Hans-Georg Gadamer: Zu Ernst Meisters Gedicht „Gedenken V“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Meisters Gedicht „Gedenken V“ aus Ernst Meister: Gedichte 1932–1964. –

 

 

 

 

ERNST MEISTER

Gedenken V

Grün nun
des ersten Frühlings:
ein Blatt
scheidet die Lippen…
Wer ist tot, wer
lebt von uns zweien?

Einer ist da,
einer kommt.
Das Blatt zwischen uns,
Wie es duftet!

Grün ist das Schwarze
der langwährenden Zeit,
schwarz ist das Grüne.
Auf singender
wie verwesender Zunge
schläft
des Lebens Warum.

 

Das Blatt zwischen uns

Das letzte Gedicht einer Folge, die dem Gedenken an jemanden gewidmet wird, der dahingegangen ist. Ein Abschluß – vielleicht eine Bilanz? Ein Ende und Anfang? Wie jedes Ende ein Anfang?
Gewiß auch ein Anfang. Denn das erste Wort dieses Gedichts ist „Grün“, das Grün des ersten Frühlings. Doch zeigt sich, daß dieses Gedicht etwas ganz anderes sagen will. Das Grün spricht nicht wie ein erstes Versprechen, mehr wie eine Frage: was nun? Wie soll das „nun“ bestanden werden, das als das erste Entfalten eines Blattes kommt? Es „scheidet die Lippen“. Das erste Grün ist wie ein Öffnen der Lippen für ein Wort, das mir etwas sagen will. Aber nun ist die ganze Antwort des Gedichtes, die anhebt: es gibt nicht einfach nur den Überlebenden. „Wer ist tot, wer lebt von uns zweien?“ Die einfältige Eindeutigkeit des Am-Leben-Seins hält vor der Frage des neuen Hoffnungsgrüns nicht stand. Gewiß, man ist am Leben. Aber woran ist der, der am Leben ist? Ist er nicht einfach „dran“, ohne zu wollen, ohne ja zu sagen?
So scheint es zu sein. Die zweite Strophe spricht es aus: „Einer ist da, einer kommt.“ Es heißt nicht: einer ging, einer kommt. Es ist eine Aussage, die uns alle umfaßt, uns allen gemäß ist. Beides, Dasein und Kommen, meint das „Da“. Aber was ist das Da? Ist es wirklich das, wovon der, der gegangen ist, ganz und gar abgeschieden ist, wie durch das erste Wort des Frühlings, das Blatt zwischen uns?
Was so die Lippen scheidet, ist jetzt anders gesehen. Es ist zwischen uns da. Mochte das „einer-einer“ einen jeden von uns, uns alle, uns Menschen überhaupt meinen: das Blatt zwischen uns meint mich und dich. Aber es ist nicht länger nur das die Lippen scheidende, das sich entfaltende Blatt, das nur mich meint und nicht dich. Es ist da als Duft. Aber der Duft ist nicht des Blattes allein. Er ist in das „Da“ verteilt, verbindend und nicht scheidend. Dieser Duft ist so sehr da, daß er alles verbindet und einhüllt, selbst das, das nicht mehr da ist. Eine intime Affinität verbindet Duft und Spur, Duft und Gedächtnis. Duft, das Flüchtigste, das uns entgegenweht und so rasch verweht ist wie wir, ist in das Da verteilt.
So kehrt die letzte Strophe die Frage zur Antwort um. Das Grün ist nicht länger das Dieshier des neu sich entfaltenden Blattes, das das Schwarzgrau der winterlichen Äste belebt, und auch nicht das Grün der Hoffnung, das sachte das Schwarz der Trauer überwächst. Der Beginn der Strophe mit dem gleichen Wort „Grün“, mit dem die erste anhob, ist wie der Anfang einer Berichtigung. Es ist nicht länger das Grün, das über das Schwarz siegt. Grün und Schwarz sind, wie tot oder lebendig, Hoffnung oder Trauer, Sein und Nichts, ineinandergespiegelt und ununterscheidbar.
Das „Schwarze – der langwährenden Zeit“ – der Zeit, in der auf nichts gehofft wird, in der sich nichts als Grün der Hoffnung abhebt, ein dichtes, unartikuliertes Schwarz – ist selber grün, aber nicht grün wie alles Grüne ist. Denn „schwarz ist das Grüne“. Der Rhythmus dieser spekulativen Identität von Grün und Schwarz läßt die Antithese ganz und gar hinter sich. „Da“ ist nicht länger das Da dessen, der da ist, dessen, der sich weiß und im Da hält. Keiner weiß sich. Auch die singende Zunge, die von der verwesenden Zunge, der zum Lob des Da nicht mehr fähigen Zunge, ganz geschieden scheint, weiß nicht, weiß keine Antwort auf „des Lebens Warum“.
Warum das ein gutes Gedicht ist? Oh, vielleicht, weil es soviel wegläßt und doch eindeutig ist. Oder vielleicht, weil es das fast erschreckend Abstrakte des letzten Wortes, das „Warum“, so einfach hinsagen darf und so, daß man versteht: Es heißt „warum“ und nicht „wozu“. Man muß all die vielen Warumfragen mithören, die die Kinder fragen. Auch auf die Frage nach des Lebens Warum, diese Frage aller Fragen, kann keine Antwort genügen.

Hans-Georg Gadamer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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