Helmut Koopmann: Zu Paul Celans Gedicht „Die längst Entdeckten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Die längst Entdeckten“ aus Paul Celan: Gesammelte Werke. Fünf Bände. Band 2: Gedichte II. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Die längst Entdeckten

Die längst Entdeckten
flüstern sich Briefworte zu,
flüstern das Wort ohne Blatt, das umspähte,
groß wie dein Taler,

hör auch
mein starkes
Du-
weißt-wie,

das hohe Herbei, die Umarmung
ist mit uns, ohne Ende,
auf der Treppe
zum Hafen,

der Stechschritt erlahmt,
Odessitka.

 

Grenzgängerisches

An diesem Gedicht scheint zunächst einmal alles verständlich zu sein, bis auf das letzte Wort; und doch ist dieses, das scheinbar Unverständliche, das einzige, von dem wir am ehesten wissen, was es bedeuten könnte. Denn es ist offensichtlich kein Name, sondern bedeutet Bewohnerin von Odessa, der Stadt am Meer mit einer früher sehr großen jüdischen Bevölkerung.
Doch genau betrachtet ist dieses Gedicht eine einzige Sammlung von Undeutlichkeiten. Am ehesten können wir noch etwas mit dem erlahmenden Stechschritt assoziieren: diese militärische Gangart war und ist aus westlicher Sicht in östlichen Ländern beliebt, während diese den Stechschritt mit Preußen identifizieren: jeder kennt Bilder derart westlich-östlich paradierender Soldaten. Aber – wer sind die „längst Entdeckten“? Wer sind Du und Ich? Und was sollen die Andeutungen, die sich vom Gedicht her nicht entschlüsseln lassen, aber auch nicht von einer Ebene jenseits des Gedichtes? Sind Fragen nach einem in sich kohärenten Sinn überhaupt erlaubt? Widersteht das Gedicht nicht jeglicher Exegese?
Es steht in Celans letztem Gedichtzyklus „Fadensonnen“. Celan hat es am 21. November 1965 in Paris niedergeschrieben und mehrfach verändert. In einigen Handschriften fehlt „das umspähte, / groß wie dein Taler“ – also das, was dem Gedicht zusätzliche Dunkelheiten gibt. Andererseits: Lediglich die letzte Fassung nennt „die Umarmung“. Es hieß (etwa in der dritten Fassung) nur: „das hohe Herbei, / auf der Treppe zum Hafen, / ist mit uns, ohne Ende“ – oder, in Fassung 5:

das hohe Herbei,
auf der Treppe zum Hafen,
hat kein Ende

Die letzte Fassung läßt also am ehesten erkennen, was dieses Gedicht ausdrücken will. Sind es Verfolgte, spricht sich hier – der Hinweis auf Odessa könnte es nahelegen – eine jüdische Leidensgeschichte aus, sind die Worte die einer religiösen Botschaft? „Kann sein, auch nicht“, ist man versucht, mit Kleist zu sagen. Das Bild der Treppe ist offenbar Zitat: Celan spielt an auf eine Szene in Sergej Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin, die Soldaten auf der Treppe zum Hafen zeigt. Der erlahmende Stechschritt könnte die gescheiterte Meuterei symbolisieren, das „hohe Herbei“ sich auf das von den Sowjets errichtete, daran erinnernde Monument auf dem großen Platz oberhalb der Treppe. Also: ein politisches Gedicht? Es ist aber wohl auch ein Liebesgedicht, ein ebenso undeutliches wie eindringliches. Wir können uns als Kernszene jenen Satz vorstellen: „Die Umarmung / ist mit uns, ohne Ende, / auf der Treppe / zum Hafen“ – und von dorther, von diesem gemeinsamen Gang die Treppe hinab, ist die vorletzte Zeile zu entschlüsseln. Sie hat natürlich nichts zu tun mit einem militaristischen Paradeschritt, sondern beschreibt exakt den Gang eine Treppe hinab. Und die „längst Entdeckten“ – sind es also Liebende? Sind die Briefworte Liebesworte, und setzt die zweite Strophe dieses Liebesgeflüster fort? Ist hier von einer heimlichen Liebe die Rede, die freilich, umspäht, längst entdeckt ist?
Es steht jedem Leser frei, das zu vermuten, so wie es ihm freisteht, derartiges als Phantasie abzutun. Das Gedicht sagt nicht das geringste aus über die Worte, die wir ergänzen müssen, also darüber, wie das „Du-weißt-wie“ weitergeht. freilich: die Strophe, die das Gedicht zum Liebesgedicht macht, ist unmißverständlich. Die Umarmung ist endlos – aber das Ende kommt mit dem Ende der Treppe, und was ewig schien, ist von kurzer, von allzu kurzer Dauer.
Liebesgedichte sind spärlich eingesprengt in diesen Gedichtzyklus der „Fadensonnen“, aber von einem „Du“ ist immer wieder die Rede. Der erste Zyklus dieser Sammlung umfaßt 22 Gedichte; in 16 von ihnen begegnet ein Gegenüber. Wenn eine derartige Wortstatistik auch nicht viel besagt, so legt sie doch wenigstens den Kontext dieses Gedichtes frei. Von Abschied, Reiseglück, vom Gehen über das Land, von einer „Du-Schlucht“ und einer „Mundbucht“, von der „Schlucht, wo du mir zufielst“, aber auch vom Schmerz und vom „verschollenen Ziel“, von erbrochenen Siegeln, von Brücken und Straßen handeln viele Gedichte dieses ersten Zyklus. In den folgenden Zyklen: das Meer, Muscheln, Anker, salzwasserklamme Stricke, ein steifes Segel und die „gerunzelte Flut“ – und immer wieder ein Du. „Es ist, als könntest du hören, als liebt ich dich noch“, heißt es wenig später. Wäre auch unser Gedicht ein Liebesgedicht – es wäre wohl einzigartig. Jedenfalls bewegt sich Celan am äußersten Rande dessen, was noch von der Sprache begehbar ist. „Das ist etwas Randgängerisches“, hat er zu „Fadensonnen“ gesagt. Aber auch:

In der Dichtung wird nicht gemogelt.

Und so dunkel die Sprache Celans auch sein mag – das ist keine lyrische Falschmünzerei, sondern die Wahrheit einer Erfahrung, die einen politischen Bezug nicht ausschließt, sondern einbezieht.

Helmut Koopmann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

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