Stadt im Mährischen, das sich ihm als Kindheit und Heimat – „Landschaft / mit den Kinderaugen“ – so unverrückbar einschreiben wird, daß er sie, die er nach 1945 verlassen muß, bis heute nicht / verliert. „Das Sternbild Heimat / leuchtet / wortlos“ – lautet ein Vers („Musica antiqua bohemica“), und er meint nicht Sprachlosigkeit und Verlust, sondern, wie er es einmal selbst in Prosa deutet: „die Landschaft, in der ich geboren bin, schwingt in mir mit, ein Rhythmus, den man nicht in Worte fassen kann. Hier ist die Musik der Dichtung überlegen.“ Musik, die auch in manchen seiner Verse mitklingt, ja, deren Komposition organisiert. Böhmen, mit den Zeugnissen seiner Geschichte – „Libussa“ –, mit seiner Kunst – „Matthias Bernard Braun“ und seiner Musik – „Antonin Dvořak” – ist für ihn nicht nur ein Stück Vergangenheit, die man, sie „bewältigend“, aufruft. Kindheit nicht nur eine naive Lebensphase, die man nostalgisch als Motiv wiederaufleben läßt. Nein, Böhmen – und hier weiß man nicht, wo man beginnen und enden sollte zu zitieren – wird zu einem Kraftfeld, das in alle Bereiche ausstrahlt mit allen nur möglichen Impulsen, verkörpert in seinen Pflanzen; „Silberdistel, Weichselbaum“ und „Rebstock“, seinen Vögeln, „Schwalbe“ und „Nachtigall“, der Landschaft, „edle Berge Böhmens kamen auf dich zu“, dem Geist seiner Bewohner, „viele / geöffnete Fenster / hat in Böhmen / der Traum“.
Mit solchen Markierungen wird, ein Maß gesetzt, Heimat von Unbehaustsein, Liebe von Nichtliebe, Menschsein von Unmenschlichkeit getrennt.
Cibulka erläutert dazu in einem Brief:
Immerhin habe ich meine Jugend in einer halbwegs intakten bürgerlichen Demokratie verlebt, unter Masaryk und Beneš. Mein Vater, Appreturmeister in einer Tuchfabrik in Jägerndorf, war alter Sozialdemokrat, Mitglied der Gewerkschaften; mein Elternhaus war keineswegs nationalistisch eingestellt. Für meinen Vater war die Besetzung der deutschsprachigen Gebiete 1938 eine Niederlage, für ihn war der Krieg 1939 bereits ein verlorener Krieg. Meine Gedichte sind nicht nur das Ergebnis des Krieges selbst, da und dort ist auch die geistige Haltung meines Elternhauses ablesbar.
Sicher erklärt sich aus solchen Zusammenhängen, daß Worte wie „Vaterhaus, Muttersprache“ und „Vaterland“ wie auch Symbole der katholischen Kirche „Gottesmutter, Engel“ und „Auferstehung“, für Cibulka noch einen Wert, einen höheren Sinn haben als den, der ihnen durch den Mißbrauch im Munde falscher Zeugen schon abhanden gekommen ist.
Vorfahren Cibulkas kommen aus der Ukraine, und er, gezeichnet von der ersten Liebe zu einem polnischen Mädchen, die als Halina-Gestalt durch seine Bücher geht, fragt sich nicht nur einmal: „Warum war deine Muttersprache deutsch und nicht tschechisch, slowakisch oder polnisch?“ Welches Schicksal hat ihn geschlagen, ausgerechnet ein Deutscher zu sein? Die Frage – er geht ihr nach, wie sie ihn ständig verfolgt – ist nicht gültig zu beantworten. Seine Nationalität nimmt er als Verantwortung an: „schon durch die Muttersprache wurde dein Leben entscheidend bestimmt“; von der Geliebten wird er durch die Kriegsereignisse für immer getrennt, er schreibt ihr seine innigsten Liebesgedichte, eines von 1983 schließt mit der uneinlösbaren Hoffnung:
Im Menschen sein
dieses späte Zuhause.
Vaterland ist ihm mit Hölderlins Anmahnung – „Daß aber uns Vaterland nicht werde / zum kleinsten Raum“ – schließlich der geographische und gesellschaftliche Ort, dem er sich zugehörig fühlt – „Die anderen / reden vom Fortgehen / ich bleibe“ –, nicht ohne in seinem Namen gegen engstirnige Behauptungen und nationalistische Anmaßungen anzugehen, wird zum Prüffeld für die eigene, sinnvolle Mitarbeit – „und doch / bin ich voll Sorge, Land, / daß du mir offen bleibst“ – bleibt utopisches Territorium – „kein Theorem, / das nur dem Staat / in seine Hand gegeben“ („Lagebericht“) – nach dem man sich, um endlich heimzufinden, inständig sehnt, unerschöpfliches tema con variazioni:
Keine Hymnen
habe ich dir geschrieben…
Ein halbes Leben
habe ich versucht
deine Landschaften zu entziffern…
So vieles
hat in unserer Sprache
noch Raum…
Wer es will findet in Cibulkas Gedichten hinter den Stationen „äußeren Lebens“ die innere Biographie, den Sprecher, der auf der Suche nach Heimat über Grenzen und Länder hinweg nichts als „unsere Erde“ meint, „mater terra, die meine Vergangenheit ist, / meine Zukunft“.
Sicher hat Italien in ihm den Dichter erweckt, die „mediterrane Landschaft; die mein Gesprächspartner wurde“, die ihm erst die Augen öffnet für Farben und Licht, „ohne Romantik, weitab von Stimmung und Traum“ (Sizilianisches Tagebuch, 1960). Es ist die karge, unerbittliche Region Siziliens, der er unmittelbar nach dem Kriege als Gefangener ausgesetzt ist, dem Belesenen bisher nur vertraut als „Garten der Ideen“, von dessen sozialer Realität er fast nichts weiß. „Ich sah nicht die Ruderer im Rumpf der Schiffe“, reagiert er eine Zeile Hofmannsthals aufnehmend. „Zehn Jahre später… wurde das Gedicht unter völlig anderen Voraussetzungen geschrieben.“
zwischen den Ruderern
saß ich…
Und wieder ist es Italien, das ihn herausfordert.
An seinen Aufzeichnungen Umbrische Tage (1963) kann man es ablesen, wie im Prozeß des Wahrnehmens, Nachdenkens und Formulierens der Unterschied von Prosa und Vers sich abzeichnet, wenn er erste Eindrücke skizziert, dafür nach Wortfügungen sucht und sich schließlich zu Sätzen vortastet, die dann im Gedicht poetische Dimensionen gewinnen.
Caprarola – liest man im Tagebuch – ist ein Dorf ohne historischen Glanz. Seine Häuser, lichtgebrannte Würfel, wahllos übereinander gesetzt. Sie gleichen in ihrer Farbe dem Fels… ein stiller, braungelber Ton, einförmig und ernst… Ein heißer staubiger Glanz lag auf den Feldern… Die zarten Äste der Mandelbäume berühren den Boden, gebeugt von der Last der filzgrünen Früchte…
Papst Leo X. hat 1521 beschlossen, unweit von Caprarola eine gewaltige Festung zu bauen… Dreißig Jahre später… hat Vignola auf dem Fundament ein Lustschloß errichtet. Um einen runden Innenhof baute er den Palast, ein riesiges Fünfeck… Die Stunde war vom Licht des Himmels ausgelotet… Unter der sengenden Hitze war das Leben eingeschlafen… Jahrhunderte drängen sich, in meinem Blick zusammen. Ein seltsames Fluidum hüllt die Berge ein. Caprarola, ich kenne dich entblößt und verschleiert. Ein unnennbares Heimweh fällt mich an.
Was in Prosa als erste Ansicht, informative Erläuterung und langsam aufkommendes Gefühl geschildert wird, erhält im Gedicht gegenwärtige Bewegung, die verschiedene Zeiten und Erscheinungen in einem Zugriff erfaßt und ohne Zögern und Sentiment konstituiert. Was uns trifft, geschieht, zwischen den Zeilen, in den Pausen zwischen den Versblöcken:
In dieser Landschaft
hat die Stunde
aufgehört
zu sterben.
Lateinische Texte
redet der Fluß.
Vignola
kommt die Treppe herab,
Reißbrett und Schiene
unter dem Arm.
Die Häuser,
lichtgebrannte Würfel,
ein Spannungsfeld
zwischen Pinie
und Architektur,
Nur die Mandelbäume
sind voller
Zärtlichkeit.
Jenseits der Alpen
liegen die Hymnen
an die Nacht.
Hanns Cibulka hatte es schwer, die poetische Betrachtungsweise mit ihrer knappen Skandierung der Verse, die er sich aus solcher Miterfahrung erwarb – er rühmt die ihm vorbildliche, körperhafte, auf wenige Linien konzentrierte Sprache Ungarettis –, an der ihm spröden, auch verschwimmenden Landschaft nördlich der Alpen zu erproben. Da lag ihm Klassizistisches näher als Romantik oder Lied, Brecht oder Moderne. Auf Hiddensee – „weder Schauplatz großer Kulturen, noch sind die Radien der Weltgeschichte durch dieses Land gegangen“ – verweist ihn Gerhart Hauptmann stärker auf die Antike als auf Gegenwärtiges, das ihm nur prosaisch näherkommt. Erst die heitere, domestizierte Natur um das thüringische Dornburg, das ihn mit barocker Grazie und alten Weinhängen – „dem sonnengelben Fels“ – an Umbrien erinnert und mit Texten Goethes wahlverwandt ein geistiges Umfeld erhält, bricht den Bann und führt ihn auf seltsamen Wegen an seinen Ursprung zurück – „Hier finde ich / die alten Zeichen wieder“. In Gehölz, Blatt und Traube des Rebstocks – „er / geht in mein Leben ein, / nicht die Eiche“ – treffen sich in seinem Gedicht endlich südliche und nördliche Hemisphäre. Kindheit und Ursprünglichkeit – „wuchs mir als Kind / ein Rebblatt durch die Wiege?“ – bleiben in seinem Zeichen ungetrübt und unsentimental zur Verfügung. Erwachsenendasein, notwendiges Tätigsein und Desillusionierung – „dreißig Jahre / im Schatten / der Thüringer Berge“ – kommen in seinem Wachsen und Reifen mit zur Sprache; Hanns Cibulka findet in der Pflanze; die ein Stück Natur blieb, weil der Mensch sie nur nutzen konnte, wenn er sie in ihrer Natur erkannte, die Metapher für unsere Existenz – „hier, / wo der Wein / den Frieden beschwört“ – für den Bestand unserer Erde das lebendige Wort:
… in einer Sprache
daß selbst
der
aaaleere
aaaaaaaRaum,
der zwischen
meinen Worten steht
noch
spricht.
(„Sybille von Cumä“)
III
Ich weiß nicht
wie weit die Sprache
trägt…
Der Mensch sucht in ihm irgendwie adäquater Weise ein vereinfachtes Bild der Welt zu gestalten und so die Welt des Erlebens zu überwinden, indem er es bis zu einem gewissen Grade durch dies Bild zu ersetzen strebt. Dies tut der Maler, der Dichter, der spekulative Philosoph und der Naturforscher, jeder in seiner Weise. In dieses Bild und seine Gestaltung verlegt er den Schwerpunkt seines Gefühlslebens, um so die Ruhe und Festigkeit zu suchen, die er im allzu engen Kreise des wirbelnden und persönlichen Erlebnis nicht finden kann.
Kein Schriftsteller beabsichtigt mit solchen Sätzen, knapp Prozeß, Methode und Ziel seines schöpferischen Vorgehens zu bestimmen; kein anderer als der Physiker Albert Einstein sagt sie 1918 in einer Rede auf Max Planck, den Schöpfer der Quantentheorie.
Ich weiß nicht, ob Hanns Cibulka sie kennt; aber er versucht sich seit Jahren Bilder davon zu machen, die kaum noch übersetzbare Begriffswelt der modernen Naturwissenschaft in die kommunikative Sprache des Verses zu bringen, um das schwierige Gespräch zwischen unserer Alltagsgeschäftigkeit – „wo nur das Sichtbare / herrscht / hinter den Zäunen?“ – und der davon scheinbar weit entfernten theoretischen Forschung aufrechtzuerhalten:
Wer riß sie ab,
die wortgewaltige Traube,
die Gespräche
zwischen Stock
und Blatt?
Ich weiß nicht, ob ein solches Unternehmen eigentlich Angelegenheit der Dichtung ist, man kann es bezweifeln; aber Cibulka hat es zu seiner und damit auch zu ihrer Sache gemacht; und die Mühe, solche Problematik zu gestalten – Prozesse, die zwar jenseits „des Erlebens“ vor sich gehen und doch mit ihren sichtbaren Ergebnissen und Folgen für uns längst auch lebensbedrohend geworden sind –, wird ihm dabei zum Experiment, Sprache für eben dies Nicht-Sichtbare und kaum noch Beschreibbare zur Verfügung zu haben. Es herrscht hier die dünne Luft – aber das ist auch schon wieder eine Umschreibung! – des „Höhenphänomens“, wie es der Testpilot oder der Raumflieger empfinden mag; Zustand und Gefühl, für die er noch kaum die rechten Begriffe, hat:
Die Zwischenwände
unserer Worte
stürzen ein,
die Buchstaben
fallen
aus.
Auf der Netzhaut
ätherische Landschaften,
Engelsbilder,
körperlos…
Und da ist keiner, „der dies Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“, wie es Rilke noch sah, dessen Engel sich bei Cibulka körperlos aufhebt. Dies aber ist keine Konstellation, die heute nur die Dichtung beträfe.
Werner Heisenberg – und da weiß man, daß ihn Cibulka gelesen hat – beschreibt, daß die Sprache der klassischen Physik ungeeignet ist, die atomaren Phänomene adäquat theoretisch zu bezeichnen, daß man aber auf sie angewiesen ist, „weil wir keine andere Sprache besitzen“. Er nennt die Quantentheorie „ein wunderbares Beispiel dafür, daß man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, daß man mir in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann. Die Bilder und Gleichnisse, das sind hier im wesentlichen die klassischen Begriffe, also auch ,Welle‘ und ,Korpuskel‘. Die passen nicht genau auf die wirkliche Welt; auch stehen sie zum Teil in einem komplementären Verhältnis zueinander und widersprechen sich deshalb. Trotzdem kann man, da man bei der Beschreibung der Phänomene im Raum der natürlichen Sprache bleiben muß, sich nur mit diesen Bildern dem wahren Sachverhalt nähern.“
Von Anfang an
hast du dich meinen Blicken
versagt…
warst Welle
und Korpuskel zugleich,
nicht faßbar…
Überträgt Cibulka die heisenbergsche Feststellung in sein Gedicht „Atom“ und muß selbst diese Unfaßbarkeit, um sie in ihrer Grenzenlosigkeit vorstellbar zu machen, mit einem „konventionellen“ Bild ausdrücken:
nicht faßbar
wie die Woge
im Meer…
Transponiert also, wie der Physiker auch, unsere gewohnte Anschauung auf die Vorgänge im mikrokosmischen Atommodell. „Wir müssen uns klar darüber sein“, heißt es bei Heisenberg, „daß die Sprache hier mir ähnlich gebraucht werden kann“; und ergänzt, seinerseits, nach einem Vergleich der exakten Naturwissenschaften suchend, „wie in der Dichtung, in der es ja auch nicht darum geht Sachverhalte präzise darzustellen, sondern darum, Bilder im Bewußtsein des Hörers zu erzeugen und gedankliche Verbindungen, herzustellen.“
„Vorbei / die euklidische Stille / der Welt“ – resümiert Cibulka, wenn er die Unzulänglichkeit der klassischen geometrischen Mathematik vor den kosmischen Größenordnungen darstellen will und damit die Bannmeile durchbricht, die das poetische Sprechen – „Engel der Intuition“ – hindert, in den Raum des Abstrakten vorzudringen. Freilich kann es ihm nicht nur darum gehen, wissenschaftliche Komplexe lyrisch zu demonstrieren. Aber das Gespräch darüber zu beginnen, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, die uns hindert, den Bereich des pragmatischen, naturwissenschaftlichen Denkens aufzubrechen, wird ihm immer notwendiger. Kommt ihm doch der philosophierende Physiker dabei als Dialogpartner entgegen, wenn er auf Grund seiner Forschungen zu dem Schluß kommt: „daß die landläufigen Einteilungen der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt; Körper und Seele nicht mehr passen wollen… Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst… Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein… Der Raum, in dem der Mensch als geistiges Wesen sich entwickelt hat, hat mehr Dimensionen als nur die eine, in der er sich in den letzten Jahrhunderten ausgebreitet hat… Hanns Cibulka sagt:
Losgesprochen
hat dich die Natur…
du bist mündig geworden,
du kannst dein eigenes Bild
in der Asche zertreten,
im Staub der Erde
den Rosenstock
pflanzen.
(„Losgesprochen“)
Als gewaltigen Aufbruch liest er die „kosmischen Zeichen“ für solche Veränderungen. Aber unseren Planeten nennt er „blaue Blume / im All“, nimmt damit das berühmte romantische Symbol wieder auf, das heute durch die bekannten Beobachtungen von Kosmonauten – der blaue Planet – seine optische Bestätigung fand, und vereinigt beide Elemente zu dem Bild, das uns die Schönheit und Zerbrechlichkeit dieser Erde offenbaren will. Er führt sein Gedicht, in Selbstgespräch und Diskurs mit uns als Mitbetroffene und Mitbeteiligte, bis an den Punkt, da es uns und ihm das Wort verschlägt – „Wort, das mir heute noch fehlt“ –? um dann von neuem zu beginnen:
Solange noch ein Wort
an deinem Auge sich entzündet
Leben,
bleibt das immer zu Nennende:
Erde, Wasser, Luft.
Gerhard Wolf 1984, aus: Gerhard Wolf: Wortlaut-Wortbruch-Wortlust. Dialog mit Dichtung, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1988
Heinz Puknus: Vor Zehn Jahren starb Hanns Cibulka – Gedenkstunde in Gotha
Thüringer Allgemeine, 20.6.2014
Hans-Dieter Schütt: Wie das Dunkel leuchtet
nd, 19.9.2020
Hans-Dieter Schütt: Der Langsamgeher
Thüringische Landeszeitung, 17.9.2020
Heinz Puknus: Hanns Cibulka zum 100. Geburtstag
Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 71, 2020
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