Hans Hinterhäuser: Italienische Lyrik im 20. Jahrhundert

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Hinterhäuser: Italienische Lyrik im 20. Jahrhundert

Hinterhäuser-Italienische Lyrik im 20. Jahrhundert

DIE WENDUNG ZUR MODERNITÄT

Die Epoche der „modernen“ italienischen Lyrik beginnt in jenen Jahren, da sich in allen Kulturländern und auf allen Lebensgebieten der Abschied vom 19. Jahrhundert und der Durchbruch zu dem, was wir als „Gegenwart“ empfinden, abzeichnet: zwischen 1900 und 1915. Zur Vorbereitung dieser Wende hatte die italienische Intelligenz keinen ins Gewicht fallenden Beitrag geleistet: allzu sehr war sie befangen gewesen in ihren klassizistischen Überlieferungen und absorbiert durch ihre besonderen nationalen Probleme. Und als die staatliche Einheit endlich erreicht war, hatte sich der geistige Impetus fürs erste darauf konzentriert, den politischen Sieg literarisch noch einmal zu begründen und die „italienische Substanz“ in ihrer unitarischen Vielfalt zu entdecken und zu gestalten; das künstlerische Schaffen hatte sich im bewußten oder unbewußten Einklang mit der politischen und wirtschaftlichen Arbeit, mit der Ausformung der bürgerlichen Ideologie befunden. Zu dem bezeichneten Zeitpunkt jedoch wird eine rasch an Umfang gewinnende Krisenstimmung erkennbar. Man beginnt sich als rückständige Provinz zu fühlen; das zuletzt besonders von D’Annunzio zur Europäisierung der heimischen Literatur Geleistete wird als oberflächlich und ungenügend empfunden; die naive Selbstidentifikation mit den Triebkräften der materiellen Geschichte zerfällt, man beginnt ironischen, ja polemischen Abstand zu nehmen; das positivistische Ethos befriedigt nicht mehr die neuerwachten spirituellen Bedürfnisse; die alterprobten Gefäße der Kunst erregen Überdruß und gereizte Langeweile.
Drei literarische Gruppen bereiten in diesen Jahren die Wendung der italienischen Lyrik zur Modernität vor. In Anlehnung an den französischen und belgischen Symbolismus setzen die „Dämmerungsdichter“ (Crepuscolari) der geräuschvollen Lebensoberfläche die „mezza voce“ einer müden und leidenden, oft auch spöttischen Innerlichkeit entgegen, dem klassischen Schwung der dichterischen Rede eine rhythmische Prosa von zaghafter Intensität der lyrischen Empfindungen und Klänge. Die Futuristen schaffen einerseits, in vollkommener Übereinstimmung mit dem Geist der italienischen Gründerjahre, den literarischen Ausdruck des Glaubens der aktiven italienischen Bourgeoisie an den raschen und unabsehbaren technischen Fortschritt des Landes, aber auch ihres Nationalismus und Imperialismus; andererseits entfachen gerade sie das Pathos der „modernolatria“ und gebärden sich in ästhetisch-formaler und sprachlicher Hinsicht als rabiate Bilderstürmer des Vergangenen und „Musealen“, d.h. aller gebundenen, humanistischen und rationalen Formen der lyrischen Überlieferung. Und die Mitarbeiter der zwischen 1908 und 1916 erscheinenden Zeitschrift La Voce setzen sich die planvolle und intensive Erschließung alles zeitgenössisch Neuen zum Ziel: der Philosophien von James, Bergson und Blondel, der Dichtung von Mallarmé, Rimbaud, Claudel, Péguy und Apollinaire, von Ibsen, Tolstoi und Dostojewski; sie sehen Leben und Literatur in einem zeugenden Zusammenhang, machen Aufrichtigkeit und Ethos zu zentralen Kriterien des literarischen Schaffens, wenden sich bis zu einem gewissen Grad den realen Problemen ihres Landes zu, entwickeln andererseits eine gesteigerte kritische Feinfühligkeit für das Künstlerische und begründen mit dem poetischen Prosa-Fragment ein Ausdrucksmittel ihres modernen Weltverständnisses.
Widerspruchsvoll ist die Stellung des beherrschenden Geistes der Epoche, Benedetto Croces, in diesem Prozeß. Seine Estetica (1902) schien mit ihrer Gleichsetzung von Intuition und Ausdruck, mit ihrer Trennung von Poesie und Nicht-Poesie eine italienische Version jener Theorie der reinen Dichtung darzustellen, die seit der Romantik an verschiedenen Stellen allmählich entwickelt worden war. Doch als Kritiker verschmähte Croce die mögliche Führerrolle. Der neuen Literatur gegenüber hielt er sich ostentativ zurück; er verkannte Baudelaire und Mallarmé, und sein humanistisch bestimmter Geschmack ließ ihn – eine Ursünde für die junge Generation – Carducci über Leopardi stellen. Hinzu kam, daß sich die Anhängerschaft Croces auf das akademische Milieu beschränkte, mit dem die angehenden Dichter naturgemäß kaum Kontakte pflegten. Mehrfach bekannte z.B. Montale, er habe erst relativ spät die Estetica und ihre Fortsetzungen im Text gelesen, und seine ersten Freunde und Lehrer seien durchweg nur in sehr heterodoxem Sinne Crocianer gewesen. Diese Erklärungen möchten wir als symptomatisch betrachten.
In den genannten drei Strömungen also – den Crepuscolari, den Futuristen und dem Voce-Kreis – sind die Keime der künftigen Entwicklung angelegt, sie bilden die eigentliche Schwelle zur italienischen Moderne. Unnötig zu sagen, daß die neue Generation ein gut Teil ihrer Einsichten in der selbstbewußten Auseinandersetzung mit den Vätern gewann. Als solche galten auf dem Gebiete der Lyrik Carducci, Pascoli und D’Annunzio. Forschung und Kritik sind in den letzten Jahrzehnten nicht müde geworden, zu zeigen, wie vieles bereits im Werk dieser Trias in die Zukunft weist und wie vieles von den Späteren aus ihm übernommen und verwertet worden ist. Damit hat es – von einigen Fällen verkrampften Finderdranges abgesehen – zweifellos seine Richtigkeit; ebenso unbezweifelbar ist es jedoch, daß der schöpferische Impuls der neuen Dichtung auch diesmal nicht dem Willen zu einem behutsamen Weiterführen, sondern zum ungestümen Neubeginn entsprang. Dieser Gegensätzlichkeit wollen wir uns zunächst vergewissern – nicht durch allgemeine Erörterungen, sondern indem wir vier Gedichtpaare betrachten, aus denen konkret hervorgeht, wie bestimmte lyrische Motive jeweils von der letzten Generation der älteren und der ersten der nunmehr modernen italienischen Lyrik gestaltet worden sind; wobei das Wort „gestalten“ bereits andeuten will, daß bei diesen Vergleichen zwar dem Inhaltlichen sein unabdingbares Recht zugestanden wird, aber auch die jeweiligen Formeigenheiten keineswegs Übersehen werden sollen. Nur so können heute Deutungen von Gedichten vor dem hohen Niveau bestehen, das die Interpretation von Lyrik in den letzten Jahrzehnten erreicht hat.
Das erste Gedichtpaar, das wir vorlegen wollen, behandelt das Thema Abschied auf dem Bahnhof, begrifflich gesprochen: Liebe und Technik. Carducci löst seine Aufgabe folgendermaßen:

O die Laternen dort, wie sie langgereiht
So trübe blinzelnd hinter den Bäumen stehn
Und durch die regenschweren Zweige
Gähnend ihr Licht in den Pfützen spiegeln!

Mit kläglich scharfem, zischendem Tone pfeift
Das Dampfroß vor mir. Bleiern herunterhängt
Der Himmel, und der Herbstesmorgen
Schauert mich an wie ein großes Spukbild.

Wohin, wozu dies stumme Gewimmel, das
Dicht eingemummt die düsteren Wägen füllt?
Zu welchen unbekannten Schmerzen,
Oder den Qualen entfernter Hoffnung?

Auch du – nachdenklich gibst du, o Lydia,
Dem scharfen Schnitt des Schaffners die Marke hin,
Wirfst hinter dich der schönen Jahre
Flüchtige Freuden und Angedenken.

Es gehn und kommen in die Kapuzen tief
Verhüllt die schwarzen Wächter den Zug entlang,
Wie Schatten, trübe Handlaternen
Tragend und eiserne Stäbe; schaurig

Erklingt von straff sich spannenden Ketten ein
Unholder Laut. Vom Grunde der Seele tönt
Zurück ein schmerzlich müdes Echo,
Gleich eines Sterbenden Angstgestöhne.

Die hart ins Schloß geworfene Türe scheint
Mich zu verhöhnen, und wie ein Hohn erklingt
Die letzte hast’ge Scheidemahnung.
Schwer an die Fensterchen klatscht der Regen.

Nun schnaubt und keucht und regt sich das Ungetüm,
Wach wird die erzne Seele, aus offenen
Glutaugen starrt’s; wild durch das Dunkel
Schleudert’s den Pfiff, der dem Raume Trotz beut.

Aufbricht das Scheusal; schaurigen Flügelschlags
Entführt’s im wilden Zug die Geliebte mir.
Ihr weiß’ Gesicht, ihr zarter Schleier −
Grüßend entschwinden sie, ach, im Dunkeln.

O süß Gesicht von rosigem Blaß und ihr,
Tiefstille Sternenaugen, du leuchtende,
Aus blüh’nden Locken vorgeneigte
Stirne, umhaucht von der reinsten Anmut!

In Wonneschauern bebte mein Leben noch,
In Sommerwonnen, als sie mir lächelten,
Als noch die junge Junisonne
Unter den spielenden goldnen Lichtern

Des braunen Haars so zärtlich zu küssen kam
Die weiche Wange; gleich einer Glorie,
Noch schöner als die Sonne, kränzten
All ihren Liebreiz meine Träume.

Nun durch den Regenguß und die Finsternis
Kehr’ ich nach Haus; gern löst’ ich mich auf in sie.
Wie trunken tauml’ ich, forsche tastend,
Ob ich nicht selber schon ein Gespenst ward.

O welch ein Blätterfall auf meine Seele −
eisig, stetig, stumm und schwer!
Mir ist, als wär allein und ewig
und auf der ganzen Welt November.

Wohl dem, der seines Daseins Sinn verlor!
Besser dies Dunkel, diese Düsternis:
ich will – betten will ich mich
in eine Trübsal ohne Ende.

Die Endfassung dieses Gedichts stammt aus dem Jahre 1875. Es ist als lückenlose, in sich geschlossene lyrische Episode konzipiert und erzählt den Weg zum Bahnhof, das Passieren der Sperre, das Betreten des Bahnsteigs, das Schließen der Wagentüren, das Abfahrtssignal, das Anfahren des Zuges, das letzte Winken und die Rückkehr des Alleingebliebenen. Nicht weniger offenkundig ist das ungebrochene Weiterwirken der romantischen Gefühlsästhetik im Zusammenklang zwischen den Empfindungen des Dichters und einer beseelten Natur und Dingwelt: das lyrische Subjekt saugt die Düsternis des Herbstmorgens in sich ein und wirft zugleich den persönlichen Abschiedsschmerz auf die Außenwelt zurück; beide Momente bestätigen, kolorieren, verdichten einander. Als antithetische Fata Morgana blendet den Winkenden die Erinnerung an vergangenes Sommerglück. Die davonfahrende Geliebte aber ist bei aller poetischen Idealisierung dem Leser beinahe vorstellbar und jedenfalls personenhaft deutlich geworden. Und wirklich ist die junge Frau mit dem horazischen Namen Lydia eine konkrete und beurkundete Person: es ist Lina, die reife und kinderreiche Muse des mittleren Carducci. Schon die Zeitgenossen wußten sie zu identifizieren, wir Nachgeborenen können uns über die autobiographische Grundlage des Gedichts im Briefwechsel der beiden mühelos unterrichten und finden dort sogar, noch im prosaischen Rohzustand, die wichtigsten Motive des späteren Versgebildes.
Die zweite Schicht, die wir herauszulösen und zu kennzeichnen haben, ist klassizistischer Natur. Nach dem zutreffenden Urteil von Francesco Flora hat Carducci – man kann es nur auf Italienisch sagen – „classicizzato il romanticismo“. Wie alle Gedichte der Sammlung Odi Barbare versucht auch dieses die Nachahmung antiker Strophenformen, in diesem Fall der alkäischen Strophe, mit italienischen Mitteln. Nicht weniger als fünfmal begegnen (im italienischen Text) kräftig antikisierende Hyperbata. Vor allem aber – und das ist wohl das Kennzeichnendste – erscheint die feindselige technische Welt in humanistischer Verfremdung. Nicht ein „biglietto“, eine Fahrkarte reicht die schöne Lydia dem Beamten hin, sondern eine latinistische „tessera“, dieser selbst ist eine uneigentliche „guardia“, so wie bald darauf die Eisenbahner, abermals mit einem Latinismus, als „vigili“, ihre Gerätschaften als „mazze di ferro“, ihr Abklopfen der Bremsen im Rückgriff auf die lateinische Bedeutung als „tentare“ bezeichnet werden. Einen romantischen Topos, der sich seit Vignys Maison du Berger durch das ganze 19. Jahrhundert verfolgen läßt, stellt dagegen die Verungeheuerlichung der Lokomotive (des Dampfrosses, wie man im Deutschen sagte) dar, die als feuerspeiender, geflügelter Drache die Geliebte davonträgt. Um so Überraschender ist dann freilich der Schluß der 8. Strophe:
„Wild durch das Dunkel schleudert’s den Pfiff, der dem Raume Trotz beut“ – wirkt das nicht wie ein Vorgeschmack der technologischen Preisgedichte des Futuristen Marinetti? Tatsächlich gibt es beide Standpunkte bei Carducci: dem gefühlsbedingten Erschrecken vor der subjektfeindlichen Macht der Technik steht deren ideologische Verherrlichung in der Hymne an Satan gegenüber. In dieser Ambivalenz dürfen wir eine genaue Spiegelung der zwiespältigen Haltung des klassisch gebildeten, arkadisch empfindenden, aber politisch „progressiven“ Bürgerlichen des 19. Jahrhunderts angesichts der ersten massiven Manifestationen der Technik erblicken.
Und nun das gleiche Motiv, ein halbes Jahrhundert später, bei Montale:

Abschiede, Pfiffe im Dunkeln, Winken, Husten
und herabgelassene Fenster. Es ist soweit.
Vielleicht haben die Maschinenmenschen recht.
Wie sie aus den Gängen hervorscheinen, vermauert!

…………………………………………………………………….

− Leihst auch du der heisren Litanei
deines D-Zugs die grauenvoll
getreue Kadenz des Carioca-Lieds? –

Verschmähen wir es nicht, unsern Vergleich mit dem alleräußerlichsten Merkmal zu beginnen, der radikal verschiedenen Länge der beiden Gedichte! Das moderne stellt seinem Umfang nach grundsätzlich nur einen Bruchteil des älteren dar. Es ist und will sein: Fragment einer Totalität; denn diese Totalität glaubt man entweder nicht mehr bewältigen zu können, oder aber man hält deren Wiedergabe für redundant, pedantisch, kurz für ungeistig. Was aber für das einzelne Gedicht, das gilt jeweils für das Gesamtwerk: den vier stattlichen Lyrikbänden der Edizione nazionale delle Opere di Carducci stehen die drei schmalen Bändchen der ersten Manier Montales, den zwölfhundert Seiten Pascolis gut zweihundert von Quasimodo gegenüber. Ähnliches gilt für Ungaretti und selbst für den Produktivsten und Spontansten der hier Behandelten, für Saba, dessen Canzoniere immer noch weit hinter der ausufernden Quantität D’Annunzios zurückbleibt. Die Fruchtbarkeit der modernen Lyrik ist, wie H. Friedrich festgestellt hat, „eine Fruchtbarkeit der Intensität“.
Wenn wir nun die beiden Beispiele näher vergleichen, so sehen wir, daß Carduccis runde Fabel bei Montale zu zwei kurzen Fragmenten zerfallen ist, deren erstes seinerseits aus logisch unverbundenen, abrupten, ätzend prosaischen Feststellungen besteht. Das lyrische, um nicht zu sagen melodramatische Pathos des Vorgängers ist kalter, klangloser Trockenheit gewichen, die schwingungsreichen, kunstvollen Perioden haben sich zu Stichworten oder monotonen Sätzchen verkürzt; an der Stelle der früheren Beseelungen stehen entpersönlichende, objektivierende Plurale.
Die Technik, bei dem älteren Dichter als subjektfeindliches, aber erst in Vereinzelungen auftretendes Phänomen beschrieben, ist nun zur erdrückenden Allmacht geworden, so daß der Dichter, halb ironisch, halb melancholisch, die empfindungslosen Roboter glücklich preist. Und endlich hat die davonfahrende Geliebte alle Leiblichkeit verloren, vor allem aber jede Eignung zur dichterischen Idealisierung. Leere Unruhe, alberne Schlagerrhythmen – die „Carioca“ war ein brasilianisches Tanzlied der zwanziger Jahre – bilden ihre seelische Substanz, und was der Abschiednehmende hinter ihr dreinschickt, ist kein wehmütiger Blick, kein glückliches Erinnern, kein empfindsam geschwenktes Taschentuch: es ist eine skeptische, misogyne, verzweifelte Frage.
Das nächste Beispielpaar handelt vom Thema Krieg. Zuerst noch einmal Carducci mit dem Sonett „In Santa Croce“:

Nicht Lieder, nicht Girlanden und nicht Psalmenklänge
Spende man den Schatten der toten Krieger:

Blutopfer weihte Griechenland den Dreihundert
in der rauhen Zeit der Kämpfe.

O freie, dem Tode heilige Legionen,
Hierher kommet zu des Todes Denkmal,
Hier sprecht den schreckenschweren Schwur,
auf daß erschalle er im Angesicht des Herrn.

Beim Blut der Helden, bei den zerbrochenen Brüsten
der Greise, beim Klagelaut, der sich entringt
den Wunden von Müttern und von Kindern:

Krieg den Deutschen, unermeßlich ew’gen Krieg,
daß keiner wiederseh’ sein Vaterhaus
und Grab für alle werde die ital’sche Erde.

Das Gedicht ist mit dem 29. Mai 1859 datiert und damit in doppelter Weise chronologisch bestimmt. Es will die Erinnerung zurückrufen an das Gefecht von Curtatone in der Lombardei, bei dem sich, am 29. Mai 1848, die italienischen Freischärler im Kampf gegen die Österreicher ausgezeichnet hatten; und es vibriert andererseits vom Kampfgeist des Risorgimento-Jahres 1859, das die italienischen Patrioten für eine Weile hoffen ließ, sie könnten mit Unterstützung Napoleons III. den Erbfeind vom Boden des zu einigenden Vaterlandes vertreiben. Aber nicht nur seinem Anlaß nach ist unser Gedicht historisch, es will selbst Geschichte schaffen. Carduccis dichterischer Impuls – oder würden wir besser sagen: sein rhetorischer? – entspringt seiner Geschichtsbesessenheit und seinem politischen Sendungsbewußtsein. Er forscht in der Vergangenheit nach Antrieben und Lehren für die Gegenwart, und aus seiner Geschichtskenntnis schöpft er sein Verantwortungsgefühl, kraft dessen er sich zum Sprecher des um seine nationale Einheit ringenden Volkes berufen glaubt. Er predigt antikische Größe, und er predigt sie folgerichtig in antikisierender Sprache, mit dem Aufgebot eines ganzen Schwarms von Latinismen: „carmi“, „concento“, „inferie“, „conspetto“, „pargoletti“ und „itala terra“. Auch spart er nicht mit antiken Stilfiguren, und schließlich bindet er seinen Aufruf in die strenge, traditionsgeheiligte Form des Sonetts. (Für unsere Zwecke schien eine genaue Version wichtiger als der prekäre Versuch, Carduccis Aussage in einen Reimkäfig zu sperren.) Nicht verschwiegen sei freilich, daß auch seine Blutrünstigkeit in einer langen Überlieferung steht, zu der Petrarca und nach ihm sehr viele kleinere und kleinste italienische Poeten das Ihre beigetragen haben. Wenn die waffenlosen Söhne der Arcadia der Blutrausch überkam, dann pflegte ihr Vernichtungswille den der kühnsten Krieger in den Schatten zu stellen.
Wir wenden das Blatt und treffen auf ein Gedicht des Soldaten Ungaretti, aufgezeichnet an der Karstfront am 23. Dezember 1915:

Eine ganze Nacht lang
hingeworfen
neben einen hingemetzelten
Kameraden
mit seinem gefletschten
Mund
dem Vollmond zugewandt
mit dem Blutandrang
seiner Hände
der in mein Schweigen
einbrach
habe ich Briefe geschrieben
voll von Liebe
Nie bin ich so sehr
am Leben
gehangen

Wieder ein denkbar brüsker Szenenwechsel, im Stofflichen, im Formalen, in der Weltsicht. In seltener Reinheit zeigt Ungarettis kleines Gedicht den vollkommenen Zusammenklang von Sinn und Gestalt. Es ist mit halblauter Stimme zu sprechen, im Lentissimo, mit öfteren Fermaten und mit Pausen, welche die lyrische Intensität, die sich ganz von den alten Bindungen freigemacht hat, stärker zu markieren haben. Der Schlichtheit der Sprachgebung entspricht die Wahrheit des Inhalts. Hier spricht einer vom Krieg, der ihn an sich selbst erfährt; der nicht am Schreibtisch imaginäre Blutbäder stiftet, sondern selbst Blut fließen sieht und vergießen muß; der nicht Haßgesänge anstimmt, sondern das Erlebnis, wenn nicht der Menschenbrüderschaft, so doch der Kameradschaft gewinnt; der nicht in den blutigen Annalen der Menschheit nach begeisternden Vorbildern sucht, sondern erbebend die Tatsache seiner eigenen Existenz erfährt. Kein Wort von Trento und Trieste, um derentwillen man doch in den Krieg eingetreten war. Das Risorgimento ist noch als nationaler Anspruch lebendig, aber nicht mehr als literarisches Motiv möglich. D’Annunzio, der dazumal dem Nationalismus und der patriotischen Deklamation unvermindert frönte, erweist sich gerade dadurch als Angehöriger einer vergangenen Zeit.
Als drittes Motiv zwei Gestaltungen von Abendstimmung. Das erste Beispiel („La mia sera“) stammt aus den 1903 erschienenen Canti di Castelvecchio von Pascoli. Es lautet in der freien, aber den Klangcharakter des Originals glücklich nachbildenden Übertragung von Bruno Goetz:

Die Blitze des Tages erlöschen,
bald leuchten die stummen Sterne,
ein kurzes Quaken von Fröschen
erhebt sich in dämmernder Ferne.
Im Pappellaub säuseln und zittern
die Blätter in schauernden Zweigen.
Wie dröhnte der Tag von Gewittern!
Der Abend ist Schweigen.

Und wenn erst die himmlischen Funken
die dunkelnde Wölbung erhellen,
verstummen die Frösche und Unken,
es gurgeln und murmeln die Quellen.
Vom Grollen und Donnern im düster
verloderten trunkenen Reigen
blieb nichts als ein wispernd Geflüster
im Abendschweigen.

Des Sturmwindes endloses Wüten
erstarb im Geplätscher der Bronnen;
die zuckenden Blitze versprühten,
in Gold und Purpur zerronnen.
O Stille nach schmerzhaftem Tosen!
Entflatternde Wolken steigen
nach oben und werden zu Rosen
im Abendschweigen.

Der schreienden Schwalben Gejage
will spät noch im Fluge sich letzen;
der Hunger am ärmlichen Tage
verlängert beim Nachtmahl ihr Schwätzen.
Sie mußten im Nest, im geringen,
dem Unheil gefügig sich zeigen −
nun löse auch mir meine Schwingen
,
o Abendschweigen.

„Schlaf ein!“ ruft das Glockengesumme,
„laß süß deine Glieder ermatten!
Entschlummre, Herz, und verstumme!“
− so raunt es aus bläulichen Schatten.
Ich höre mit lullendem Liede
die Mutter, wie einst, sich mir neigen…
Dann nichts mehr… Und lautloser Friede
wiegt mich in Schweigen.

Eine durchsichtige, fast kindliche Allegorie liegt diesem in seiner Art bezaubernd schönen Gedicht zugrunde: der Tag mit seinen Stürmen und Gewittern meint – soll man es eigens sagen? – das Leben, der Abendfriede dessen versöhnlichen Ausklang. Noch einmal hat sich Pascoli, am äußersten chronologischen Endpunkt älteren Dichtens, dieses alte, zuletzt romantische Motiv zu eigen gemacht und es mit epigonalem Geschick erneuert. Und auf der Linie romantischen Dichtens liegt auch das einlullende Klanggewoge (der deutsche Nachschöpfer scheint Verse von Brentano im Ohr gehabt zu haben). Gewiß sind dem Elemente beigemischt, die wir als infantil empfinden: das mimetische „gre gre“ der Fröschlein, das „don don“ der Glocken (im Originaltext), die Gleichsetzung der nicht ganz befriedigten Nahrungsbilanz der Schwälblein mit dem eigenen Leben, dem ebenfalls die letzte Erfüllung versagt blieb. Es sind dies Züge, die in solcher und ähnlicher Form immer wieder bei Pascoli begegnen und die er in seiner Poetica del fanciullino zu theoretisieren suchte. Dichten, so erklärte er dort – noch Jahrzehnte nach Poe, Baudelaire und Mallarmé, und am Vorabend des Ausbruchs der zweiten lyrischen Revolution auch in Italien −, Dichten sei Rückkehr in die Unschuld der Kindheit, sei Verlautbarung des Kinderstaunens vor den Erscheinungen der Welt; nur das Kind vermöge die verborgene Poesie der Natur zu erkennen, nur der kindliche Dichter sie im Worte mitteilbar zu machen; denn Dichten sei nicht stolzes und eigenmächtiges Erfinden, sondern demütiges Auffinden. In unserem Gedicht ist es gerade dieses Heimweh nach der Kindesunschuld, das die schöne Rundung der Schlußstrophe schafft: den Zusammenklang von Todeserwartung und Wiegenlied. Übrigens birgt die gleiche Strophe auch eine dichterische Überraschung, die inmitten der sonstigen Traditionsgebundenheit um so stärker auffällt: die (in der Übertragung verwischten) „voci di tenebra azzurra“ – symbolistische Synästhesie und impressionistisch kolorierter Schatten. Solche Details waren es, die die nächste Generation Pascoli schätzen ließ und die sie ihm ablauschte.
Eine letzte Beobachtung scheint zum Verständnis des Gedichtes notwendig. Pascoli besingt den Abendfrieden und mit ihm die eigene Befriedung, aber es ist ein Friede ohne Transzendenz. Er ist herbeigeführt durch Farben und Klänge, durch die Suggestion des Schauspiels einer anthropozentrisch erlebten Natur, das jedoch „Geheimnis“ bleibt und die Existenz eines Schöpfers und Bewegers nicht erkennen läßt. Der Dichter bescheidet sich in der naturgebundenen Immanenz, er strebt nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – über sie hinaus. Deshalb ist es auch unzutreffend und sinnstörend, wenn Bruno Goetz den Schluß der vorletzten Strophe völlig frei übersetzt: „Nun löse auch mir meine Schwingen / o Abendschweigen…“ Das wäre Eichendorff, aber es ist nicht Pascoli. Pascolis Dichtung kennt keinen Aufschwung in höhere Räume; sein Liebebedürfnis richtet sich nicht auf einen bekannten oder unbekannten Gott, sondern auf seine Leidensgefährten im großen und unbegreiflichen kosmischen Mysterium: hier liegt der Ansatzpunkt zu dem für bestimmte Partien seines Werkes bezeichnenden Gefühlssozialismus.
Als Gegenstück ein Gedicht aus dem Acque e terre betitelten, 1929 erschienenen Erstlingswerk von Quasimodo:

Du findest mich verlassen, o Herr,
in Deinem Tag,
verschlossen jedem Licht.

Deiner bar befällt mich Furcht,
verlorne Straße der Liebe;
auch ist mir nicht Gnade
mein zitternder Gesang,
der meine Lüste trocknet.

Ich hab Dich geliebt und geschlagen;
es neigt sich der Tag
und Schatten greif ich vom Himmel:
o die Trauer meines Herzens
aus Fleisch.

Schon bei der ersten Bekanntschaft mit diesem Gedicht (das zugegebenermaßen nicht zu Quasimodos schönsten zählt) wird es deutlich, daß hier das Wort nicht mehr wie bei Pascoli ein dienendes Element im syntaktischen und klanglichen Gesamtgewebe ist, sondern Anspruch auf Eigenwertigkeit erhebt. Deshalb (wie bei Montale und Ungaretti) das Fehlen schmuckreicher oder gemütvoller Adjektive, und im Schriftbild das Fürsichstehen kleiner und kleinster Zellen. Verlorengegangen ist dementsprechend die Melodie, der Klang soll nicht mehr quantitativ, sondern qualitativ, d.h. durch verschiedene Intensitätsgrade wirken. Unverkennbar strebt aber diese Intensität einer gewissen Theatralik entgegen, impliziert sie eine mehr oder weniger starke mimische und gestische Bewegung; besonders die Schlußverse fordern unmißverständlich zur Untermalung durch Gebärdensprache heraus.
Der herrischen Erregtheit der Sprache entspricht eine solche des Inhalts. Die bei dem Vorgänger durch die sänftigende Einwirkung der abendlichen Natur gewonnene Harmonie hat einer dramatischen Antithetik Platz gemacht. Gott ist bei diesem Dichter wieder gegenwärtig; er wird unmittelbar angesprochen, ja herausgefordert mit schroffen, fast prometheischen Worten. Die Religiosität, die sich hier aussprechen will, ist keine demütige Hingabe, sondern ein Ringen, das sich am Widerspruch von Geist und Fleisch stets aufs neue entzündet und dem auch der Abend keine Lösung und Erlösung bringen kann. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß dieser Zug zur Herausforderung und halben Blasphemie in der ersten Jahrhunderthälfte weite Bereiche der religiös gestimmten Literatur in Italien kennzeichnete: offensichtlich ein „Zeichen der Zeit“ – genau so, wie man Pascolis melancholischen Agnostizismus kennzeichnend nennen darf für die Geistesverfassung der italienischen Intelligenz am Ende des 19. Jahrhunderts, in der Übergangsphase zwischen einem verbrauchten Positivismus und einem neu aufkeimenden Idealismus.
Zum letzten Vergleich drei reine Liebesgedichte. Das ältere, betitelt „Das Joch“, hat D’Annunzio zum Verfasser und stammt aus dem Poema paradisiaco von 1893. Wir lesen da:

Ihr reiches Haar, empor sich
windend von der königlichen Stirn,
die göttlich umgürtet
unsterbliche Traurigkeit,

an den Schatz gemahnt’ es mich
der tiefen Wälder,
über die der Herbst
sein dunkelgoldnes Purpur gießt.

Und die Augen, ferngerückt
in tiefen Ringen aus Schatten und Geheimnis,
mit Lidern, die Traum
und Gedanke sehr beschwerten,

zeigten sie nicht die grenzenlose Ruhe
träger Todeswasser?
Drinnen erblickte ich im Leben
das Bild des Todes.

Und die nie gewährten Lippen
(solche Früchte schenkt das Leben!),
auf denen, rätselhaft vereint,
Verweig’rung und Versprechen lagen,

sie schwiegen, mit strengem Siegel
vom nie besiegten Stolz verschlossen,
doch wohlgewohnt
des hohen Worts ICH WILL.

Geräumig war das Zimmer. Der Abend
kam und brachte manchen
heft’gen Windzug, der plötzlich
die schweren Portieren

seltsam flüstern machte.
Auf dem Balkon zerfielen
die Rosen, doch leuchteten
im Himmelsblau die Sternenbüschel

mit einem Glanz, der ungewöhnlich
meinen Augen schien.
Alles erschien da meinen Augen
groß und ungewöhnlich;

und die Stimmen des Abends,
sie drangen allesamt zu meiner
Seele. Maria! – sprach ich.
Maria! Und dieser Name war

ein bloßer Hauch, doch in sich trug er
eine Unendlichkeit erhabner
Dinge. Und während die Rosen
dahinstarben und der Himmel

flimmerte und sie stumm sich zeigte,
da fühlt’ ich, wie sie ihr Joch mir auferlegte.
Verloren war alles Wissen
um Ort und Zeit.

Und nichts schien wahrhaft
noch für mich zu wesen.
Die leisen Stimmen schwiegen.
Ein einziger Gedanke nur

durchzuckte meinen Geist und
legte sich auf die erschrockne Seele.
Seit jenem Augenblick war Leben
für mich ein einziges Mysterium.

So legte sie das Joch
dem stolzen Künstler auf.
Sie sprach kein Wort,
doch strahlte sie wie in lebend’gem Feuer.

Hier darf sich die Interpretation auf Andeutungen beschränken. Was der superbe Magier vor seinem andächtigen Leser erstellt, ist ein perfektes Fin-de-siècle-Mysterium. Wir registrieren das stilgerechte Liebespaar, bestehend aus dem vielerfahrenen Artifex und der königlichen, tiefäugigen „superfemmina“ und „femme fatale“; auch entgehen uns nicht die Plüschportieren und Makart-Buketts; und schließlich übersehen wir ebensowenig die geheimnistuerischen Gebärden wie die Pseudo-Sublimität der Sprache. Kein Zweifel: derartiges machte an der Schwelle zur Moderne tiefen Eindruck. Ja, es lebte länger fort, als man gemeinhin glaubt. Noch aus dem Jahre 1950 gibt es ein Gedicht von Gottfried Benn mit dem Titel „Blaue Stunde“, das, abzüglich der „superfemmina“, genau der gleichen Stillage verhaftet ist. Dagegen gab es in der italienischen Moderne zwei Arten von Reaktion. Die eine liegt auf der Linie dessen, was Krolow „Rückzugsgefechte der Empfindsamkeit“ nennt. Man distanziert sich durch Anti-Emotion, durch eine äußere Kälte, welche die innere Betroffenheit verbergen soll. Als Beispiel ein sehr schönes, kurzes Gedicht von Montale, das wie das frühere aus den Occasioni stammt, also irgendwann zwischen 1928 und 1939 entstanden ist. Freilich begegnen wir hier noch nicht jenem äußersten Grad von Unterkühlung, auf den, aus der Perspektive von 1960, Krolow anspielt (und den z.B. Antonioni in seinem Film Liebe 62 vorgeführt hat). Noch immer schwingen bei Montale – wie bei Ungaretti und Quasimodo – Gefühlsmomente, menschliche Wärme und Zärtlichkeit, ja Pathos mit:

Die Stirn befrei’ ich dir vom Eise,
das sich gesammelt, als die hohen Weltennebel
du kreuztest; deine Schwingen sind zerzaust
von Stürmen, schreckhaft wachst du auf.

Mittagsstunde: die Mispel wirft durchs Fenster
schwarzen Schatten, fröstelnd klammert sich
die Sonne an den Himmel; andere Schatten,
die durch die Gasse schleichen, wissen dich nicht hier.

Die zweite mögliche Antwort auf D’Annunzio war die des dichterischen „gesunden Menschenverstandes“, des entmythologisierenden Humors und einer unpathetischen, im negativen Fall wohl auch einer bourgeoisen Wirklichkeitsbezogenheit. In diesem poetischen Bereich ist Saba zu Hause, und eines seiner unbestrittenen Meisterstücke, das Gedicht „An meine Frau“, soll in seiner ganzen und unteilbaren Länge den Abschluß unserer Gegenüberstellungen bilden:

Du bist wie eine weiße
Junghenne.
Der blähen sich die Federn
im Wind, zum Trinken
neigt sich der Hals, und sie scharrt in der Erde;
doch im Gehen zeigt sie
deinen langsamen Königinnenschritt,
mit stolz gewölbter Brust
steigt sie im Gras umher.
Sie ist besser als ihr Männchen.
Sie ist wie alle Weibchen
unter all den heiterfrohen Tieren,
die nah bei Gott sind.
Und wenn mein Auge, wenn mein Urteil
mich nicht trügen, so hast du unter diesen
deinesgleichen,
jedoch in keiner andern Frau.
Wenn der Abend schläfrig wird,
dann stoßen die Hennen
Laute aus, genau wie die,
mit denen du dich manchmal über deine Schmerzen
sanft beklagst, und weißt doch nicht,
daß in deiner Stimme die traurig süße
Musik des Hühnerstalles klingt.

Du bist wie eine trächtige
Jungkuh;
aber frei und mit noch leichter Last,
ja voller Festesfreude;
wenn du sie glättest, wendet sie
den Hals, wo ihr Fleisch
ein zartes Rosa färbt.
Wenn du sie triffst und muhen
hörst, dann tönt so klagend dieser Laut,
daß du dich niederbeugst, um
einen Büschel Grases ihr zu schenken.
So biet’ auch ich dir mein Geschenk,
wenn ich dich traurig seh’.

Du bist wie eine lange
Hündin, die immer soviel
Sanftmut in den Augen hat
und Wildheit im Herzen.
Eine Heilige scheint sie
zu deinen Füßen,
die in unzähmbarer
Inbrunst brennt,
und so schaut sie hinauf zu dir
als ihrem Gott und Herrn.
Folgt sie im Haus dir oder auf der Straße
draußen, so bleckt vor dem,
der sich zu nähern wagt,
die blitzend weißen Zähne sie.
Und ihre Liebe
weiß von Eifersucht.

Du bist wie das furchtsame
Kaninchen. Im engen
Käfig stellt sich’s auf,
wenn es dich sieht,
und hält die langen steifen
Ohren dir entgegen;
denn Kleie und Zichorie
bringst du ihm, und
wenn es die nicht hat,
verkriecht sich’s in
den dunklen Ecken.
Wer könnte jenes Futter
ihm entziehen? Wer die Haare,
die sich’s ausreißt,
um sie zum Nest zu fügen,
wo es gebären wird?
Wer könnte je dich leiden machen?

Du bist wie die Schwalbe,
die im Frühjahr wiederkehrt,
doch im Herbst fliegt sie davon −
und diese Kunst, die übst du nicht.
Von der Schwalbe hast du dies:
das leichte Regen und Bewegen;
dies: daß du mir, der alt sich fühlte
und es war,
neuen Frühling brachtest.

Du bist wie die vorsorgliche
Ameise. Von ihr, wenn sie
aufs Feld gehn,
spricht an Großmutters Hand
das Kind.
Und so find ich dich
in der Biene wieder und in
all den Weibchen aller
heiterfrohen Tiere,
die nah bei Gott sind:
doch in keiner andern Frau.

Sabas Gedicht liegt für die Chronologie unserer Betrachtung relativ früh: es entstammt dem Bändchen Casa e campagna aus den Jahren 1909-1910. Es ist auch im Blick auf das, was wir vorhin zum Umfang moderner Gedichte bemerkten, ein außerordentlich langer Text; aber soviel Raum brauchte der Dichter, um seine Vergleiche auszuspinnen, die einigen italienischen Kritikern die Erinnerung an den Sonnengesang des heiligen Franziskus suggeriert haben; ich möchte eher die Assoziation mit der bürgerlichen Genremalerei vom späten 18. Jahrhundert bis zum Biedermeier vorschlagen. Als betont patriarchalisches Loblied auf eine Frau ist Sabas Gedicht, besonders für den heutigen Leser (von den Leserinnen ganz zu schweigen), bestimmt nicht „modern“; wohl aber bedeutet es in der damaligen Phase der Geschichte der italienischen Lyrik mit seinem humorvollen „niederen Stil“ eine eindrucksvolle Entgegnung auf die beredte Geheimnistuerei D’Annunzios, mit dem Saba eine tief bezeichnende Haßliebe verband. Auch hier – oder schon hier – haben wir also eine Form und Erscheinungsweise von „Modernität“, die freilich nicht völlig originell ist insofern, als sie in einer gewissen Verwandtschaft zur Alltagspoesie Gozzanos und der Crepuscolari steht, deren verzagter Endzeitstimmung Saba jedoch durchaus lebensbejahende Akzente entgegensetzt. Dank solcher Positivität konnte denn auch Saba (und nicht die Crepuscolari) die Rolle eines Vorläufers und Vorbildes spielen, als sich 1945 abermals ein Umbruch in der italienischen Lyrik ereignete, als diese sich aus der selbstgewählten Isolierung im Ermetismo löste und sich den konkreten Bedrängnissen des Menschen und einer unverschränkten Sprache zuwandte.
Beugen wir zum Schluß noch einmal möglichen Mißverständnissen vor! Die angeführten Beispiele wurden unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Beweiskraft, nicht auf Grund eines vorgefaßten Werturteils ausgewählt; und sie beanspruchen nicht mehr zu sein als drastische Momentaufnahmen, erste Absteckungen des neuen Terrains, die einen allgemeinen und vorläufigen Begriff von unserem Gegenstand vermitteln sollten. Selbstverständlich bildet das Werk der „feindlichen“ Trias keine kompakte Einheit der Themen und der Formensprache, und dementsprechend bedeuten auch ihre Vertreter für die folgende Generation nicht jeweils das gleiche; selbstverständlich ist der Bruch mit der Vergangenheit nicht so schroff, wie es auf Grund der obigen Zeugnisse scheinen könnte. Am größten ist der Abstand zu Carducci; von Pascoli und D’Annunzio dagegen hat man, trotz aller pathetischen Abneigung besonders gegen den letzteren, nicht weniges übernommen und ins eigne Werk eingeschmolzen. Und endlich versteht es sich, daß die vorgezeigten Beispiele modernen Dichtens – untereinander alles andere als einförmig – keineswegs eine erschöpfende Vorstellung von der Manier des betreffenden Autors geben, sondern nur eine bestimmte Etappe des Prozesses bezeichnen, dem das Werk jedes einzelnen unterworfen war. Kurz, eine historische Betrachtungsweise muß nun an die Stelle der phänomenologischen treten; das ist die Aufgabe der folgenden, monographischen Kapitel.

 

Vorwort

Dieses Buch wird von „italienischer Lyrik im 20.Jahrhundert“ handeln, nicht von der italienischen Lyrik dieses Zeitraums. Der Wegfall des bestimmten Artikels kann nur bedeuten, daß es nicht meine Absicht ist, über alle ihre Strömungen und alle der Bedeutsamkeit verdächtigen Poeten zu berichten. Ich erzähle vielmehr nur von solchen, die mir zu jahrzehntelangen Weggefährten geworden sind, mit deren Versen ich wirklich gelebt habe. Zu einer Fünfergruppe – Ungaretti, Montale, Quasimodo, Saba, Pavese – sind in späterer Zeit noch zwei „Nachzügler“, Zanzotto und Doplicher, gekommen, so daß sich am Ende ein sozusagen privates Siebengestirn herausgebildet hat (der Begriff „Pleiade“ ist in der Dichtungsgeschichte nicht unbekannt). Ich bin mir selbstverständlich bewußt, daß eine große Anzahl, wenn nicht gar eine Legion von Dichtern hier unberücksichtigt geblieben ist, die, sollte ihnen das Buch in die Hände fallen, enttäuscht sein werden, ganz zu schweigen von den Kritikern, von denen mit Sicherheit Versäumnislisten zu erwarten sind. Aber es war nun einmal mein Vorsatz, nur von Autoren und Werken zu sprechen, die ich gut zu kennen glaube und nicht nach dem Hörensagen ein komplettes Panorama des unermeßlich Vielen und oft auch Beachtlichen zu zeichnen, das sich in Italien in diesem nun zu Ende gehenden Jahrhundert lyrisch zugetragen hat. Sollte der Leser weitere Dichter und Texte kennenlernen wollen, so kann er sich fürs erste an der von Lea Ritter Santini inspirierten Septembernummer I988 der Zeitschrift Akzente schadlos halten, die ihrerseits sieben Vertreter der italienischen Poesie dieses Jahrhunderts (darunter Caproni, Luzi und Giudici) vorstellt.
Über die moderne und „postmoderne“ Lyrik in ihrem Land haben scharfsinnige italienische Kritiker inzwischen eine ganze Bibliothek geschrieben. Wie es den neueren Tendenzen in der dortigen Literaturkritik entspricht, ist vieles davon „hermetisch“, das heißt die Autoren versuchen keineswegs, die oft großen Schwierigkeiten, die modernes Dichten dem Leser aufgibt, mit behutsamen und einleuchtenden Worten aufzulösen, sondern ganz im Gegenteil: sie vermehren diese Schwierigkeiten ihrerseits durch „sekundäre“ Dunkelheiten; ich versage es mir, ein paar bezeichnende Beispiele zu zitieren. Für den Nicht-Italiener sind Einführungen solcher Art gewiß nicht hilfreich, er wird sie, nachdem er sich eine Weile redlich abgemüht hat, am Ende getrost beiseite lassen.
Demgegenüber habe ich dieses Buch ganz bewußt nicht für Insider geschrieben; es sollen in ihm keine „kapillaren“ Fragen aufgegriffen und gelöst werden, wie sie sich naturgemäß versierten Italienern stellen. Dies ist eine Betrachtung „von draußen“: Es geht mir darum, Lesern eines andern Sprachaums Beispiele einer Lyrik nahezu bringen, die ich im europäischen Maßstab für eine der bedeutsamsten und faszinierendsten halte. Von fast allen Dichtern, die ich behandle, gibt es, zum Teil längst, Kostproben in Anthologien oder umfangreiche Auswahlbände aus dem Gesamtwerk. Die hier vereinigten Essays wollen das Verstreute zusammenbinden und im Zusammenhang verstehen und würdigen helfen. In keinem Fall wollen sie mehr sein als wirkliche Hinführungen – Ermunterungen, sich auf diesen Zweig von Dichtung näher einzulassen. Ich war deshalb bestrebt, die nicht unverständliche Schwellenangst vor dieser Poesie nach Kräften abzubauen, andererseits freilich auch nicht etwas als leicht hinzustellen, das der Natur der Sache nach nicht leicht ist und sein will. Mein stetiges Bemühen war darauf gerichtet, das zu Sagende nicht sprachlich einzunebeln, sondern es zwar nicht unpointiert, aber doch so schlicht und transparent wie möglich mitzuteilen. Daß ich dennoch dem Fachjargon wohl nicht ganz entkommen konnte, gehört zum Fluch des Metiers, und ich hoffe, man wird es mir nachsehen.
Ein wichtiger Bestandteil meiner Darstellung sind die verdeutschten Textproben. Sie stammen zu einem nicht geringen Teil aus meinem eigenen Übersetzerlabor. Wer über die Lyrik einer fremden Sprache schreiben will, sollte in der Lage sein, die fremden Gedichte in der eigenen Sprache nachzuformen; bei schwierigen Texten ist für den Interpreten oft sogar die Übersetzung der erste Zugang zum Verständnis. Man hat gesagt, daß nur wer selbst Dichter ist, befähigt sein kann, ein akzeptables „Herüberholen“ fremden Lyrikgutes zu vollbringen. Ich bin nicht mehr als ein empfindsamer Philologe und habe mich trotzdem nicht mit einer bloßen Interlinearversion begnügen wollen. Der Leser sollte mehr finden als genaue „Äquivalente“ – ganz abgesehen davon, daß es solche, dem Wesen moderner Lyrik entsprechend, vielfach gar nicht geben kann. Im übrigen stammen nicht alle Übertragungen von mir, sondern es hat auch (immer meiner Meinung nach) das Geglückteste Berücksichtigung gefunden, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten in deutschen Landen an die Öffentlichkeit gelangt ist – soweit es hier als Belegmaterial Verwendung finden konnte.
Dieses Buch knüpft an ein schmales Bändchen an, das ich vor Zeiten in der „Kleinen Reihe“ des Göttinger Vandenhoeck & Ruprecht-Verlags herausgebracht habe. Die dort behandelten Autoren waren Ungaretti, Montale, Quasimodo und Saba; den Vorspann bildete ein Kapitel Die Wendung zur Modernität, in dem anhand von Gegenüberstellungen motivgleicher Gedichte aus dem späten 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert die lyrische Revolution auf italienisch beleuchtet wurde, von deren Ergebnissen bis heute alle in Italien Poesie Schreibenden zehren sollten. Aber der Leser hält mit dem jetzigen Buch kein simples Remake in der Hand. Subjektiv bedeutet es sicherlich ein Zeichen meiner Treue oder standhaften Verliebtheit zur und in die italienische Lyrik unserer Zeit, die ich nie aus den Augen verlieren wollte, so weit mich auch andere Studiengebiete von ihr zu entfernen schienen. Das neue Buch ist andererseits insofern wirklich neu, als es in ihm keine Seite aus dem alten gibt, die nicht geprüft und wo nötig (d.h. meistens) retouchiert worden wäre. Bisher unberücksichtigte Gedichte sind in die einzelnen Kapitel aufgenommen worden, im Falle von Ungaretti, Montale und Quasimodo war mittlerweile das Ableben zu vermelden und waren die entsprechenden Monographien um die letzten Werke zu erweitern und zu Ende zu führen. Drei Essays sind hinzugekommen: der erste über Pavese geht auf einen Vortrag zurück, den ich einst in Köln auf Einladung von Fritz Schalk gehalten habe. Die letzten beiden über Zanzotto und Fabio Doplicher stammen vom Beginn dieses Jahres und vervollständigen die Beispiele und Analysen bis in die achtziger Jahre und das gegenwärtige Fin de siècle hinein.
Am Ende des Vorworts zu jenem fernen Göttinger Bändchen hatte ich meinem „apulisch-venezianischen Freund“ Giacomo Cacciapaglia für „vielfältige Hilfe“ beim Verstehen der modernen italienischen Lyrik gedankt. So wie meine Liebe zur italienischen Poesie, hat auch diese Freundschaft über die Jahre hinweg Bestand gehabt, und einmal mehr hat er mir mit selbstloser Geduld und, fast hätte ich gesagt mit pädagogischem Eros, manches Alte und Neue erst verständlich gemacht. Grund genug, ihm wie das damalige, so jetzt das neue Buch zu widmen.

Hans Hinterhäuser, Vorwort, Ostern 1989

 

Zu diesem Buch

In monographischen, durch viele Textproben gestützten Essays werden sieben Protagonisten des lyrischen Schaffens im Italien unseres Jahrhunderts in höchst erhellender Weise vorgestellt: Ungaretto, Montale, Quasimodo, Saba, Pavese, Zanzotto und Fabio Doblicher.
Ein einleitendes Kapitel beschreibt anhand einer Gegenüberstellung motivgleicher Gedichte die italienische Wende vom 19. Jahrhundert zur damaligen Moderne und stellt so die sieben Dichterpersönlichkeiten in den literaturgeschichtlichen Kontext.
Wichtiger Bestandteil dieser Darstellung sind verdeutschte Textproben, die das Verständnis und das Bestreben des Autors unterstreichen, Zusammenhänge deutlich zu machen und den Leser auf die italienische Poesie einzustimmen.

R. Piper Verlag, Klappentext, 1989

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope
Nachruf auf Hans Hinterhäuser: De Gruyter

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