Herbert Heckmann: Zu Michael Krügers Gedicht „Die Enten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Michael Krügers Gedicht „Die Enten“ aus Michael Krüger: Zoo

 

 

 

 

MICHAEL KRÜGER

Die Enten

Schneeüberkrusteter See, stöhnend
unter den Schuhen. Jeder Schritt schmerzt
und läßt das Wasser im eisfreien Streifen
am Ufer zittern. Eine Frau überquert
den See an seiner breitesten Stelle, ich
kann es hören. In der Mitte
eine wäßrige Zunge, besetzt mit Enten,
deren scholastischer Disput die Sonne
tanzen läßt. Stehenbleiben, warten,
zählen. Ein Ort, der mir günstig ist.
Zwei Schwäne fliegen dumpf klatschend
über mich weg: eine weiße Seite
wird umgeblättert, eine einzige weiße Seite.

 

Bestandsaufnahme

In den Gedichten Michael Krügers führen die Tiere ein eigenes, vom Menschen unabhängiges Leben. Niemals sind sie Hätschelwesen, die menschliche Streicheleinheiten erdulden müssen – oder die Kugel des Jägers. Sie bleiben uns bei aller Nähe fremd und widersetzen sich dem Verfügungseifer des Menschen, den sie noch obendrein verspotten, indem sie ihn nachahmen. So lernt der Verfolger die Lächerlichkeit seiner Unternehmungen kennen.
In diesem Gedicht Krügers ist von Enten die Rede, „deren scholastischer Disput die Sonne / tanzen läßt“. Die Leidenschaft ihrer geschnatterten Thesen und Gegenthesen bleibt nicht ohne Folgen. Jemand, der über den zugefrorenen See geht, bleibt stehen und wartet. Er hat das Bedürfnis, Übersicht zu gewinnen – und zählt. „Ein Ort, der mir günstig ist“, bekennt er. Er ist auf dem schwankenden Eis fast bis zur Mitte des „schneeüberkrusteten Sees“ gekommen. Dort auf einer wäßrigen Zunge disputieren die Enten. Ein Hauch von Gefahr und Unsicherheit schärft die Aufmerksamkeit des Beobachters, die Frau ist wagemutiger gewesen. Er sieht, wie zwei Schwäne sich aus dem Wasser erheben und „dumpf klatschend“ über ihn hinwegfliegen. In diesem Augenblick fallen seine Beobachtungen auf ihn selbst zurück. Krüger hat die Winterlandschaft eines Augenblicks festgehalten, in dem die Geräusche dominieren. Ich kann es hören. Er weiß jedoch zu guter Letzt, daß in diesem Augenblick nur eine einzige weiße Seite umgeblättert wird. Warum aber dann das Gedicht, das eine Seite füllt?
Nicht zufällig hat ihm Krüger den Titel „Die Enten“ gegeben. Tatsächlich machen diese mit ihrem scholastischen Disput die Mitte des Gedichts aus. Die Unverständlichkeit ihres Schnatterns regt den Beobachter zu dieser Metapher an, die dann auch die Schlußpointe vorbereitet. Es bleibt eine leere Seite. Der Disput mußte nicht aufgeschrieben werden. Man tut dem Gedicht unrecht, wenn man nur seine ironische Pointe hervorhebt. Das Gedicht „Die Enten“ ist im strengen Sinne auch ein Gedicht über Gedichte. Naturgedichte sind gerade in Deutschland zu einem romantisierenden Seelenritual geworden, in dem die Natur nur noch als Kulisse gilt. Der Mensch sieht sich in der Natur, die Natur selbst sieht er jedoch nicht. So bleiben nur weiße Seiten. Der vorurteilsfreie, hingebungsvolle Beobachter indes respektiert das Fremde in der Natur. Im Innersten seines Herzens weiß er, daß ein weißes Blatt die einzige Antwort ist, in der sich das Erschrecken über das Anderssein des Gesehenen offenbart. Nur wenn man dies weiß, kann man Gedichte schreiben, die die Natur zur Sprache bringen.
Krügers eher hingetuschte Sätze verraten, wie sehr er das Anderssein der Natur, der Tiere achtet. Fast scheut er sich, seine Beobachtungen in vollständige Sätze zu fassen. Schon das Partizip der Gegenwart in der ersten Zeile: „Schneeüberkrusteter See, stöhnend…“ verrät diese Scheu. Vorsichtig muß auch der Schritt auf dem Eis sein, das stöhnt. Dieses Stöhnen wird durch das Partizip der Gegenwart nachgerade als Zustand und nicht als eine Tätigkeit hingestellt. Die Natur ist verletzt. Die Begegnung mit ihr verlangt so eine außergewöhnliche Behutsamkeit:

Stehenbleiben, warten, zählen.

Das ist nicht die Pose des alles niedertrampelnden Siegers, der seine Beute zählt, sondern eine Aufforderung, das Übriggebliebene zu zählen. Eine Bestandsaufnahme ist es, in einer Sprache vorgetragen, der bewußt geworden ist, wie sehr die Wörter Raubbau getrieben haben. Die Enten führen es vor: Ihr scholastischer Disput läßt die Sonne tanzen.

Herbert Heckmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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