UNTERHALTUNG
in der Bahn läßt sich gemächlich reden
von Frau zu Frau wir qualmen ein Kraut
das unsre Vernunft einschläfert
alles Schulwissen flieht mit den Schienen
bei den Roßkuren sind wir angelangt
bei Dachsfett Hammelblut und homöopathischen
aaaaaDosen
das dürfte ich hier gar nicht verbreiten
uns Heckenschützen der Medizin
ist Schweigen wohl geraten
trotzdem ist ein Gespräch über Mittel und Wege
belebend wenn man Ingwer schluckt
gegen den revoltierenden Magen
gegen Hexenschuß hilft
sich einreiben lassen mit getrockneten
Schlangen aus China in Sprit
das Hirschhorn zu Pulver gestoßen
befleißigt den alternden Mann
und stotternde Kinder werden eingewickelt
ins frische abgezogene Fell einer Hindin
dann eine zweite Geburt vortäuschen
und das Kind spricht ganz manierlich
den Typhus verjagt heißes Brot
mit zerkrümelten Schaben gekaut
wenn man die dreizehn bemalten Steine
auf dem kranken Bauch nicht vergißt
der Tee aus Seepferdchen und Astern
ist für die unfruchtbaren Tage
der fruchtbaren Jahre das mildert
Kaulquappen im Juni und teelöffelweise
schränken den Kindersegen ein
Urin und Brennesselsaft machen die Haare schön
das Meerträubchen hilft gegen Husten
wie Brunnenkresse Melancholien vertreibt
wußte schon Dürer dazu fährt man nicht nach Sibirien
Wolfsmilch zum Beispiel ist giftig
jedoch Tropfen für Tropfen beruhigt sie
das Heulen und Zähneklappern bei Nacht
ähnlich der Sud aus den Augen der Fledermaus
und Bernstein zerrieben in Wodka
rückt dem Rheumatismus zu Leibe
nichtmal das Fernsehen ist neu wie ich höre
noch oft werfen die Frauen den Ehering
ins volle Wasserglas und blicken
durch Ring und Wasser und Boden in ein Zimmer
− rechts steht ein Sofa die Lampe ist an
der Gatte ist auch da bloß nicht alleine −
nun wirds aber Zeit sein Foto auf der Kommode
auf der Brust direkt unterm Rotbannerorden
mit allerhand Widerhaken und Nadeln zu spicken
das berühmte Sekret aus der Vorhautdrüse
vom Moschustier brauche ich kaum zu erwähnen
also wer davon nicht wild wird
soll sich getrost auf die Seite
der Rationalisten schlagen
− selbst wenn ihm die Frau wegläuft −
denn dort wird im Augenblick jeder gebraucht
als die Reiterei der Roten Armee durch meine Straße sprengte, ich lebte in einem Vorort von Berlin, da geriet „Sibirien“ in meinen zehnjährigen Gesichtskreis. Schweißtriefende Pferde, blinkende Säbel, Patronengürtel kreuz und quer, Hurragebrüll, Schlitzaugen, dunkle Mienen, Hakennasen, Augen wie Kohle und schwarze langhaarige Mützen, die in den Himmel reichten – ja, diese Leute kämen aus Sibirien, wurde gesagt. Und da wollte ich sofort hin.
Dort würde anders gelebt als in unserm kleinbürgerlichen, strengen, preußischen Haushalt, dachte ich und hielt daran fest.
Und abends dann stand unser Eßtisch ausgezogen im Garten, unser Eingewecktes aufgereiht, Speckseiten, Zwiebeln und der Wodka in den Kristallvasen meiner Mutter. Dazu die allerwildeste Musik aus den Bälgern der Harmonikas. Das klang nach Freiheit und funkelt weit über die Kindheit hinaus.
Sibirien ist dann die Leinwand meiner Träume geworden. Darauf habe ich jahrzehntelang das projiziert, was ich mir gerade wünschte. Mal war es ein Bauernhaus, dann Schlittenfahrten in großem Stil, ein andermal Städte voller Bäume und Vögel und friedfertiger Menschen. Später hat mich das Gemisch der verschiedenen Völker und Kulturen fasziniert und immer diese Weite, in der man ungeschoren einen anderen wirklichen Sozialismus aufbauen könnte.
Natürlich haben mich früh die Katorga, die Ströme der Verbannten beschäftigt, denen die Größe des Landes ein Grauen gewesen sein muß, der Archipel Gulag und die Lager, die es heute noch gibt, zu schweigen von den Psychiatrischen Anstalten, gemacht für Leute wie mich.
Ich habe Sibirien, meine geographische Utopie, nicht gesehen. Da mir das Visum verwehrt wurde, habe ich mir den Landstrich schreibend angeeignet. Trotzdem ist es natürlich nicht dasselbe, als wäre ich dort gewesen.
Das Bündel sinnlicher Wahrnehmungen fehlt. Ich weiß nicht, wie es in Sibirien riecht oder schmeckt, wie sich die Dinge anfühlen oder anhören. Ich habe das sibirische Weiß nicht gesehen. Der Traum bleibt offen.
Helga M. Novak, Nachbemerkung
nach Wladiwostock fährt, sitzt nicht nur in einem Zug mit Lokomotive und Wagen. Er reist in einer Legende und mit einer Legende; kein europäischer Schienenstrang hat so viel Vergangenheit überdauert, keiner die Phantasie so lange und immer wieder beschäftigt. Für Helga M. Novak ist diese alte Eisenbahn ein Kindheitstraum, unvergessen, nie erwachsen, nie vernünftig geworden. Mit Legende Transsib verwandelt sie ihren Traum in die Wirklichkeit von Worten und Sätzen.
„Wann und wo sie in Sibirien ist und wie es dort aussieht und zugeht, ist ausschließlich Sache der Autorin. Genau das machen die bannenden Texte Helga M. Novaks ganz entschieden klar. Sibirien – das ist ihr Sibirien. […] Sie ist nach Sibirien gelangt, bevor sie dort angekommen ist. Und dort angekommen wird für sie fortan noch lange nicht heißen, auch dort angelangt zu sein“, schrieb Heinz F. Schafroth zu einem Vorabdruck aus Legende Transsib in der Basler Zeitung.
Luchterhand Verlag, Klappentext, 1985
– Helga M. Novaks Traumreise nach Sibirien. –
In ihrem neuen Buch Legende Transsib wollte die Lyrikerin und Erzählerin Helga M. Novak einem persönlichen Traumziel nachgehen, dem Sibirien-Erlebnis. Der Traum ist alt. Er könnte von 1945 datieren. „Sibirien ist dann die Leinwand meiner Träume geworden“, heißt es am Ende dieses von Prosastücken durchbrochenen umfangreichen Lyrik-Zyklus. Und am Schluß erfährt man auch, daß der Wunsch einer Reise mit dem Transsibirien-Expreß bis Wladiwostok an der Wirklichkeit scheiterte.
Was blieb, war die Utopie, ein heftiger Wunsch, der die Autorin nicht zur Ruhe kommen ließ. Helga M. Novak hat Sibirien nicht gesehen. Das Visum wurde ihr verwehrt, und sie eignete sich „den Landstrich“ schreibend an, wie sie sagt. Und etwas wie Resignation klingt aus der Feststellung: „Das Bündel sinnlicher Wahrnehmung fehlt. Ich weiß nicht, wie Sibirien riecht oder schmeckt, wie sich die Dinge anfühlen oder anhören. Ich habe das sibirische Weiß nicht gesehen.“
Dennoch hat sie sich auf ihre Weise diesen Wunsch erfüllt. Sie hat alle Vorstellungskraft aufgewendet und eine Kette von „Traum“-eindrücken entstehen lassen, die sich durchaus realistisch anhören. Der Traum wurde in Gedichte und Prosastücke, kurze Szenen und Monologe aufgelöst. Unwillkürlich mußte ich an ein anderes literarisches Beispiel denken, das diesem legendenhaften „Transsib“ im Jahre 1913 vorausging: „Die Prosa vom Transsibirienexpreß“ von Blaise Cendrars, ein eher hymnisches, expressives Prosagedicht, das damals Aufsehen erregte. Der Welschschweizer Cendrars wurde durch diese lange Hymne zu einem bekannten Autor in Pariser Literatenkreisen. Bei Helga M. Novak indes gibt es solche ungestüme, experimentelle Wortbehandlung, solche verbale Raserei wie bei Cendrars’ wilder poetischer Prosa nicht, die damals Apollinaire, Chagall, Picasso, Stravinsky, Modigliani begeisterte.
Die „Leinwand der Träume“ baut ein Szenarium auf, das aus vielen Einzelheiten besteht. Es beginnt mit „Reisevorbereitungen“, greift auf Bedeutung und Geschichte des Transsibirienexpreß’ zurück. Die Autorin nimmt „viel geistiges Gepäck“ mit auf ihre Reise und bringt, in Gedichten und Balladen, ihre Beobachtungen, ihre Denk- und Wunschbilder unter. Auch die verschiedenen Reise„betreuer“, die „Paten“, die Aufpassser, werden ins Reisegeschehen hineingenommen. Sie bleiben Begleiter, so unterschiedlich sie im Dutzend sind („der Betreuer muß Brücken schlagen / sich in eine Schneewelle versenken / oder in die alte Speisekarte / und gleichzeitig achtgeben auf die Betreuten / was der wieder anstellt – unberechenbar“). Ein Ton lyrischen Berichtens, Erzählens herrscht vor. In den Balladen geraten die Bilder in heftigere Bewegung, geben die Gelassenheit auf, die oft den Ton anzugeben scheint.
Die Reisende sieht vieles und Konkretes. Ihr geistiges Gepäck reicht von Tschechow bis Kropotkin, von der Zarenzeit bis in die unmittelbare Gegenwart mit ihren Befürchtungen, Ängsten, Überlegungen: „Unterm Gleisjoch ein blutiges Schotterbett rase ich weiter keine Schwellenangst mehr dagegen eine Furcht die Toleranzprüfung nicht zu bestehen.“ Unterwegs gibt es „Prüfungen“ verschiedener Art; einmal heißt es, „Furcht macht einsam / tröstlich ist das nicht“ und im selben Gedicht liest man „das staatliche Unglück / hat einen langen Atem / – Beamter traue auch dem nicht / der dich mästet die Schlachtbank / ist immer um die Ecke und immer / wird gerade einer gebracht“.
Diese mit kritischer Bereitschaft und Aufmerksamkeit angetretene verbale Reise in Begleitung jener mit dem „ruchlosen Job“, jener „Schutzengel Verfolger“, die Helga M. Novak „meine Begleiterscheinung“ nennt, ist eine Reise durch die Einsamkeit einer „geschlossenen Gesellschaft“ mit ihren „Geheimhaltungsstufen“. Gerade aus derartig isolierter Position wird der Blick für einzelnes geschärft – in Gedichten wie „Likör“, „Zwischenstation“, „Winterweg“ oder „Handreise in die Einsiedelei“. Zu den intensivsten, am weitesten ausholenden Texten gehört die „Ballade von der verbrannten Glocke“. Hier wird leidenschaftlich und bildstark erzählt. Von dieser Art sind mehrere Gedichte des Bandes, auch wenn sie nicht ausdrücklich als Balladen bezeichnet werden.
Helga M. Novak war von jeher eine Autorin des geräumigen Gedichts mit langem Atem, das Ereignisse, Schicksale weitergibt. Am schwächsten sind einzelne „Dialoge“. Sie wirken wie montiert und bleiben Fremdkörper. Auch das absichtsvoll lässige Sprechen fügt sich nicht ins Ganze der Texte, die gelegentlich in einem losen Zusammenhang zueinander stehen. Was bleibt in der geographischen Utopie, ist der offene Traum, der sich – von Gedicht zu Gedicht – Wünsche der Phantasie erfüllt.
Karl Krolow, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.1985
Für Helga Novak stellt Sibirien einen Kindheitstraum dar; sie hat die Reiterei der Roten Armee 1945 als Zehnjährige erlebt und jedenfalls behalten:
Dort wurde anders gelebt als in unserem kleinbürgerlichen, strengen, preußischen Haushalt
So ist Sibirien die Leinwand ihrer Träume geworden, eine geographische Utopie, die sie gern realer Erfahrung, einem wirklichen Besuch ausgesetzt hätte. Doch das Visum wurde der 1966 aus der DDR ausgebürgerten Dichterin versagt, und so begab sie sich auf eine imaginäre Reise durch das verquere Traumland. Die transsibirische Eisenbahn, kurz Transsib genannt, führt das lyrische Ich von Moskau über Nowosibirsk und Irkutsk bis Wladiwostok. Die Phantasie ist reich bestückt, sogar das Dröhnen der Schienen geht als Rhythmus in die Verse ein:
ich gleite auf Schienen
durch rauchige Wolken
ich fahre und fahre
durch einen glasharten Tag
ich bin in Sibirien
und hab was ich wollte
Über diesem Text freilich steht der Titel „Traumfabrik“. Als Stachel bleibt die Ablehnung der geplanten Reise wirksam, ein wenig hat sich Helga Novak auch gerächt: immer wieder tauchen zwischendurch Balladen auf, welche die Reisefiktion durchbrechen, nämlich kaum in der Transsib vortragbar wären. Die „Ballade von der verkannten Gurke“ erzählt, wie zu zaristischen Zeiten Unrecht auf Unrecht gehäuft ward, wiedererkennbar so, wie es zu Stalins und seiner Nachfolger Zeiten noch stets geschieht. Die Säuberungen, von denen auch die Ballade „Kropotkin und die Polen“ handelt, treffen immer gleich Zehntausende. Mehrfach wird diese Perspektive aufgetan und verallgemeinert zu einer grundsätzlichen Totalitarismuskritik, die gelegentlich an Kalte-Kriegs-Töne erinnert; der Text „Furcht macht einsam“ beginnt:
totale Unterwerfung
ist die vernünftigste Reaktion
auf totale Macht
wer die Regierung nicht ändern
kann muß mit Recht fürchten:
er wird zermalmt der Staatsapparat
kann alle vernichten
auch die nicht staatliche Person
die Unsicherheit ist zermürbend
sie ist allüberall und stetig
Aber das ist gewiß nicht der Hauptakzent des Buches; das vermag schon die vergnüglich-subversive Art anzudeuten, wie mit dem ,Paten‘ umgegangen wird. ,Pate‘ ist der Ausdruck für den wachsamen Betreuer, welcher der westlichen Reisenden beigegeben ist. Seine Präsenz zeigt sich allein schon darin, daß nicht weniger als zwölf Texte ihm gewidmet sind. Er funktioniert deutlich als Spitzel:
wie oft hast du meinen Namen
niedergelegt in Schriftstücken
und mit deinem signiert
ach unsre Namen auf demselben Blatt
Doch nach der Devise „wenn schon alles verboten ist, ist alles egal“ phantasiert das reisende Ich eine Liebesgeschichte in diese Bewachung hinein, verwandelt jedenfalls diese Beziehung recht gründlich, auch wenn dazu am Schluß recht viel Phantastik aufgeboten werden muß.
Die Reise beginnt mit den Vorbereitungen, die den Band eröffnen, „Lämmerwolle im Schuh“, Vitaminpräparate, Pulverkaffee gehören dazu. Doch sehr bald schon entführt die lyrische Reise in eine andere Welt, die aus „vergessenen Zeichen“ montiert ist. Ein gutes Dutzend Gedichte lebt von der Vergegenwärtigung fast vergangener Bedeutungen, verschollener Lebensformen gedenkend. So bringt sich ein altertümliches Poesieverständnis zur Geltung: die Dichtung rettet die vom Fortschritt bedrohten Dinge ins überlebende Wort. Das begriff jedenfalls Rilke als die spezifische Antwort des Dichters auf die Herausforderung durch die Technik, auf das Zeitalter der Reproduktion. Auch Novak schafft sich auf ihrer imaginären Reise einen entsprechenden Weltinnenraum, in dem alles dieses Platz hat. Daß er nicht zu museal wird, ist vor allem jenen Texten zu danken, die von genauen Sinneseindrücken ausgehen und einen Zusammenhang verschiedenster Erfahrungsweisen bekunden: die „Stiche im Herbst“, von Mücken ausgehend, gehören dazu, der Rauhreif, der Tee am Morgen, die Eisenbahntage und Schlafwagennächte, ein Winterweg oder eine kleine Lichtung, die Nachtwanderung durch den Zug oder der Blick auf die Angler mitten auf dem Amur.
Mindestens ebenso häufig freilich sind die Bilder gerade nicht wörtlich gemeint, sondern hilft sich die imaginierende Reisende mit Sprachbildern, wo die Wahrnehmung ausfiel. Dabei wird deutlich, daß auch die Reise selber als ein Bild zu nehmen ist, das mehr als eine phantastische Ausfahrt ins unbekannte Sibirien meint:
freiwillig ausgeliefert den Signalen links und rechts ich fahre werde gefahren mir kommt etwas abhanden doch bloß nicht zurück weiter weiter nach Osten nach Hause und darüber hinaus ich kriege keine Kurve mehr verpasse alle Abzweigungen bin eingeschlossen und habe die eigene Drehung aufgegeben bin drauf eingestiegen und habe mich verladen lassen die Nebengleise sind verstellt die toten besetzt mit irreparablen Triebwagen
„Der Traum bleibt offen“, mit diesen Worten hatte Helga M. Novak ihr Nachwort abgeschlossen. Die zentralen Texte wissen wenig von solcher Offenheit. Dem Ausbruch wird der „Einbruch“ entgegengehalten, den Einbruch der Außenwelt ins Subjekt bedeutend wie einen wörtlichen Einbruch ins gesicherte Haus: das Gedicht weiß nur vom Steckenbleiben, wie ja auch die Sibirienreise im Planungsstadium steckenblieb.
EINBRUCH
über mir ein Zelt aus blauem Licht
der Hirsch reibt sich die Stirne wund
vielversprechendes aufregendes Glimmen
Wolf steigt in meine Haut
alles Getier spritzt zur Seite
mir wachsen Zähne über die Unterlippe
ich setze über Bretterzäune
und drücke mit Schwung
die geschnitzten Fensterläden ein
mein Fell bleibt in Eisblumen stecken
ein gläserner knallroter zackiger Gurt
der Ofen schlägt heiße Wellen
kein rein oder raus
Ladestock und Patrone im Lauf
Zwiebeln an der Wand Kamillenbesen
Die Phantasiebilder von Helga Novak verlieren nie den Unterton der Trauer, die vom Wissen ausgeht, daß es keine Reise ins Unbekannte mehr geben kann, daß die Aufbruchsmöglichkeiten erschöpft sind, daß Vergangenheit und Zukunft zu Bildern geschrumpft sind, die vom Steckenbleiben und stillgelegten Gleisen handeln. Vermutlich ein realistischer lyrischer Diskurs, mit vielen kleinen Hoffnungsfunken durchsetzt, die freilich nie zu Sprengladungen werden. „Da wachsen Bäume in den Himmel und die Bären ziehen ihre Krallen ein“ – das verbleibt im Liede des Harmonikaspielers in Chabarowsk.
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 4, 1985
– Helga M. Novaks Gedichtband Legende Transsib (1985) hat eine sehr ungewöhnliche Sibirienreise zum Thema. Da Novak die Einreise in die Sowjetunion verweigere wurde, hat sie sich das Gebiet und die Transsibirische Eisenbahn durch Texte erschlossen. Anhand Archivrecherchen wird hier gezeigt, wie breit angelegt und zugleich detailliere ihre Lektüren waren. Es wäre jedoch falsch, in den Gedichten Novaks lediglich eine Wiedergabe des aus verschiedenen Quellen geschöpften Wissens zu sehen. Sie verarbeitet es zu einem Porträt Sibiriens als Natur- und Kulturraum und legt, indem sie eine Wissenspoetik entwickelt, ein dichterisches Epos über viele Schlüsselfragen des 20. Jahrhunderts vor. –
Die Leinwand der Träume
Im ersten Band der autobiografischen Trilogie von Helga M. Novak, in dem Roman Die Eisheiligen, gibt es eine Szene, in der die zehnjährige Protagonistin und ihre Spielkameradin Gertrude, aus einem Versteck heraus mit großer Neugier eine Gruppe von badenden jungen nackten Männern beobachten. Es sind junge Rotarmisten, die samt ihren Pferden im Wasser Erfrischung suchen.1 Die Szene, die sich in der Nähe von Berlin abspielt, vermittelt Unbekümmertheit und steht im Gegensatz zu der im Roman festgehaltenen Geschichte, die sowohl durch Beschreibungen von Bombardements und Not, welche die Existenz der deutschen Bevölkerung in der zweiten Kriegshälfte prägten, wie durch die emotionale Enge in Novaks Pflegefamilie, durch Gewalt in der Schule und materielle Schwierigkeiten auch nach dem Krieg bestimmt wird. Es dauerte, ehe der jungen Novak die dunklen Seiten des neuen Systems bewusst wurden. Zunächst stellten die Niederlage des „Dritten Reiches“ und der Einmarsch der Russen für sie eine Wende dar; trotz aller Existenzhärten sah sie darin wenn nicht eine Befreiung, so doch das Aufkommen neuer Möglichkeiten. Die Versuche der neuen Machthaber, die Jugend für den Sozialismus zu gewinnen, erwiesen sich für sie als Chance, sich der Enge des Privaten, der Strenge der Erziehung im alten Sinne, dem kleinfamiliären Leben, das durch verdrängte Traumata der Elterngeneration geprägt war, zu entziehen. Dass die Russen gewalttätig sind, lag zwar nicht außerhalb des Wahrnehmungsbereichs der Kinder, aber insofern sie selbst nicht davon betroffen waren, löste sich dies im großen Meer der Gewalttaten auf, die den Krieg und die Nachkriegsmonate prägten und für die Heranwachsenden, die keinen Maßstab hatten, um die Lage mit der in Friedenszeiten zu vergleichen, zum Alltag gehörten. Die Vergewaltigungen und die Schwangerschaften, die daraus entstanden, weckten bei Novak und ihren Freundinnen, die sich gerade in dem Alter befanden, in dem man sich für das Sexuelle zu interessieren beginnt, nicht Angst, sondern Neugier, als wären sie Teil des gewöhnlichen sexuellen Lebens der Erwachsenen.
Einige Jahre später2 schreibt Novak im Selbstkommentar zu dem 1985 erschienenen Gedichtzyklus Legende Transsib (dieser in Prosa verfasste Kommentar, eine Art Nachwort, rundet den Band ab),3 dass Sibirien, als sie im April 1945 als Kind den Einmarsch der Roten Armee in Berlin erlebte, für sie zum Sehnsuchtsort geworden war. Sie ruft eine Reihe von Bildern in Erinnerung, die sich ihr eingeprägt haben:
Schweißtriefende Pferde, blinkende Säbel, Patronengürtel kreuz und quer, Hurragebrüll, Schlitzaugen, dunkle Mienen, Hakennasen, Augen wie Kohle und schwarze langhaarige Mützen, die in den Himmel reichten […].4
Sie erfuhr damals, dass diese Menschen „aus Sibirien“5 kommen, was der Volksmund gewiss nicht strikt geographisch meinte; es bedeutete vielmehr, dass man es mit Barbaren aus einer fremden fernen Zivilisation zu tun habe. Die Reaktion des Mädchens Helga war dem späteren Bekenntnis zufolge anders als die ihrer Umgebung, sie verspürte die Sehnsucht, zu dem als berüchtigt geltenden Weltteil, aus dem dieser Menschenstrom kam, zu pilgern:
da wollte ich sofort hin.6
In der Sehnsucht nach einer Wanderung in die dem Strom der fremden Krieger entgegengesetzte Richtung erkennt man ein trotziges Bedürfnis nach Abenteuer und Befreiung. In den Gedichten bzw. Kurzprosastücken der Legende Transsib ist von dieser frühen Sehnsucht, die Novak in ihrem Selbstkommentar aufruft, jedoch – wie mir scheint – wenig geblieben, wenn auch der Raum Russland und Sibirien an Faszinationskraft nicht verloren hat. Es ist aber eine gereifte und zum Teil bittere Faszination.
Legende Transsib
Die Sibirienreise Novaks ist schon deswegen ungewöhnlich, weil sie in Wirklichkeit keine ist. Die Einreise in die Sowjetunion wurde der Dichterin verweigert, weswegen sie sich „den Landstrich schreibend“ aneignete, wie es im Selbstkommentar heißt.7 Auf dieses Geständnis folgen einige ziemlich subjektiv klingende Sätze:
Sibirien ist dann die Leinwand meiner Träume geworden, darauf habe ich jahrzehntelang das projiziert, was ich mir gerade wünschte.8
Begänne man die Lektüre des Zyklus mit dieser Selbsteinschätzung, würde man erwarten, dass sich Novaks Sibirienbild in Wunschprojektionen verlieren könnte, etwa in den typischen Erwartungen, die sich seit Jahrzehnten halten: Träume und Sehnsüchte nach Ferne und Exotik, Sibirien als Ort des sich unendlich erstreckenden Raums, sowohl der Freiheit als auch der Versklavung (was sich nicht ausschließt). Es sei somit die treffendste Verkörperung der ,russischen Seele‘, unergründlich und voller Widersprüche, faszinierend und undurchdringlich zugleich, die sich so wie Russland selbst dem Begriffsvermögen des Europäers entzieht. Zumeist reicht es, einen beliebigen publizistischen oder belletristischen Sibirienbericht in die Hand zu nehmen, um auf diese typisierte Wahrnehmung zu stoßen; sie ist verbreitet genug, wenn sie auch sicher nicht ausnahmslos sämtliche Sibirien-Texte bestimmt. Man findet dann etwa Bilder wie folgende:
Nirgendwo ist Russland russischer, als in der Transsib, nirgendwo liegen Tristesse und Ausgelassenheit, Menschlichkeit und Einsamkeit, Melancholie und das Leben in der Gegenwart so nah beieinander. Nirgendwo gehören Freiheit und Gefangenschaft und [sic!] untrennbar zusammen […] Der fremde Reisende begreift Russland nicht.9
Das Wahrnehmungsmuster Russlands als eines großen ,Anderen‘ des Westens, das Westeuropäer mit ihren aufklärerisch-rationalen Kategorien angeblich nicht begreifen können, geht auf das berühmte Gedicht Fjodor I. Tjutschews zurück, in dem es heißt, „[…] [m]it dem Verstand lässt sich Russland nicht begreifen, […] an Russland kann man nur glauben.“ Nichts davon ist allerdings bei Novak zu finden. Die Worte ,Ferne‘ bzw. ,Weite‘ kommen in ihren Transsib-Gedichten nicht vor. Diese recht unerwartete originelle ,Lücke‘ verdankt sich nicht einfach dem Faktum, dass es ihr nicht gegeben war, Sibirien in Wirklichkeit zu bereisen, und sie es nur im Text erleben konnte. Wie ich anhand einiger Gedichte zeigen werde, bezweckt Novak etwas anderes als eine Mythisierung Sibiriens. Es ist in diesen Texten nichts von dem Sog des angeblich Anderen, Großen und Unendlichen enthalten. Der Leser wird in der von ihr evozierten Welt nicht verträumt oder verschreckt versinken können. Demgegenüber sind sowohl die Prosatexte, wie auch die Gedichte rezeptionsästhetisch und intellektuell überaus anspruchsvoll, sei es durch das in ihnen verarbeitete Wissen, sei es durch die Form, die – wie übrigens immer bei Novak – nie wohlklingend und harmonisch ist.
Schwarze Perlen
Im Gedicht „schwarze Perlen“ „löscht“ ein Jäger in der Taiga „sein letztes Feuer“.10 Die Augen seines Pferdes sind von unzähligen Moskitos befallen. Dass die Mücken in Sibirien im Sommer eine Plage sind, ist in vielen Berichten zu lesen, nicht zuletzt auch in denen, die von den zur mörderischen Holzarbeit eingesetzten Häftlingen des Gulags stammen. Auf Mücken und Sümpfe stieß Novak immer wieder während ihrer Lektüre der zahlreichen Berichte und Reportagen, die sie für die Vorbereitung ihres Gedichtbands studierte.11 Der Jäger blickt auf den Wald, wir haben aber keine dichte, unermessene Taiga vor uns; es ist ein „blattloser“ Wald „aus Streben und Stangen“.12 Der Boden ist unsicher und das Jagen hat offensichtlich jeglichen Sinn verloren, denn „erst ist der Elch gegangen sodann der Stör geflohn“. Sicher geht es hier nicht darum, dass diese Tiere vor dem Jäger Flucht nehmen; sie verschwinden aus anderen Gründen von diesem Ort. Der Fluss – lesen wir weiter im Gedicht – beginnt statt wie bisher nach Norden, nach Westen zu fließen und umspült „Maisfelder […] Weizen und Kohl“. Die genannten Kulturpflanzen dienen der Massenproduktion von Nahrung und treten an die Stelle der wilden Natur, mit der Sibirien zumeist assoziiert wird. Dann erfährt der Leser einen überraschenden Perspektivenwechsel vom Flussufer, der eine Kieshalde ist, zum Esstablett im Zugabteil, auf dem „der Geologe Trofimuk […] synthetischen Kaviar an[bietet] / – später wird es vielleicht echten/ zum Vergleich nicht mehr geben […]“.13 Die Kügelchen des Kaviars sind die schwarzen Perlen, die dem Gedicht den Titel geben; sie sind perfekt, makellos, rund, wie poliert, von der Schönheit eines perfektionierten künstlichen Produktes. Ihre Makellosigkeit kontrastiert mit der Kargheit der spärlichen Motive der wilden Natur.
Sie sind „eine runde Sache“.14 Unter Novaks Exzerpten aus Fachliteratur und Presseartikeln findet sich eine Notiz über eine Meldung, die am 25. Oktober 1984 im Wirtschaftsteil der FAZ erschien; es wird dort berichtet, dass die Sowjetunion durch bessere Bewässerung die „traditionelle[n] Trockenzonen im Süden des Landes in fruchtbare Anbauflächen verwandeln […]“15 wolle. Auf diese Weise sollte die Nahrungsmittelversorgung für das Riesenreich verbessert, ja gesichert werden. Die großangelegten Pläne habe Tschernenko gerade vor dem Zentralkomitee verkündet. Geäußert wurde jedoch auch, wie dem Exzerpt zu entnehmen ist, Beunruhigung über die entstehenden ökologischen Probleme. Es ist nicht die einzige Notiz in den Arbeitspapieren Novaks, die von solchen bombastischen Vorhaben, die Natur und somit die Gesellschaft zu verwalten, Auskunft gibt; sie finden sich immer wieder, begonnen mit Stalins Ideen zur Umkehrung der sibirischen Flüsse. Das Blatt mit der Notiz vom Oktober 1984 befindet sich in Novaks Mappe in unmittelbarer Nähe zu den Exzerpten aus Leonid Schinkarjows Buch Mein Sibirien,16 in denen über die großgeplante Ölförderung „in den Sümpfen der Westsibirischen Ebene“ die Rede ist.17 Das Erdöl wird in diesem Exzerpt aus Schinkarjow „schwarze Perle“ genannt, wohl dessen Redeweise wiedergebend, die Landschaft wird als „ein schwarzer Wald von Fördertürmen“ geschildert, was an das karge Waldbild in „schwarze Perlen“ erinnert. Unmittelbar auf dieses Blatt folgt in der Mappe ein nächstes, das die Notizen zu diesem Thema fortsetzt und mit der Aufschrift „Akademiemitglied Trofimuk, Fachmann für die Geologie Nordasiens und einer der Entdecker des sibirischen Erdöls […]“ versehen ist.18 Novak notierte sich Trofimuks Worte über Ölförderung:
Die Erdöl- und Erdgaslagerstätten erstrecken sich bis zur Karasee, bis zur Ostsibirischen See und bis zum Ochotskischen Meer. […] Das ist ein riesiger Gürtel von Industrien der organischen Synthese und neuester synthetischer Stoffe. Mit einem Wort das Texas Sibiriens! Erdöl und Erdgas werden zum Ausgangspunkt vieler Nahrungsmittel werden. Lächeln Sie nicht! Man hat mir schon synthetischen schwarzen Kaviar zu kosten gegeben. Er unterscheidet sich in nichts von dem natürlichen, nur sind die Kügelchen etwas größer und runder. Ich zweifle nicht daran, daß die Menschen diesen Kaviar dem echten vorziehen werden. Nur kann ich nicht garantieren, daß es dann noch echten Kaviar zum Vergleich geben wird.19
Offensichtlich war das Thema Ölförderung und Industrialisierung Sibiriens in der ersten Hälfte der 1980er Jahre ein Thema, das des öfteren in der westdeutschen Presse präsent war. Novak scheint diese Berichte, die Sibirien als Riesenraum für industrielle und soziale Experimente darstellten, über einige Jahre mehr oder weniger genau verfolgt zu haben. Nicht wenige von ihnen hatten einen fortschrittsoptimistischen Ton, trotz aller darin erwähnten Umweltsorgen. Unter den Notizen Novaks stößt man gelegentlich auch auf Zeugnisse aus der DDR-Presse, so auf einen Bericht im Neuen Deutschland vom 8. Juli 1980. Er trägt den Titel „Wie in Sibirien der Pflug dem Gleis der BAM folgt“. Es geht um die Zwillingsschwester der Transsib: die Baikal-Amur-Magistrale, die als Abzweig der Transsib etwas nördlicher verläuft und in den Jahren 1974–1984 erbaut wurde. Novaks Exzerpt zu diesem Bericht lautet wie folgt:
Nerjungri, das südjakutische Kohlebecken. Dort wird geplant, große Landwirtschaftskombinate zu errichten, zur Selbstversorgung der Bevölkerung. Gewächshäuser für Gemüse, Sortenauswahl, weil nur 60–80 Tage Vegetationsperiode, Kohl, Getreide, Kartoffeln. Eine 800er Milchviehanlage, Gewächshauskombinat.20
Novak liest diese Berichte genau, sie kommentiert etwa am Rande für sich, das Nerjungri viel nördlicher als die BAM liege.
Vielleicht hat Novak auch den Bericht aus der Sowjetunion zur Kenntnis genommen, den Die Zeit am 16. September 1983 brachte und in dem die unumkehrbare Zerstörung der einheimischen Naturökosysteme erwähnt wird.21 In dem Artikel „Arbeit für vier Generationen“ berichtete Marianna Butenschön von einem Riesenindustrieprojekt in Sibirien, das die sowjetischen Machthaber gerade in Angriff nehmen. Es handelte sich um den „Brennstoff- und Energiekomplex von Kansk-Atschinsk, der nach dem Willen der Moskauer Planer einmal zum größten Energieerzeuger der Sowjetunion und der Welt ausgebaut werden soll“.22 Die Bauarbeiten und vor allem die Kohleförderung ließen riesige Halden entstehen. „Die bis zu achtzig Meter mächtigen Flöze ziehen sich über 800 Kilometer längs der Transsibirischen Eisenbahn hin – ungefähr auf halber Strecke zwischen Moskau und Wladiwostok mit Krasnojarsk in der Mitte.“ Die Moskauer Armeezeitung Roter Stern nannte das Projekt, „das bis 1990 fertig werden sollte, einen ,sibirischen Energieozean‘“. Kansk-Atschinsk war ein geschlossener Industriekomplex, wie viele andere solche Orte in der Sowjetunion. Wir erfahren in diesem Artikel, dass der Geologe Trofimuk, „Akademiemitglied, […] Direktor des Instituts für Geologie und Geophysik in Nowosibirsk“, davor warnt, mehr als drei Kraftwerke zu errichten, denn dann würden „Menschen dort schon nicht mehr leben können“. „Okonomitscheskaja gaseta befürchtet“ – berichtet Die Zeit – „jene tristen Halden […] über die kein Vogel fliegt und an die kein Tier sich heranwagt…“ Trotzdem endet der Zeit-Bericht optimistisch:
Die Schwierigkeiten, die Reibungsverluste und die ungeheuren Kosten, die den Planern über den Kopf zu wachsen scheinen, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Russen einmal geplante Objekte dieser Größenordnung auch fertigbekommen – ganz gleich, welche Abstriche sie vielleicht machen müssen und wie teuer das Ganze letztlich wird.
Novak ist derartiger Fortschrittsoptimismus fremd.
In der letzten Zeile des Gedichts „schwarze Perlen“ sucht der Jäger, dem ohnehin „vieles […] wie Schrot im Magen [liegt,] das Korn um seine Flinte wegzuwerfen“.23 Das Bild des Jägers, der mit einer Flinte ausgestattet ist, den die Geschehnisse offensichtlich an den Rand der Existenz und der Verzweiflung treiben, schlägt in ein reines Sprachbild um: man sagt üblicherweise „die Flinte ins Korn werfen“, d.h. aufgeben. Handelt es sich also um Flinte und Korn oder um die Redewendung? Das Gedicht schwebt zwischen beidem. Die Geste des Jägers, der die Flinte ablegt, löst sich auf der Ebene der Sprache auf, das Bildhafte verschwimmt, das Sprachliche bleibt. Die sibirische Natur wird mittels eines Großangriffs verwandelt, neugeordnet im Namen der Industrialisierung, zum Nutzen und zur Verwaltung einer sozialistischen Massengesellschaft. Die indigene Bevölkerung muss samt ihrer Lebensweise zurückweichen. Die im Titel genannten ,schwarzen Perlen‘, die das Motiv des Erdöls und des Kaviars miteinander verbinden, sind im Vergleich zum Original perfekter, makellos rund und sogar größer. Sie werden zum Maßstab der neuen, geregelten und synthetischen ,Natur‘. Sibirien wird in diesem – und nicht nur in diesem – Gedicht des Zyklus zu einem Ort der Großexperimente an Natur und Gesellschaft.
Jedoch nicht nur die bereits genannten westdeutschen Presseartikel aus den frühen 1980er Jahren bezeugen, dass die Sowjetunion Sibirien als Experimentierraum im Namen des Fortschritts und als Zukunftsland der neuen sozialistischen Menschheit propagandistisch ,vermarktete‘: der Diskurs prägte nicht nur die Politik Lenins (erinnert sei an seine berühmten Worte „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“) und Stalins. Unter den Materialien, die Novak für die Arbeit an ihrem Band gesammelt hatte, befindet sich auch die Broschüre Sibirien – ein freundliches Land. (Aufzeichnungen eines Sibiriers) von Nikolaj Mejsak, erschienen 1973 auf Deutsch im APN Verlag in Moskau. Gleich auf der ersten Seite lobt Mejsak die Erdölförderung im Gebiet Tjumen.24 Der Ton der Broschüre ist äußerst fortschrittsoptimistisch. „Sibirien ist ein unübersehbarer Bauplatz, eine gigantische Arena des wissenschaftlichen Experiments und der freien schöpferischen Arbeit. Hier hat der Mensch wahrlich erstmalig in der Geschichte in einem so grandiosen Maßstab zielstrebig und planmäßig mit der Umgestaltung der Erde begonnen.“25 Ganz Sibirien sei voller Versuchstationen für den Gartenbau.26 An der Angara entstehe ein großes Wasserkraftwerk.27 Bald wird Sibirien ganz Europa „heizen und beleuchten“.28 Auch hier wird der Geologe Trofimuk zitiert, der über die sich im Gebiet Tjumen befindenden Ölgebiete berichtet. Durch die Rohre werde das Öl bald nach Europa fließen, auch die USA werden es kaufen. Das letzte Kapitel der Broschüre trägt den Titel „Sibirien im Jahre 2000“ und weist weit in die ferne Zukunft, an deren Horizont bereits die kommunistische Gesellschaft erscheint. Als Kontext für das Gedicht „schwarze Perlen“ können auch eine Reihe weiterer Zeitungsartikel genannt werden, die Novak gelesen hat und die sich alle auf frühere oder spätere sowjetische Mammutprojekte in Sibirien beziehen, etwa der Bericht von Günter Rampe, der darüber schreibt, dass nordrussische Flüsse nun nach Süden fließen sollen, aber unabsehbare Folgen für das Klima befürchtet.“ Etwas früher, am 8. November 1984, hatte die FAZ mitgeteilt, Russland wolle bis zur Jahrhundertwende etwa 100 Kernkraftwerke östlich des Urals errichten.
Novak, die diesen Fortschrittsoptimismus nicht teilte, interessierte sich auch für Berichte, in denen auf die ökonomische bzw. politische Misskalkulation der sowjetischen Machthaber oder der auf Profit hoffenden Westdeutschen hingewiesen wurde. So findet sich in den von ihr aufbewahrten Zeitungsausschnitten ein Artikel über die vergeblichen Hoffnungen deutscher Konzerne auf Gewinn durch den Bau der Gaspipeline sowie die Rezension eines Buches über die mangelnde ökonomische Effektivität der Stalinwirtschaft.29
Die Neuordnung Sibiriens wird mehrmals in dem Zyklus angedeutet, sie begann bereits mit den Eroberungen der Riesengebiete. Es ist eine von Nomaden, Wanderungen und Menschenverschiebungen bestimmte Geschichte, nicht zuletzt aber auch – im Ergebnis – eine Geschichte des Sesshaft-Werdens. „[D]ie Reiternomaden sind sesshaft geworden“, lesen wir im Gedicht „vergessene Zeichen“.30 Die durch das nomadische Element geprägte Dimension der dargestellten Welt schimmert allerdings immer wieder durch, in Wendungen, die mal an indigene Völker, mal an die Mongolen bzw. Kosaken, d.h. an Eroberer dieses Raumes – im eigenen Interesse, dann im Auftrag der Zaren – denken lassen. Das Motiv ist jedoch von Gedicht zu Gedicht unterschiedlich und ambivalent besetzt.
Die orientalische Despotie
Wie ihre Notizen bezeugen, hat sich Novak mit der Geschichte Sibiriens seit seiner Eroberung durch Mongolen und Russen sehr intensiv auseinandergesetzt. So notierte sie die vielen Namen der Stämme von sibirischen Eingeborenen und Nomadenvölkern, die die Gebiete durchwanderten: Ostjaken, Wogulen, Jugrer, Samojeden, Tataren, Jakuten. Sibirien ist früh ein Gebiet der gesellschaftlichen Wandlung geworden, die Schritt für Schritt mit Eingriffen in die Landschaft einherging. Die jeweiligen Akteure der Geschichte erkämpften sich Wege durch die Sümpfe. Novaks Interesse galt in großem Maße dem Transfer von gesellschaftlichen und politischen Lebens- und Organisationsformen, die – wie ihre Lektüren bezeugen – auf den Handels- und Eroberungswegen ,transportiert‘ wurden. Im Gedicht Andenken sehen wir „Bogenschützen“ im Sattel.31 Sie erweitern die Saumpfade zu „einer Ausfallstraße“. „Die Fährten“ sind nun „festgestampft“.32 Auf den so entstandenen Straßen wurden aus dem Reich China Waren transportiert, die man in Russland auslud. Es handelt sich um ein „geistiges Gepäck“.33 Eine ausführliche Liste der ,Waren‘ macht die ganze Mitte des Textes aus:
aus der Ladeliste als da sind:
die wiederholten Volkszählungen
das Depeschen- und Nachrichtensystem
der Zwangsdienst und die fiskalische
Bürokratie dazu die Liquidierung
erfahrener Mitstreiter Brüder
Schwestern überhaupt die Sippenhaft
auch die Entmachtung der Städte
und das Kampagne-Denken inbegriffen
alles auf EIN Ziel gerichtet
und morgen auf ein andres
mitgerechnet auch der Großfürst
später Zar als alleiniger
Landeigentümer und Verteiler
der Hundert- und Tausendschaften
außerdem Kaufleute Fremde Reisende
gegen Lohn als Spione anwerben
und natürlich die Verschickung
der Laufpaß zu unwirtlichen Gegenden34
Das Stichwort ,die Orientalische Despotie‘ in der nächsten Strophe lässt an das gleichnamige Buch von Karl August Wittfogel denken.35 Den Thesen des Autors zufolge haben große Natureingriffe, vor allem Wasserbauten zum Zweck der Bewässerung von Feldern, die Form der orientalischen Despotie hervorgebracht, weil sie hierarchische Gesellschaftsorganisation, strenge Machtausübung und nicht zuletzt Bürokratie erforderten. Wittfogel war nicht der erste, der von despotischen Gesellschaftsformen sprach, Kritik an (dem zaristischen) Russland als einer Despotie übte nicht zuletzt sehr intensiv der junge Karl Marx. Es ist allerdings unmissverständlich die Studie Wittfogels, auf die Novak im Gedicht anspielt. Vielleicht ist dieses Gedicht, das mit Wittfogel insbesondere auf die gesellschaftsformende Bedeutung der Großwasserkraftwerke hinweist, auch eine Reminiszenz an die Erfahrung aus der DDR-Schule. Novak erinnert sich in der Autobiografie Vogel federlos an die stetige Präsenz des Themas sozialistischer Großbauten, darunter insbesondere des Wolga-Don-Kanals, im Unterricht; selbstverständlich wurden diese Unternehmungen als höchste Leistungen der Menschheit gepriesen, an denen sich die DDR ein Beispiel nehmen sollte. Sie schreibt:
in der befreundeten Sowjetunion hatten sie selbstverständlich schon Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt, deswegen konnten uns die Zeitungen täglich jenes NEUE deutlich und in Bildern vorstellen, und es handelte sich dabei um gigantische Unternehmungen
ich meine die Großbauten, die uns in leuchtenden Fotos entgegentraten, kein Tag ohne Wolga-Don-Kanal, einem durch Beton gebändigten Strom mit riesigen Staustufen, Schleusen, Steilufern und dem berühmten Eingangstor Nummer Eins, gekrönt, überragt von einem zehnmal turmhohen Denkmal Stalins
NICHT PHILOSOPHIEREN, gab unsere Partei nach ihrer zweiten Konferenz im Juli eine Losung heraus, SONDERN HANDELN FÜHRT ZUM AUFBAU DES SOZIALISMUS
und der Wolga-Don-Kanal war nicht das einzige Projekt, an dem die grandiosen Ausmaße der unbesiegbaren Triebkräfte des Sozialismus-Kommunismus uns allen begreiflich wurden, daneben strebten ihrer Vollendung zu: das Stalingrader und das Kuibyschewer Kraftwerk, der Turkmenische Hauptkanal, das Kachowker Wasserkraftwerk, der Südukrainische Kanal und der Nordkrimkanal
so lernten wir das Erstrebenswerte uns vorzustellen, indem wir teilnahmen, vorerst nur durch Anschauung, an dem Triumph der Errichtung kühnster Wasserbauanlagen.36
Dass die Lektüre Wittfogels für Novak von großer Bedeutung war, bezeugt das Schema des Bandes, dass sie sich in einer eher späteren Arbeitsphase erstellt hat. Neben den Titeln der Gedichte werden dort einige Namen aufgezählt, offensichtlich die Autoren von Werken, die Novak als besonders bedeutsam einschätzte, denn die kurze Liste gibt nicht im geringsten den Umfang ihrer Studien wieder. Neben Puschkin, Malaparte, Ferdinandy, Schinkarjow, Trofimiuk,37 Jessen,38 Polewoi und René Char steht dort auch der Name Wittfogels.39 Das Gedicht kreist offensichtlich um das Thema eines eigenartigen Wissens- und Kulturtransfers: von Ost nach West werden despotische Machtformen transportiert. Bedeutend ist, dass Novak in diesem Kontext nicht auf die materielle Seite eines solchen Kulturtransfers blickt, sondern sich vor allem für den menschlichen Aspekt interessierte. In einem Exzerpt aus Michael de Ferdinandys Tschingis Khan. Steppenvölker erobern Eurasien. Der Einbruch des Steppenmenschen heißt es:
Der größte Gewinn dieses Feldzuges war aber doch nicht die unglaubliche Bereicherung der Mongolen und ihres Herrschers. Vernadsky40 hat Recht, wenn er betont, daß das wichtigste Ergebnis der chinesischen Eroberung nicht auf der materiellen, sondern auf der menschlichen Ebene lag. Von nun an konnten die Mongolen die großartig ausgebaute chinesische Bürokratie, diesen musterhaften Staatsapparat […] in ihren Dienst stellen.41
Ein solches Denken in zivilisatorischen Dimensionen wird in der letzten Strophe des Gedichts jedoch rasch durch einen Blickwechsel konterkariert; die schwindelerregende zeitliche und räumliche Größenordnung, die das Gedicht über die meisten Strophen bestimmt, wird plötzlich auf einen Menschenkörper und das Zimmer, in dem sich das lyrische Ich befindet, reduziert:
Schnittmuster ich messe
die Entfernungen mit einem Zahnrad
bleib auf dem Teppich und rieche
wie noch immer Angstschweiß
in den Mulden steht
zielloses Sackhüpfen
ich höre bis in mein Zimmer
ein Klirren von Eisen und Eis
der alten Maßstäbe42
Diese Erinnerung des Lesers an die ,Kernsituation‘ der Reise, die auf der Landkarte unternommen wird, bedeutet jedoch paradoxerweise keinen Rückzug in die Geborgenheit eines vertrauten Raumes, denn das lyrische Ich wittert eine Bedrohung, fühlt sich ausgeliefert. Eine solche Spannung zwischen der imaginierten geschichtlich-räumlichen Großdimension und der Enge des eigenen Zimmers sowie der Dimension des eigenen Körpers und der Alltagsgegenstände in Griffnähe kündigt sich bereits in dem Anfangsgedicht des Zyklus an. Dort ist von den Reisevorbereitungen die Rede. Es sind „Reisevorbereitungen […] beim Landkartenlesen / was eben zerbarst war nicht / das Eis auf der Lena zugegeben / meine Tasse hat einen Sprung“.43 Die ungewollt bloß fantasierte Reise mit dem Finger auf der Karte ist natürlich eine bittere Enttäuschung, über die das Ich sich ironisch erheben kann; zugleich ist es vor den tatsächlichen Katastrophen, die eine solche Unternehmung mit sich bringen kann, geschützt und ein jeder dieser Rückblicke auf die ,Kernsituation‘ der Kartenlektüre deutet auch etwas Zerbrechliches an, das das Individuum im Angesicht der Geschichte in sich spürt.
Traumfabrik
Die Transsibirische Eisenbahn schuf bereits während ihres Entstehens als längstes Eisenbahnprojekt der Welt einen Mythos. Sie verkörperte die Erschließung Sibiriens als Entsprechung des amerikanischen ,Wilden Westens‘ sowie den Triumphzug der technisierten europäischen Zivilisation durch die Weiten Sibiriens. Die zaristische Regierung lud ausländische Ingenieure zur Beteiligung an dem Großprojekt ein. Die Bahn, die Europa mit den fernöstlichen Küsten des euroasiatischen Kontinents verbinden sollte, war somit von Anfang an mit dem Narrativ des Fortschritts und des Technikoptimismus verbunden. Eines der ersten Gedichte des Zyklus heißt Weltausstellung 1900 und setzt sich mit einer wahren Begebenheit auseinander: Tatsächlich wurden Waggons der Transsibirischen Eisenbahn auf der großen Weltausstellung in Paris 1900 ausgestellt, das Ereignis wurde von einer Werbekampagne in Westeuropa begleitet. Mit dem ,Management‘ und der Anfertigung von speziellen Luxuswaggons für wohlhabende westliche Touristen wurde die bekannte Firma Compagnie Internationale des Wagons-Lits et des Grands Express Europeens beauftragt, die bereits für die Luxuszüge des berühmten Orient-Express bekannt war.44 Dieses Werbeunternehmen war ein Novum in der Geschichte der Transsib, die, wie den Notizen Novaks zu entnehmen ist, nur für die Beförderung von Soldaten und Häftlingen erbaut wurde. Durch die Erschließungsmöglichkeiten Sibiriens sollte auch das nicht besonders gute Image des zaristischen Russlands und Sibiriens als Verbannungsgebiet verbessert werden. Die Historikerin Eva-Maria Stolberg berichtet hierzu:
Doch erst die Präsentation auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 brachte der Transsib den Durchbruch beim westlichen Publikum. Schon bald erschienen auf der Strecke Luxuswaggons mit feinen Restaurants. Ein Reisender aus Ohio berichtete über seine Reise im „Transsibirien-Express“: […] [e]in Klavier, eine Bibliothek und eine Kirchenkapelle gehörten zur weiteren Ausstattung der Luxusvariante der Transsibirischen Eisenbahn.45
Novaks Gedichte „Weltausstellung 1900“ und „Sonderangebot 1912“ legen von einer genauen Kenntnis dieser Details Zeugnis ab. Als ihre Quelle lässt sich aufgrund der Arbeitsmappen vorwiegend Kenneth Westcotts Große Eisenbahnfahrten in fünf Kontinenten (die deutsche Ausgabe erschien 1965 in Zürich) rekonstruieren, eine Teilkopie des Werkes befindet sich unter ihren Papieren. Sie hat darin unter anderem die folgende Passage unterstrichen:
Die Behörden rechneten damit, dass der Transsib als wertvoller internationaler Verbindung eine bedeutende Entwicklung bevorstehe. Sie stellte den kürzesten Weg zwischen Europa einerseits und China und Japan andererseits dar. So wurden einige Luxuszüge von einem früher nie gekannten Komfort gebaut. 1903 nahm der erste seine Fahrten auf […]. Diese Züge führten Speisewagen, Aufenthaltswagen mit Pianos und Clubwagen zum Spielen, Schlafwagen und sogar Bäder in gekachelten und marmorverkleideten Baderäumen.46
Allerdings enthält Westcotts Buch nicht alle Einzelheiten zur Ausstattung der Züge auf der Pariser Ausstellung 1900. Es ist anzunehmen, dass Novak noch weitere Quellen benutzt hatte.
In „Weltausstellung 1900“ sowie in „Sonderangebot 1912“ spielt Novak auf den Industrietourismus der Belle Epoque an, auf den Unterhaltungswert, den man bereits damals mit solchen industriellen Großprojekten zu verbinden suchte, und auf die gezielten Versuche der zaristischen Regierung, Anschluss an die Gründerstimmung der Belle Epoque Europas zu finden. Wie genau Novak das Wissen über diese Zeit in ihren Texten verarbeitet, zeigt ein Vergleich mit Eva-Maria Stolbergs Angaben. Stolberg schreibt:
Weltausstellungen sollten nicht nur informieren, sondern auch unterhalten. Technik und die Weite Russlands wurde auf diese Weise dem ,kleinen Mann‘ in Westeuropa nahegebracht. […] Tausende von Besuchern strömten in den russischen Pavillon, um im Panoramakino 429 die „sensationellste Eisenbahn der Welt“ zu bestaunen. Das Panoramakino war ein Ort der virtuellen Raumvermittelung: „Die Zuschauer sitzen in einem Waggon eines Luxuszuges, bewegt durch mechanisches Rütteln. Rechts und links, durch die Abteilfenster blickend, sieht man das komplette Panorama der Landschaft zwischen Moskau und Peking sich entfalten, unterbrochen von Aufenthalten in den wichtigsten Stationen.“ Dabei wurde natürlich Sibiriens Bild als russische Strafkolonie ausgeblendet. […] Raumvorstellung verband sich mit Traum und Utopie.47
Soweit die Beschreibung einer Historikerin. Die Organisation solcher und ähnlicher Motive zu einem dichterischen Text bei Novak lässt sie auf den Leser wie Teile von Märchen wirken; aktiviert werden Vorstellungen von der Belle Epoque, einer untergegangenen Welt, die so anders gewesen sei als die unsere, noch vor den Katastrophen der beiden Weltkriege. Durch die Komposition der Texte wird das Märchen im Transsib-Zyklus subtil hinterfragt. So lesen wir in Sonderangebot 1912 auch von einer eingebauten Dunkelkammer im Waggon, denn „die zaristische Zensur lässt unentwickelte Platten nicht durchgehen“.48 Die Dunkelkammer wird in der letzten Zeile des Textes angeführt, der als Prosaminiatur verfasst ist. Sie fügt sich auf den ersten Blick scheinbar glatt in die Reihe der aufgezählten Details, die den Luxus der Transsib-Waggons auf werbeartige Weise preisen. Erst durch die Platzierung als Pointe eröffnet sich dem Leser nach mehrmaligem Hinschauen das Tückische dieses luxuriösen Reiseunternehmens: die Dunkelkammer dient nicht so sehr dem Wohlbefinden der Gäste, sondern verweist auf subtile Art auf Zensurmaßnahmen, denen sich die Reisenden beugen müssen.
Das Panorama-Kino, das dem neugierigen Pariser Publikum die Landschaften Sibiriens schmackhaft machen sollte, griff Novak in dem Gedicht Weltausstellung 1900 auf und machte es zum Hauptmotiv ihres Textes. Der Begriff ,Traumfabrik‘ als eine geläufige frühe Bezeichnung für das Kino bekommt somit eine mehrfache Bedeutung. Es bezieht sich auf die damals sehr moderne Werbestrategie Russlands auf der Pariser Weltausstellung ebenso wie auf die Reiseträume der Pariser, die das auf diese Weise ,gemütlich‘ gemachte Sibirien in ihnen erwecken sollte. Man denkt sogleich auch an Novaks eigene Formulierung aus dem Kommentar, dass Sibirien in ihrer Kindheit zur Leinwand für ihre Träume wurde. Die Strategie der ,Traumfabrik‘ setzt sich – verfolgt man Novaks Zyklus – konsequent fort, bis in die 1980er Jahre, wie etwa der Traum von Sibirien als Weltgarten und zugleich als Weltenergiekombinat bezeugt. Vielen der von Novak gesammelten Artikel und Berichte ist zu entnehmen, das Sowjetrussland zur Leinwand für Träume der westlichen Welt wurde.
Kropotkin und die Polen: Sibirien als Lebenswende
Das Gedicht „Kropotkin und die Polen“ hat das Schicksal des Fürsten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, des späteren bekannten Anarchisten, zum Thema. Es handelt sich um Kropotkins Lebenswende und um seine Entscheidung, auf eine weitere Laufbahn in der russischen Armee zu verzichten. Der Schauplatz dieser Wende wurde ausgerechnet Sibirien: die damals noch schwach erschlossene Amur-Region, wo Kropotkin als Offizier diente und wo er 1866 aus nächster Nähe den sogenannten Baikal-Aufstand der Polen, die dort als politische Häftlinge in der Verbannung waren, miterlebte. Der Aufstand der Verbannten wurde blutig niedergeschlagen, allerdings erst nach einiger Zeit, und es erhob sich eine Welle von Polensympathie, die viele Russen ergriff, so dass sich zaristische Offiziere weigerten, gegen die Aufständischen zu kämpfen. Es war nicht zufällig Sibirien, wo sich liberales Aufbegehren und der Wille gebildeter Russen aufstaute, das versteifte, despotische zaristische System zu reformieren – wegen der Entfernung vom Machtzentrum und der Präsenz von politischen Verbannten, Siedlern, allerlei Freigeistern und Abenteurern, die diese unwirtliche und abgelegene Region nicht fürchteten, war die Gesellschaft Sibiriens Kropotkin zufolge, der die Geschehnisse in seinen Memoiren eines Revolutionärs darstellt, liberaler als der Rest Russlands. Das Petersburger Ministerium habe sich – so Kropotkin – an die Provinzialbehörden mit dem Auftrag gewandt, Vorschläge zu Reformen zu unterbreiten, welche die Gefängnisse, die Polizei, die städtische Stadtverwaltung sowie das Verbannungswesen betreffen sollten. Kropotkin berichtet über liberal gesinnte Beamte und vor allem Offiziere, etwa über den General Kukel, der Gouverneur von Transbaikalien war.49
Helga M. Novak bezieht sich auf diese Sibirien-Passagen aus Kropotkins Memoiren. Nimmt man sie in die Hand, erweisen sich einige Schlüsselzeilen als fast wortwörtliche Zitate, allen voran die Zeile über die Sympathien, die den aufständischen Polen seitens vieler Russen entgegenschlugen. Bei Kropotkin heißt es:
Noch niemals hatte die polnische Sache so viel Anhänger und Freunde in Russland gehabt wie damals.50
Es wäre aber irreführend, das Gedicht für ein Abbild der entsprechenden Passagen in den Memoiren zu halten. Verfolgt man Novaks Arbeit an diesem Text im Lichte ihrer Notizen, merkt man, dass sie mehrmals den Titel wechselte. In früheren Fassungen hieß der Text „der junge Kropotkin“ bzw. „Kropotkin in Sibirien“. In einer früheren Fassung nahm sie im Gedicht einige Namen auf, etwa den des liberalen Reformers General Kukel, die sie dann aber wieder ausließ. Kropotkin beschreibt den Fehler, den die polnische ,Szlachta‘ machte, nämlich, dass sie nicht imstande war, die Bauern von der Leibeigenschaft zu befreien. So konnte der Zar die Polen überlisten und durch die Aufhebung der Leibeigenschaft die polnischen Bauern auf die Seite der Regierung ziehen bzw. sich zumindest ihre Neutralität sichern. In Kropotkins Memoiren aus der sibirischen Zeit gibt es auch längere Passagen über die Verschärfung der russischen Politik nach der Niederschlagung des Polenaufstandes; man nutzte dieses Ereignis als Anlass, auf weitere Liberalisierungen im russischen Reich zu verzichten und die Zügel zu straffen. Im Gedicht verarbeitet Novak all das nicht; die innere Verwandlung Kropotkins rückt in den Vordergrund; er wird Zeuge des Baikal-Aufstandes der Polen und dessen brutaler Niederschlagung; diese Erfahrung verursacht, dass er sich sowohl innerlich als auch äußerlich von Russland verabschiedet. Kropotkin geht infolge der Ereignisse in Sibirien ins Exil und – was im Gedicht verschwiegen wird, aber der Leser wissen sollte – wird Anarchist. Im Vergleich zum Mut der polnischen Kämpfer scheinen die Reformversuche der russischen Liberalen im Gedicht sehr bescheiden, sie sind ein Weg ins Nirgendwo. Beim ersten Widerstand zeigt das Zarenregime sein grausames Gesicht. Dass sich bestimmte Muster bezüglich der Gleichgültigkeit gegenüber dem Unrecht wiederholen, wird im Gedicht durch die umgewandelte bekannte Parole von 1939 angedeutet, dass man „für Krakau“51 nicht sterben werde.
Der Gedichtband Legende Transsib lag 1985 vor; die Jahre, die seinem Erscheinen unmittelbar vorangehen, sind in Polen die Jahre des friedlichen Solidarność-Aufstands sowie dessen brutaler Niederschlagung durch General Jaruzelski. Es ist anzunehmen, dass Novak während der Arbeit an dem Gedicht über Kropotkin und die Polen eben an diese jüngste Geschichte gedacht hatte.52
Das Wissen, der Gedichtband und Sarah Kirsch als Leserin
Das Ausmaß von Wissen, das Novak für ihren Gedichtband Legende Transsib als Ergebnis von Lektüren und Studien zusammentrug, ist enorm. Selbst einen Bruchteil davon zu entziffern und zu interpretieren, ist ein aufwändiges Unterfangen. Nahezu alle Texte enthalten Bezüge auf Fakten aus der Gegenwart oder der Geschichte bzw. intertextuelle, oft subtile Verweise auf andere Sibirien-Texte. Der Band ist nicht einheitlich, was die Textsorten betrifft, neben Gedichten enthält er Kurzprosa-Miniaturen und Texte, die eindeutig auf große Erzählungen und kulturelles Wissen hin angelegt sind. Sie werden darüber hinaus durch solche begleitet, in denen sich das lyrische Ich und seine in der scherbenartig gezeichneten sibirischen Landschaft gespiegelte Stimmung zu Wort melden. Der ständige Wechsel zwischen Texten, die vom Leser viel Wissen erfordern und solchen, die in den gebrochenen Landschaftsbildern bzw. in Bildern der Reise, der Gleise und der Waggons die Innenwelt des sprechenden Ich zu Wort kommen lassen, sorgt für einen Ausgleich bei der Lektüre des Bandes. Ursprünglich plante Novak, innerhalb des Zyklus zwischen eigenen Texten, den Texten, die vorwiegend auf Zitaten von anderen Autoren basieren, und Dokumenten durch einen jeweils anderen Druck zu unterscheiden. Der Band, der 1985 im Luchterhand-Verlag erschien, enthält keine solchen Unterschiede. Mir ist es nicht gelungen, festzustellen, ob Novak selber ihre Idee verworfen hatte oder der Verlag für den zusätzlichen Druckaufwand keine Einwilligung gab. Im fertigen Band werden lediglich die 14 so betitelten Paten-Gedichte insofern von den anderen abgehoben, als ihre Titel im Gegensatz zu anderen Texten in Majuskeln gedruckt sind.
Die nicht sowjetischen Reisenden bekamen immer einen ,Begleiter‘ bzw. einen ,Betreuer‘, der offiziell dem Reisenden zur Seite stehen sollte; in Wirklichkeit war es seine Aufgabe, den Besucher auszuspionieren und dafür zu sorgen, dass dieser den gewünschten Eindruck von der Reise mit nach Hause nimmt. Die ,Paten‘ sind alle namenlos, bloß mit Nummern versehen, das Spionage-Betreuung-Spiel wird in den Gedichten zunehmend bitter-ironisch gestaltet. Durch die Nähe, die der jeweilige männliche ,Pate‘ zu der Reisenden sucht, entsteht ein regelrecht intimes Verhältnis. Die Intimität entspringt jedoch nicht dem Vertrauen in einer Beziehung, sondern einem immer wieder versuchten Eindringen in das Private. Im Gedicht „Pate I“ heißt es:
Der Betreuer leistet Feinarbeit
zieht allerhand Splitter aus dem Graben
bildet Mosaiken und so entstehen
Porträts wundersame Romane
aus denen die Institution ihrerseits
Schlußfolgerungen zieht
der Betreute darf mitspielen53
Trotz der Versuche der Reisenden, den ,Betreuer‘ zu überlisten, bleibt zwischen den beiden ein Ungleichgewicht, denn „der Betreuer hat seinen Apparat im Rücken / der Betreute hat nichts / nur seinen Kopf“.54 Das Innere des Zuges wird zum Schauplatz einer Jagd, bei der man sich nicht überschätzen darf.
In Sarah Kirsch fand Helga M. Novak eine aufmerksame erste Leserin des Transsib-Zyklus. Das Typoskript des Bandes, in nahezu fertiger Gestalt, wenngleich noch nicht identisch mit der gedruckten Fassung, das sich in Novaks Arbeitsmappen befindet, ist mit Spuren der Lektüre von Sarah Kirsch versehen. Aus ihrem Brief an Helga M. Novak vom 3. Januar 198555 erfahren wir, dass sie den noch nicht endgültig fertigen Band gelesen hat; ihre mit Bleistift geschriebenen Kommentare finden sich am Rande des Typoskripts, das Novak aufbewahrte. Es sind nicht sehr viele; zumeist schrieb sie oder gab mit einem verabredeten Zeichen zur Kenntnis, dass ihr das jeweilige Gedicht gefallen habe. Einigen Texten widmete sie jedoch etwas konkretere Bemerkungen, zumeist dichterisch-technischer Natur. Unter den Gedichten, die Kirschs besondere Aufmerksamkeit auf sich lenkten, befindet sich eines der politischsten des Zyklus: „meine doppelte Zunge“. Der Text handelt von der inneren Spaltung des lyrischen Ichs. Im Mund hat es erlernte marxistische Phrasen, fühlt sich aber zu den einfachen Arbeitern hingezogen, die schwere körperliche Arbeit an den Gleisen leisten und doch unkomplizierte Lebensfreude ausstrahlen. Gleichzeitig denkt das Ich an Kollegen, die „einsitzen“, womit wahrscheinlich die DDR-Kollegen gemeint sind, und fühlt sich kraftlos.56 Der Unterschied zwischen dem Typoskript und der Endfassung ist vor allem an der letzten Strophe zu erkennen. Der Text ist im Typoskript sichtbar kürzer. Er lautet:
Ja und meine doppelte Zunge schrumpft
daß ich sie beinahe verschlucke
weil hinter den sieben Bergen im Wald
Kollegen einsitzen und ich weiß auch WELCHE
Sarah Kirsch bemerkte hierzu am Rande:
Schluß vielleicht noch schärfer irgendsowas wie eh und je oder im Zarenreich oder an den alten bekannten Orten wie vor der Rev., oder an den ausprobierten Stellen – alles nur als Hausmarke gemeint.
Hört mir zu plötzlich dann auf, die Strophe am Ende ist mir zu kurz.
Aber sehr wichtiges Gedicht, zur Begründung der Sibirienselegkeit [sic!] notwendig.57
Darüber hinaus wurde im Gedicht das Wort „Kollegen“ in der letzten Zeile mit Bleistift unterstrichen; es war wohl auch Kirsch, die das Wort markierte. Novak nahm die Kommentare der Freundin offensichtlich ernst; die Schlussstrophe lautete schließlich:
meine doppelte Zunge schrumpft daß ich sie beinah
verschlucke weil in der Nähe
Kollegen einsitzen
deren Moral meine Träume und Fantasien sprengt
was tun wie euch herausholen ohne einzufahren
meine Zunge widersetzt sich den Begierden.58
Novaks Wissenspoetik
Novaks Sibirienreise erfolgte nicht in der Realität, sondern auf der Landkarte, bzw. als eine Reise durch einen kulturell und politisch dichtbesetzten textuellen Raum. Insofern ist Sibirien tatsächlich eine Leinwand der Träume und auch eine Traumfabrik, allerdings nicht der privaten Träume einer Helga M. Novak, sondern Europas und Russlands bzw. Sowjetrusslands. Dieses Sibirien ist sehr fern und doch zugleich sehr nah; die Nähe, oft lauernd bedrohlich und faszinierend, ist gerade dann zu verspüren, wenn die Gedichte die Kernsituation der Reise in Erinnerung rufen: das eigene Zimmer, vermutlich irgendwo in der Bundesrepublik, die Dimensionen des eigenen Körpers.
Die recht spärliche Sekundärliteratur zu Helga M. Novaks Werk ist so gut wie vollständig dem Mutter-Tochter-Verhältnis in ihren Romanen, vor allem den Eisheiligen, gewidmet. Im Lichte dieser Literatur erscheint Novaks Werk als vorwiegend von privaten, familiären und autobiografischen Themen geprägt. Der Band Legende Transsib zeigt Novak als eine Autorin, die nahezu in der Art von Walter Benjamins Passagenwerk diverses vertextetes Wissen zu einem kulturellen Raum sammelt, zitiert und verarbeitet. Erwächst ein Pol des Werkes von Novak stilistisch und thematisch aus ihrer breiten Epistolografie,59 offenbart sich hier ein anderer Pol dieses Schaffens: eine Poetik des Wissens. Der Zusammenhang zwischen Literatur und Wissen ist nie ein einseitiger; es handelt sich um eine Wechselwirkung zweier Diskurse. Sabina Becker und Robert Krause zufolge, die das Werk Alfred Döblins als Poetik des Wissens interpretieren, werden im Falle einer Wissenspoetik Wissensbestände
[i]m Prozess ihrer literarischen Transformation in Literatur […] dem bestehenden Bedeutungszusammenhang herrschender Diskurse entnommen und durch die Einordnung in einen fiktionalen Kosmos von ihrer gesellschaftlich gespiegelten Bedeutung gelöst und so einer kritischen Revision unterzogen.60
Im Anschluss an Joseph Vogl unterscheiden die Autoren zwischen: „a) Literatur als Wissensformation, b) Literatur als Gegenstand des Wissens, c) Literatur als Produkt einer Ordnung des Wissens, d) Literatur als ein Funktionselement des Wissens“.61 Novaks Legende Transsib wäre vielleicht am ehesten den Punkten a und d zuzuordnen, denn sie gestaltet ein Bild Sibiriens, das sich von den meisten Lektüren dieses Raumes abhebt. Sie leistet allerdings vor allem etwas, was darüber hinaus geht. In dem dichterischen Raum, den sie schafft, stoßen Diskurse aufeinander, die sich selten treffen und überschneiden: historische Texte, Werbetexte, Pressemeldungen, Zitate aus Werken bekannter und kaum bekannter Autoren, persönliche Reminiszenzen. Manche von diesen Texten gehören zur literarischen Klassik, wie Tschechows Bericht von seiner Sachalin-Reise, manche sind kurzlebig und entweder bereits 1985 längst vergessen, oder wurden es kurz nach der Publikation des Gedichtbandes. Novak holt sie aus der Vergessenheit, entnimmt sie ihrem ursprünglichen Kontext, d.h. dem täglichen Informationsbetrieb, der Geschichtsschreibung, der Literaturgeschichte, und ermöglicht ihnen, sich gegenseitig neu zu beleuchten. Es entsteht eine Erzählung von anderen Qualitäten und Ausdrucksmöglichkeiten, als jeder der Diskurse und Texte allein haben könnte.62
Auf dem Umschlag der Erstausgabe der Legende Transsib im Luchterhand-Verlag wird für das Buch mit der Parole geworben:
Für Helga M. Novak ist diese alte Eisenbahn ein Kindheitstraum, unvergessen, nie erwachsen, nie vernünftig geworden.
Der Werbespruch, der die Leserschaft zum Kauf anregen soll, stimmt ganz offensichtlich nicht. Novaks imaginäre Sibirienreise ist kein Kindheitstraum; es handelt sich hier um das Narrativ einer Erwachsenen, die den Gedichtzyklus schrieb, um sich mit einem Kulturraum auseinanderzusetzen, der vieles miteinander verbindet: die Frage nach Verwaltung von Natur und Gesellschaft in großen Dimensionen, die ,Traumfabrik‘ eines despotischen Regimes, die lange Geschichte einer Eroberung und den Kulturtransfer von autoritären Ordnungen, der darüber hinaus ein Raum ist, der für viele Schriftsteller und Denker eine Herausforderung, sogar Anlass zu einer entscheidenden Lebenswende wurde.
Monika Tokarzewska, in Marion Brandt (Hrsg.): Unterwegs und zurückgesehnt. Studien zum Werk von Helga M. Novak. Mit Erinnerungen an die Dichterin. Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 2017
Ruth Fühner: Sibirien erschrieben
Frankfurter Rundschau, 9.10.1985
Alexander von Bormann: Helga M. Novak: Legende Transsib
Deutsche Bücher, Heft 4, 1985
Anton Krättli: Geographische Utopie im Gedicht
Neue Zürcher Zeitung, 4.12.1985
– Laudatio von Rita Jorek zum 10. Christian-Wagner-Preis. –
Hundert Jahre liegen zwischen den Lebensläufen von Helga M. Novak und Christian Wagner. Es lässt sich trotzdem Vergleichbares finden in Werk und Wesen der beiden. Als Dichter müssen wir sie begreifen, als Dichter betrachten sie sich selbst.
Gedichte schreiben können viele, vielmehr lassen die Kunst unbeachtet, schilpen wie die Spatzen daher, für die das Lied der wenigen Lerchen fremd bleibt. Dazu passt ein sarkastischer Kommentar Wilhelm Raabes, der vor hundert Jahren starb. „Was wirklich was taugt, kauft kein Mensch“. Und wenn Kurt Tucholsky zu Hermann Hesses Auswahl von Gedichten des von diesem verehrten Christian Wagner anmerkt: „Nur, die Deutschen lesen solche deutschen Gedichte nicht“, so wünschen und hoffen wir, dass es heute anders sei.
Eine dichterische Existenz wagen, sich dem Leben aussetzen, das ist ein existentieller Drahtseilakt. „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ (Rilke), darf der Wissende, der Fühlende, der Mitfühlende nicht schweigen und hat die Worte zu wägen, zu finden, neu zu finden und zu vertiefen, in Urgründe zu tauchen. Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie.
„Ja, für den Rest meiner Zeit gestatt ich mir eigens die Freiheit / Wahr, aufrichtig zu sein bis zur Schroffheit“, verkündete trotzig Christian Wagner, eine Maxime, die Helga M. Novaks Schaffen bestimmt wie kaum das eines anderen, es deshalb in seiner ganzen Ausdrucksstärke zu einem bedeutenden Zeitzeugnis gerinnen lässt. Sie ist für Wolf Biermann „die zärtlich-schroffeste Dichterin“. Die Begriffe Freiheit und Schroffheit tragen ihr Werk.
Nicht nur Widerspruch, auch Verzweiflung und Enttäuschung bedingen das Aufbegehren und die Wut über herzlose Bürokratie, die den Menschen hinter die Paragraphen setzt. „ich bin frei“, schleudert uns, im Tiefsten und Innersten verletzt, aber auch stolz Helga M. Novak entgegen:
bloß weg von Provinz Terrain und Tümpel
ich bin frei
mein Status nun verbrieft und besiegelt
als „erwerbslose Ausländerin“ verwirkt
mein Aufenthalt im heimatlichen Distrikt
ich bin frei
Um 2004/05 geschrieben, sind das die letzten Verse der zweibändigen Ausgabe ihrer Gesammelten Gedichte und die Quintessenz ihrer Bemühungen, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen, die mit Ablehnungen endeten. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: eine deutsche Dichterin, als eine der bedeutendsten erkannt, muss als Ausländerin, als Heimatlose ihre Existenz irgendwie bewerkstelligen.
ich war frei
über Land zu fahren
durch Gegenden vieler Länder
ich war frei
jetzt haben sie mich von meinem
eigenen Land befreit
Dazu passt die bittere Erkenntnis Christian Wagners:
Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande.
Die Situation ist fast ausweglos, wie so oft in diesem Leben. Da beruft sie sich auf das Meer, dem sie manchmal nahe war und deutet an, was ihr noch bleibt:
die hohe See kennt mich sie wartet
Der Freitod, von Christian Wagner bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck des eigenen Willens und der Freiheit, des Lossagens von jeder Knebelung und jedem Joch besungen, verbindet sich für Helga M. Novak ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit, nämlich bereits in der Erzählung „In einem irren Haus“.
„Nach einem kurzen Ausflug in den Himmel aus allen Wolken gefallen und hier gelandet“, heißt es da, gelandet in einer Anstalt, wo jegliches Nachdenken verboten und die Auseinandersetzung mit dem Thema tabuisiert wurde. Als eine der ersten nahm sie sich dieses Themas an und anderer, wie das Wirken der Staatssicherheit in der DDR und die Situation von Opfer und Täter. Und so fordert sie „das Recht… sich selbst den Hals umzudrehen“.
Dichter sind Visionäre. In dem frühen Band mit dem Titel Balladen von der reisenden Anna, 1965 bei Luchterhand erschienen, – das meiste davon bereits in dem vorher in Island im Selbstverlag als Ostdeutsch herausgegeben – dort verdichten sich bereits Leben, Selbsterfahrung , Beobachtung, Erzählungen und Schicksale anderer nicht nur mit Fragen und Protest, sondern auch mit Empathie für Betroffene und dem Vorausahnen des eigenen Schicksals, das beispielsweise im „Traum des Emigranten“ alle Trostlosigkeit der Welt evoziert:
Der Emigrant
schreibt Gedichte und macht
Weltverbesserungspläne
das Vaterland winkt schon.
„Das Vaterland winkt schon“ – eine zweideutige Aussage: Will es ihn und seine Weltverbesserungspläne wiederhaben? oder winkt es ab: Brauchen wir nicht! oder will es ihn vernichten?
Wir kannten ja die Emigranten und wussten aus ihren Büchern: Viele Schriftsteller waren darunter, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ aus Deutschland flohen – nach Westen (England, USA) die einen, nach Osten (Sowjetunion) die anderen. Von der Rolle, die sie spielten, den Auseinandersetzungen erfuhren wir ebenfalls. Da gab es die Kontroverse zwischen Johannes R. Becher, aus Moskau zurückgekehrt, Kulturminister geworden und Bert Brecht, der aus den USA in die DDR kam. Es war 1956, Brecht starb bald danach, daran, und in Ungarn gingen die Menschen auf die Straße und wurden zusammengeschlagen.
„Das Exil ist eine Wüste, wenn es keine Alternative gibt“. Von Per Olov Enquist stammt diese Feststellung, einem Autor, der wie viele aus Island und Skandinavien, zu den Geistesverwandten Helga M. Novaks gehört.
Bertolt Brechts Lyrik und seine Theaterstücke, die wir im Berliner Ensemble oder wie die Oper „Die Verurteilung des Lucullus“ in Leipzig sahen, übten großen Einfluss auf die aufsteigende Dichtergeneration aus. Und getrost dürfen wir in Novaks alter Bohemienne eine Schwester von Brechts Mutter Courage sehen.
Nebenbei bemerkt, Brecht könnte auch als Zwischenglied zu Christian Wagner führen; denn dessen Vierzeiler „Winternacht“ erscheint in Versmaß und -melodie, aber auch inhaltlich Brechts „Von der Freundlichkeit der Welt“ vorausgegangen: Christian Wagner:
WINTERNACHT
Kalt und strahlend stehet Stern an Stern:
Fremde Augen, doch unsagbar fern;
Teilnahmslos und ohne Liebespflicht
Steht des Himmels Funkenangesicht.
Bertolt Brecht:
VON DER FREUNDLICHKEIT DER WELT
Auf die Erde voller kalten Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.
Und wenn Helga M. Novak „von sehr großer Not“ berichtet, geht es ebenfalls um menschliches Schicksal, um das Ausgeliefertsein, das bei Wagner ganz allgemein und universell bleibt, während Brecht den Menschen, Kind und Weib, betrachtet. Die Dichterin artikuliert spezielle Frauenqual:
der Spätsonne sag ich dem Aar
dem Ren dem eisigen Wind
zweimal verschenkte ich ein Kind
das ich aus meinem Schoß gebar
In dem frühen Trinklied von der alten Bohemienne, die das Land Atlantis umsonst sucht, spiegelt sich das eigene antizipierte Leben. Im Galgenhumor endet es mit der Apotheose:
und wenn sie einst gestorben ist
macht sie den Himmel hell
sie wird die erste Lady sein
im göttlichen Bordell.
Jahre um Jahre später lesen wir in Silvatica:
die Rumtreiberin hat ihre Laubhütte
verlassen zieht Leine und hängt Netze auf
mit Federn getarnte und extragrüne Lappen
rund um ihren Jagen flattert das Blendzeug
bis sie selber verblendet geblendet
einer Meute auf den Leim gegangen ist
Silvatica, diese Sammlung von Wald- und Jagdgedichten wird zur Metapher eines Außenseitertums eines melancholischen, desillusionierten Rückzuges aus der Gesellschaft in die Natur und zum verkappten Hymnus einer späten Liebe. Zauberhaft verwunschen und doch zeitnah stellt diese Dichtung westliche Zivilisation in Frage.
Heimatlosigkeit, Leben in der Fremde, im Exil durchziehen das ganze Werk.
ich schrei es in die Tagfrüh ich bin
in sehr großer Not und kein Weg
führt daraus trennt das Geheg
und heilt meinen verworrnen Sinn
zweimal verließ ich mein Land zu Fuß
Abzeichen von Belang vermochten nicht
mich zu beugen mein Gesicht
versagte Götzendienst und ehrvoll Gruß
seitdem beherbergt mich kein eigen Dach
die Sprache meiner Leute klingt fern
fremd Schulterzucken salzt das Brot
mein Kleid erregt Spott und Gelach
mich bedecken Nordlicht und Stern
ich bin in sehr großer Not
Nicht weniger erschüttert die „Bittschrift an Sarah“, in den 70er Jahren die Freundin Sarah Kirsch beschwörend, Nachricht über Bekannte und heimische Orte zu geben. Die elfte, die letzte Strophe endet:
Sarah geht los – schaut ob ich noch Freunde habe
sagt ihnen – ich lebe ich sterbe ich lebe
um Himmels Willen
schreibt mir einen Brief von zu Hause
Die Sehnsucht durch die Welt zu reisen, die in unseren DDR-Jugendjahren Utopie bedeutete, transportierte Helga Novak damals in die Begegnung mit einem ihr wichtigen Dichter, der an Deutschland litt, wie kaum einer. Wieder ist es kalt und alles hoffnungslos „an einem deutschen Wintertag“:
ich sagt ich hätt einen deutschen Pass
und könnte doch nicht reisen
da hatt er mich nur ausgelacht
sein Blick ließ mich vereisen
dann meinte er nebenbei zu mir
– sei nur ein Narr und weine
wie ichs vor hundert Jahren tat
ich heiße Heinrich Heine –
Als dieses lapidare Gedicht um 1956 wohl entstand, dessen tragische Aspekte sich aus dem liedhaften Singsang der Reime erst nach und nach ganz erschließen – wie ja viele der Werke von Helga M. Novak einen doppelten und dreifachen Boden besitzen – lag die Zukunft noch vor ihr. Sie studierte an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität – Kaderschmiede der SED, Rotes Kloster genannt, und wollte – wie ich auch, wir lernten uns dort kennen – Kulturredakteurin / Kunstkritikerin werden.
Es sollte anders kommen. Die Staatssicherheit (Stasi) versuchte sie zu erpressen, weil sie mehr oder weniger vogelfrei zu sein schien. (Aus ihren autobiographischen Romanen Die Eisheiligen und Vogel Federlos ist bekannt, wie es einem Adoptivkind erging, das sich von den Stiefeltern lossagte, um studieren zu können.) Nach einem großen Autodafé, das sie bedrohlich an den Pranger stellte, flüchtete sie mit ihrem isländischen Freund auf seine nordische Insel – es war wie jetzt Ende November und dort sehr kalt und dunkel.
Mit der baldigen Heimkehr nach Berlin war sie zur Arbeit in einer Fabrik verdonnert. Das konnte auch nicht von Dauer sein. Die nächste Ausreise, wieder nach Island war 1961, Jahr des Mauerbaus. In kurzen knappen Erzählungen – zusammengestellt in dem Band mit dem Titel In einem irren Haus, findet sich die Quintessenz von Situationen, die zu meistern waren, von Begegnungen und Reisen. Sie war weit herumgekommen in Europa, von Nord nach Süd gefahren bis nach Palermo, von Island bis Barcelona getrampt, viele Stecken zu Fuß gegangen. So bewarb sie sich dann mit jenem Band Ballade von der reisenden Anna, der bei Luchterhand in Vorbereitung war, am Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“ und wurde angenommen, trotz Gedichten wie „Faustregel“, das den Widerspruch zur Lebensmaxime erklärt, oder solchen. die den „Kehricht im Lande Sta“ aufdecken, in der großen Ballade über Annas Schicksal in sibirischer Verbannung oder durch die provokative Frage: „wem gehört eigentlich das Volkseigentum“.
Es war – wie wir sagten – mal wieder „Tauwetterzeit“ in der DDR. Wir trafen uns auf Leipzigs Straßen. Ich war Redakteurin bei der Leipziger Volkszeitung, freute mich über die Wiederbegegnung und bot ihr an, bei uns zu wohnen. Wir hatten drei kleine Kinder, der jüngste kein Jahr alt und vier kleine Räume, davon bekam sie einen. Aber auf Tauwetter folgten Regen, Schnee und Eis, ein berüchtigtes Parteiplenum rechnete mit Künstlern, Schriftstellern, Kulturschaffenden ab; Helga M. Novak, die Weitgereiste, Aufmüpfige mit ihrer Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann, kam wieder in die Bredouille, was vielleicht ein zu leichtfertiges Wort ist für die Situation. Vom Staatssicherheitsdienst beobachtet und verfolgt, wurde sie genötigt, die DDR im Frühjahr 1966 zu verlassen und die isländische Staatsbürgerschaft anzunehmen. (Sie war unterdessen mit einem Isländer verheiratet). Aber ihre Heimat war nicht jene ferne, kalte Insel, ihre Heimat – und auf allen Wanderungen zog es sie dorthin zurück – blieben immer Berlin und seine Umgebung, diese Märkischen Wälder und Seen, wo sie als Kind zu Hause herumstöberte. Immer und immer hat sie davon ergreifend geschrieben, ob in den Eisheiligen, in Vogel federlos, in dem Gedichtszyklus „Grünheide, Grünheide“, in „Märkische Feemorgana“ – hier in archäologischen Tiefen grabend – und vor allem in Silvatica. Das von Ulrich Keicher so einfühlsam gestalteten Heft mit dem Prosastück „Lebendiger Fund“ bietet einen kleinen Einblick in die Schreibwerkstatt der Dichterin. Entstand es doch aus Notizen, aus Versuchen auf Zetteln verteilt, in eine Mappe verbannt, Fingerübungen gleichsam zu den Silvatica-Gedichten.
Groß war die Sehnsucht nach dem Osten. Als Ausgebürgerte durfte Novak die DDR nicht mehr betreten, erhielt deshalb auch kein Transitvisum, um ihren Traum zu verwirklichen, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Imagination und Phantasie beflügelten ihre Fingerreise über Landkarten, die das Versepos „Legende Transsip“ entstehen ließ, um mehr und Eindringliches über russische und sibirische Weiten mitzuteilen als manch tatsächlich Gereiste erfahren können.
Dichtung ist viel mehr als Autobiographie. Auch wenn rücksichtslos aufrichtig um äußerste Wahrhaftigkeit gerungen wird, das Leben, selbst das bittere, besitzt allemal eine poetische Seite. Schon als Kind beschrieb Helga Novak „die roten Ränder der Abendwolken, den Kiefernwald, meine Lieblingsplätze und die Stelle mit den unbekannten Pflanzen“. Die ersten Gedichte verbrannte die Stiefmutter – Kaltesophie in den Eisheiligen genannt. Die über Zeiten sich hinspannende Verwandtschaft zu Christian Wagner, den Dichter der Landschaft, der Blumen und Schmetterlinge zeigt sich in diesem Hinwenden zum Alltäglichen, zum Wald, zum Wacholder, zur Kaiserkrone oder zum weißen Alttier mit roten Augen und deshalb verstoßen, denn „ein jedes soll seine Farbe tragen / wer keine hat ist dem Tode geweiht“.
Den Dichter unterscheidet vom Literaten die Konzentration auf Geist und Form. In den gelungensten Stücken bildet Reife des Ausdrucks die Vollkommenheit des Gedankens. Aus einer Frage von Gustave Flaubert eine Behauptung aufstellend, konstatieren wir: Wer sein Denken zusammenpresst, gelangt immer zum Vers. Und Dichterin ist Helga M. Novak auch in ihren prosaischen Werken. So gehört sie zu jenen, von denen Hermann Hesse in einem seiner Aufsätze über Christian Wagner sagt:
Manche sehen wir in der Flamme verbrennen und verloren gehen.
Um das Verlorengehen von Dichtern, von Künstlern zu verhindern, sind alle – zuförderst die Kundigen, die Fühlenden, die Mitfühlenden – aufgerufen. Die Christian-Wagner-Gesellschaft und die Christian-Wagner-Stiftung, die ohne begeistert engagierte Mitstreitende nicht existieren würden, machten sich das zur Aufgabe. Dass der Preis, der den Namen des eigenwilligen Dichters aus Warmbronn trägt, in diesem Jahr Helga M. Novak zugedacht ist, gereicht allen Beteiligten zur Ehre; denn auf beider Werk fällt dadurch das Licht der Erkenntnis und lässt ihre Bedeutung einmal mehr in das öffentliche Bewusstsein steigen.
Hier ist es denn Zeit, den Dank der Jury und den Preisstiftern von der mit dem Christian-Wagner-Preis geehrten Dichterin Helga M. Novak zu überbringen. Gern wäre sie selbst anwesend, ist aber sehr, sehr krank.
Christian Wagner, der an die Wiedergeburt glaubte und dabei in Tier, Mensch, Pflanze und Unbelebtem gleichberechtigte Wesenheiten erkannte, wünschte am Ende „Lichtwellen neu zu werfen in den Tag, / Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts.“
Ironisch hält Helga M. Novak, ganz Mensch unserer aufgeklärten Zeit, dagegen, indem sie unsentimental feststellt:
nach meinem Tod die Seele
von der ich nicht weiß
wo sie sich augenblicklich befindet
(ich habe sie noch nie gesehen)
wohin sollte sie sich wenden wohin
wenn ich sterbe wenn ich umfalle
dass mein Herz aufhört zu schlagen
ist gewiss auch dass es zu Erde wird
wieviel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual eine Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade
Solche Gedanken münden bei Christian Wagners in verwandtschaftliche, doch hoffnungsvollere Fragen:
Und wer wir künftig, wann dereinst ich sterbe,
Als neues Ich wohl sein mein Geisteserbe?
Wer in der Fernzeit, wenn das Grab mich schattet,
Erstehn, mit meinen Liedern ausgestattet?
Christian Wagner, dem es nur selten vergönnt war, aus der Fron des Warmbronner Landlebens auszusteigen – gleich Helga M. Novak war er allerdings auch in Italien und beide schrieben ihre Gedichte über die Stätten, an denen sie sich aufhielten – versuchte von hier aus den Weltgeist zu erhaschen. Helga M. Novak setzte sich ganz und gar dem Zeitgeist aus, diesem 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und der Teilung Deutschlands. Früh schon begriff sie die Divergenz zwischen sozialistischer Theorie und Realität, stellte sie in Frage. Zwischen Ost und West wandelnd, schrieb sie ein gewichtiges Stück deutscher Literatur.
Rita Jorek, 2010
PROPHEZEIUNG
(für helga m. novak)
Die letzten sto gramm, und wovon
aaaaadie augen
aaaaaaaaaaaaaaflossen,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie augen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagingen uns über,
als trotzig
aaaaaaaawir beide einander versprachen,
uns wiederzutreffen nach fünfzig jahren
im irgendwo einer anderen zeit.
Seitdem hat die glocke verschlagen
fast schon ein halbes jahrhundert. Ja, fast! –
Am weihnachtsabend bist du gestorben.
Ich hab’s aus der zeitung erfahren.
Und trocken bin ich seit weißnichtmehr.
Aber wir werden uns wiedersehn
vorm großen tor von jerusalem,
falls die winde uns günstig sind
aaaaaaaaaund staubkorn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas staubkorn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaerkennt
Andreas Reimann
Die Dichterin Helga M. Novak. Ein Feature von J. Monika Walther
Die verlorene Tochter. Ein Skandal: Helga M. Novak darf nicht nach Deutschland
Ulrich Schäfer-
Utz Rachowski: Wie ich die große Dichterin Helga M. Novak verpasste
Bernd Markowsky: „Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir“
Andreas Reimann: DDR ausprobieren
Hannes Schwenger: „Ich wohne bei der Eule“
Hans Altenhein: Transsibirische Reise
Michael Braun: Schöne Verwilderung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005
Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005
Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005
Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010
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