Hermann Burger: Zu Paul Celans Gedicht „WEGGEBEIZT vom …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „WEGGEBEIZT vom …“ aus Paul Celan: Atemwende. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

WEGGEBEIZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.

Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.

Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.1

 

Der Atemkristall

EIN DRÖHNEN: es ist
die Wahrheit selbst
unter die Menschen
getreten,
mitten ins
Metapherngestöber
.2

Das Gedicht beschließt den ersten Teil des Bandes Atemwende aus dem Jahre 1967. Der Zyklus war bereits 1965 als bibliophiler Druck mit Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange in Paris erschienen, und zwar unter dem bezeichnenden Titel Atemkristall. In dieser Doppelchiffre, die aus zwei Schlüsselwörtern gebildet ist und mit der das Gedicht in der dritten Strophe seinen Höhepunkt findet, vereinigen sich alle Vorstellungen Celans vom Wesen einer gültigen Sprache. Selten genug kommt es vor, daß der Dichter nicht bloß in Negationen und unter zweifelnden Vorbehalten von seiner Dichtung spricht, sondern sich zur Möglichkeit eines unumstößlichen Zeugnisses bekennt. Freilich steht der Glaube an die Wahrheit des Wortes nicht unangefochten da. Er muß sich durchkämpfen gegen die tief verwurzelte Skepsis allen verbalen Äußerungen gegenüber; eine Spannung, der die bisherige Gedichtform nicht mehr gewachsen ist. Schon allein an der Typographie läßt sich ablesen, wie das Schweigen gleichsam von den Rändern her in den geschlossenen Textblock einbricht, wie Zeilen und Wörter unter dem Druck des „unerhörten Anspruches“3 einer absoluten Poesie auseinanderbrechen. Mehr denn je bewahrheitet sich Celans Charakterisierung aus der Büchner-Preis-Rede, daß sich das Gedicht heute am Rande seiner selbst behaupte und sich aus seinem „Schon-nicht-mehr“ in sein „Immer-noch“4 zurückrufe. „Weggebeizt…“ und ähnliche Beispiele aus der Atemwende heben sich von der elegisch getönten Lyrik der Frühzeit ab und rücken, was die sprachliche Struktur betriff, in die Nähe der Prosadichtung „Gespräch im Gebirg“. Die Verwandtschaft beschränkt sich aber nicht nur auf das Formale. Vergleicht man die beiden landschaftlichen Szenerien miteinander, stellt man überraschende Affinitäten fest. Dort eine steinige Gebirgsgegend mit spärlichen Pflanzen, hier eine hoch gelegene Schneewüste. Die breite Straße, auf der die Begegnung der beiden Juden stattfindet, hat sich zu einem schmalen Pfad verengt. Er führt weiter als nur bis zum Bergsee, dessen Smaragdgrün vom Eiswasser milchig getrübt wird, hinauf windet er sich bis zu den Gletschern selbst. Hier wie dort tut sich am Ende der beschwerlichen Expedition die Erde auf und läßt die Wanderer in die Tiefe blicken. Beide Landschaften erweisen sich letztlich als Landschaften der Sprache. Während aber in der Prosa das Geschwätz der Geschwisterkinder die unter dem Schweigen des Steins verborgene und in der Gletschermilch verheißene Botschaft des lebendigen Wortes übertönt, ist der Dichter hier, zum Zeitpunkt der Atemwende, von allem Anfang an einer Sprache von elementarer Gewalt gewiß.
Die erste Strophe setzt, vergleichbar dem Motto, mit dröhnender Wucht ein. Man müßte das W beim Rezitieren lange zurückhalten und dann sofort die Stimme heben, um das Partizip explosiv hinauszuschleudern. Der Einsatz mit dem Mittelwort der Vergangenheit nimmt die Leistung des „Strahlenwindes“ vorweg. Er bricht von außen herein, fegt gleichsam durch den Metaphernbestand der Celanschen Gedichte und löscht alles aus, was dem absoluten Anspruch seiner Sprache nicht standhält. „Beizen“ ist ein Ausdruck aus der Jägersprache, er geht zurück auf „beißen machen“, „beißen lassen“. Ursprünglich bezog er sich auf die Hetzjagd mit Hunden, Falken oder Greifvögeln. Erst später kommt die Bedeutung „ausmerzen“ hinzu. Flecken beizt man mit Hilfe von Säuren weg. Eine ähnlich ätzende Wirkung hat offenbar der Strahlenwind. Als bunte Kleckse auf dem reinen Weiß des Schweigens empfindet der Dichter der Atemwende seine eigenen, bilderreichen und wohllautenden Gedichte. Er mißtraut ihnen, verdächtigt sie sogar des Meineides. Was er geschaffen hat, ist „Metapherngestöber“,5 falsches Zeugnis im Sinne jener Äußerung aus der Niemandsrose:

… sie
logen unser Gewieher
um in eine
ihrer bebilderten Sprachen.
6

Bunt und nichtssagend ist das Gerede der beiden jüdischen Gebirgswanderer. Aus dem Prosatext erfahren wir auch, was Celan unter dem „An-Zerlebten“ versteht. Der Schleier in den Augen des Betrachters verhüllt das Wesen der Dinge, er stößt nie zur objektiven Wahrnehmung und Erkenntnis vor. Die Umwelt liefert ihm nur abziehbare Bilder, und die dafür gefundenen Worte decken sich sowenig mit der Schöpfungssprache wie „Dianthus superbus“7 mit der wirklichen Prachtnelke. Auf der Stufe von Mohn und Gedächtnis und Von Schwelle zu Schwelle gehört die Buntheit des Anerlebten zum Bereich des Sommers. Wie wir aus „Strähne“8 wissen, meidet das erschwiegene Wort den von Augen „umsommerten“ Dichter. Während aber das Er-lebte sich im Herbst verwandeln kann und seine Essenz im Gedächtnis gespeichert wird, bleibt das An-erlebte ganz an der Oberfläche. Es dringt nicht durch die Haut, weshalb das Gerede auch niemals die eindringliche Gültigkeit der Dichtung erlangt, so kunstvoll es arrangiert sein mag. Celan bezeichnet die lyrische Attrappe als „das hundert- / züngige Mein- / gedicht“. Hundertzüngig ist ein Vielfaches von doppelzüngig, und wer mit gespaltener Zunge redet, lügt bekanntlich. „Etwas mit tausend Zungen predigen“ heißt: etwas dermaßen nachdrücklich und ausführlich darstellen, daß unter dem Nachdruck der Eindruck verlorengeht. Hundertzüngig spricht, wer keine einheitliche „lingua“ besitzt, dessen Vokabeln beliebig austauschbar sind. Aber schon die eine, fleischliche Zunge als Sprechorgan ist für Celan, wie aus dem „Gespräch im Gebirg“ hervorgeht, nicht mehr als ein notwendiges Übel. Sie, die nur „blöd gegen die Zähne stößt“,9 fördert keine Wahrheit zutage, sondern lediglich Totgeburten aus Silben, Wortleichen.10
Das Motiv der Spaltung einer Sprache in viele Zungen geht zurück auf die Legende vom babylonischen Turm, wie sie von Martin Buber in den Erzählungen der Chassidim überliefert wird. Rabbi Pinchas wurde gefragt, wie es zu verstehen sei, daß die Menschen vor dem Turmbau eine einzige Sprache gehabt hätten und daß nach der von Gott gestifteten Verwirrung jedes Volk statt der gemeinsamen eine besondere Sprache gesprochen habe. Rabbi Pinchas erklärte, vor dem Turmbau hätten alle Völker die „heilige Sprache“ besessen, daneben aber noch besondere Völkersprachen, nämlich „einige Reden“. In diesen verständigte sich jedes Volk in sich, in der heiligen Sprache verständigten sich die Völker untereinander. „Was Gott tat, als er sie strafte“, war, daß er ihnen die heilige Sprache nahm. Das Gleichnis, das im übrigen nicht strapaziert werden soll, mag erhellen, in welcher Tradition bei Celan das „Gerede“ steht. Er nennt das „bunte“, schillernde Wort, das im Gegensatz zum Schneewort nicht gewachsen, sondern nur aufgesetzt ist, auch „Tausendwort“;11 es kann alles oder nichts bedeuten, jede Tönung annehmen, besitzt also gerade nicht die Qualitäten der einmaligen, zwingenden Chiffre. Das „Mein- / gedicht“, aus solchen Vokabeln zusammengebastelt, bezeugt nichts, bekennt nicht Farbe, es ist lediglich eine beliebige Scheinschöpfung. Die Trennung des neu erfundenen Kompositums ist keine Marotte, denn die Silbe „mein“ soll sowohl als Possessivpronomen verstanden werden als auch im Sinne des mittelhochdeutschen „mein“, das „falsch“ heißt, „betrügerisch“. Celan bezichtigt sein eigenes Gedicht der falschen Aussage und verurteilt es zum nichtswürdigen Gebilde, zum „Genicht“. Er verfügt wohl über „einige Reden“, über die poetische Spezialistensprache, die von seinesgleichen verstanden wird, doch dieser Schatz zerfällt zum „Bettel der Worte“12 unter dem Einfluß des Strahlenwindes.
Hier stellt sich konkret die Frage: Welche oder wessen Sprache meint das Gedicht mit der Chiffre des „Strahlenwindes“? Auf wen bezieht sich das „deiner“ in Vers 2? Versteckt sich, wie so oft, der Dichter selber hinter dem Du, als einer, der die Atemwende vollzogen hat? Hält er Zwiesprache mit einem Toten, mit einer Geliebten? Oder erhofft er sich eine Art Pfingstwunder, indem er die Sprache Gottes beschwört? Wenn aber der Strahlenwind als „eigentliche“ Ursprache „ohne Ich und ohne Du“,13 wie sie im Schweigen des Steins und im grünweißen Gletschersee erkannt wird, alles Metaphernwerk zerstört, wie kann sich dann das Gedicht, das auf das „uneigentliche“ Sprechen angewiesen ist, als Kunstwerk behaupten? Ist es tatsächlich so, daß Celan seine früheren „Fugen“ verleugnet; glaubt er auf der Stufe der Atemwende, durch radikale Aufsplitterung der geschlossenen Form dem erschwiegenen Wort näherzukommen? Wo liegt die Grenze zwischen Gedicht und Genicht? Wir versuchen zunächst, über eine formale Analyse an diese Fragen heranzutreten.
Als erstes fällt auf, daß Celan den Gedichttitel wegläßt, obwohl sich das Schlüsselwort Atemkristall als Überschrift bestens geeignet hätte. Dieser Verzicht ist nicht neu, er hat sich seit den Bänden Sprachgitter und Die Niemandsrose immer entschiedener durchgesetzt. Celan eröffnet die erste Strophe mit einem in Majuskeln hervorgehobenen Stichwort oder Satzteil, der völlig in der Luft hängen kann, wie beispielsweise Du, das…14 Er fällt sozusagen mit der Tür ins Haus. Wir werden unvorbereitet ins Gedicht hineingezogen, und dadurch verstärkt sich der Eindruck des Fragmentarischen. Die Texte stehen nicht mehr deutlich voneinander abgegrenzt da, sie erscheinen vielmehr wie Bruchstücke aus einem einzigen lyrischen Monstrum. Es ist ein ähnlicher Effekt, wie wenn ein Autor seine Erzählung mit „und“ beginnen läßt und der Leser durch die Frage verunsichert wird: Woran knüpft sie an, was wird uns verschwiegen? Ein Buch wie Atemwende liest man nicht mehr als Sammlung, aus der man nach Belieben einige Stücke herauspflücken kann, sondern als fortlaufendes, durch die Zäsuren der Seiten unterbrochenes Gebilde. Vorweggenommen wurde diese Technik bereits in der „Engführung“,15 einem Langgedicht aus acht Blöcken, die mittels Sternchen voneinander abgehoben sind. Der Begriff bezeichnet in der Fugenkomposition bekanntlich das Auftreten eines Themas in weiteren Stimmen, bevor es in der ersten abgeschlossen worden ist. Früher konnte Celan sein Thema noch vorstellen: „Die Winzer“, „Mit wechselndem Schlüssel“. In der Atemwende läßt es sich aus der Engführung bestenfalls erraten. Das Gedicht soll den Weg zum Ziel selber freilegen. Am Anfang von „Weggebeizt…“ darf noch nicht feststehen, ob der Atemkristall wirklich gefunden werde. Solche Offenheit und Unsicherheit gehört mit zur Thematik.
Unterstrichen wird diese Tendenz durch den partizipialen Einsatz von Vers 1 und durch die Brechung einer sinnmäßig zusammengehörigen Zeile. In einer Elegie hätte Celan zweifellos so begonnen:

Weggebeizt vom Strahlenwind deiner Sprache…

Das Enjambement dagegen isoliert das Partizip, und ein herausgelöstes Mittelwort der Vergangenheit gehört zu denjenigen Verbalformen, die am meisten Fragen offenlassen. Wer hat weggebeizt, was wurde weggebeizt, wie, wann und wo? Das Subjekt stellt sich zwar im Verlauf der ersten Strophe ein, aber gleichsam auf Umwegen. Zuerst heißt es „das bunte Gerede des An- / erlebten“, dann folgt eine Korrektur in Form einer Apposition, „das hundert- / züngige Mein- / gedicht“. Aber auch diese Version ist noch nicht endgültig. Es bedarf einer Apposition zur Apposition, um den Satz zum Abschluß zu bringen: „Genicht“. Die Verschleierung des Subjektes ist ein Stilzug, den wir ebenfalls bereits in Sprachgitter antreffen. Da heißt es in „Heimkehr“:

Darunter, geborgen
stülpt sich empor,
was den Augen so weh tut,
Hügel um Hügel,
unsichtbar
.16

Die Satzanalyse zeigt, daß das Subjekt, obwohl es in einem Relativsatz mit Subjekt-Funktion vorweggenommen wird, erst in der zweitletzten Zeile auftaucht, genaugenommen als Apposition zu „was“. Eine ganze Strophe lang wissen wir also nicht, was sich eigentlich emporstülpt, beziehungsweise was weggebeizt wird. Wir sind es vom Deutschen her, das den synthetischen Typus der Syntax bevorzugt, zwar gewohnt, daß die Glieder nicht wie im Französischen in der logischen Reihenfolge ihrer Wichtigkeit gesetzt werden, und wir fragen erst am Schluß nach dem Sinn, wenn wir den Satz als Ganzes überblicken. Eben deshalb verlangt der synthetische Typus, daß man den Einzelteilen syntaktisch kein zu großes Gewicht beimißt, weil sonst die Mechanik zu klappern beginnt. In der Prosa bereitet uns dieses Problem kaum Mühe. Lyrische Verse vertragen in der Regel einen überdeutlich in Erscheinung tretenden Satzbau schlecht. Kein Lyriker, der es auf die Insinuation des Inhaltes abgesehen hätte, würde es wagen, seine Sätze dergestalt zu verstümmeln wie Celan.
Betrachten wir das typographische Bild des Gedichtes, insbesondere der ersten Strophe, fällt uns das Wort aus der Niemandsrose ein:

Ihr meine mit mir ver-
krüppelnden Worte, ihr
meine geraden.
17

Die daktylisch gegliederten Langzeilen sind gänzlich verschwunden, an ihre Stelle ist der Kurzvers getreten und das Prinzip der übertriebenen Segmentation, welches den Prosastil Celans im „Gespräch im Gebirg“ kennzeichnet. Wir haben festgestellt, daß der Duktus dieser Sprache das gebrochene Verhältnis des Dichters zu ihr verkörpere. Auf Präzisierungen und paradoxe Ergänzungen angewiesen, stellt sie sich fortlaufend selber in Frage und betont ihre Unzulänglichkeit. Entscheidend ist nun der Unterschied, daß die Segmentation in der Lyrik viel stärker ins Gewicht fällt als in der Prosa, weil die Zeilensprünge zusätzliche Zäsuren bilden. Die Gedichte wirken zerhackt, beinahe hingestottert. Der Leser, der noch den Wohlklang der Elegien im Ohr hat, stolpert. Sobald die Glieder eines synthetischen Satzes durch Zäsuren voneinander abgespalten werden, die sogar mitten durch einzelne Wörter führen können, zerfällt die Strophe in scheinbar sinnlos in der Luft hängende Einheiten. Der Zusammenhang muß konstruiert werden, wie man ein Porträt aus den zerschnittenen Teilen eines Fotos wiederherstellt. Werfen wir nur einen Blick auf die Zeilenenden der ersten Strophe! Einzig Vers 2 und 6 finden einen sinngemäßen Abschluß, und nicht zufällig stehen an diesen markanten Stellen die beiden Wörter, welche die Thematik des Gedichtes eingrenzen: „Sprache“ und „Genicht“. Alle übrigen Zeilen münden in ein Enjambement, drei davon enden mit einem getrennten Wort, als wäre der Sprachkörper hier in die Brüche gegangen.
Oft wird die Segmentation so weit getrieben, daß sich Celan der bloßen Addition von Wörtern nähert. Der Anfang von „Windgerecht“ lautet:

Tafelwand, grau, mit dem Nachtfries.
Felder, windgerecht, Raute bei Raute,
schriftleer
.18

Oder im Titelgedicht „Sprachgitter“ heißt es:

Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb:
der Himmel, herzgrau, muß nah sein.
19

Fast nach jedem Wort ein Satzzeichen oder ein Versbruch. Mit letzter Konsequenz werden in diesen Beispielen die Attribute nachgestellt. Eine Technik, die an die archaische Bauweise von Volksliedern erinnert und uns ebenfalls aus dem „Gespräch im Gebirg“ vertraut ist. Der Inhalt des Nomens wird bloß noch korrigiert, nicht zum voraus bestimmt. Eines ist klar: Dieser mit der Sprechweise eines Stammlers vergleichbare Duktus ist nicht dazu geeignet, lyrische Stimmung aufkommen zu lassen. Der Leser wird vielmehr zur Reflexion über das zerstörte oder zumindest gefährdete Sprachmaterial gezwungen. Celan hat das Vertrauen in die große Gebärde des Satzes verloren und verspricht sich Genauigkeit oder Wahrhaftigkeit nur noch von seinem Vorgehen, Wort für Wort, Silbe für Silbe mit offenen Fugen aneinanderzureihen:

Heimgeführt Silbe um Silbe, verteilt
auf die tagblinden Würfel, nach denen
die spielende Hand greift, groß
im Erwachen
.20

Der Dichter mahnt uns an einen verirrten Autofahrer, der, nachdem er die Straße einmal verfehlt hat, Abzweigung um Abzweigung im Schrittempo passiert, wobei er nicht mehr die Landschaft, sondern nur noch den Weg sieht.
Daß die Segmentation sogar vor dem einzelnen Wort nicht haltmacht, dafür ist „Weggebeizt…“ ein treffendes Beispiel. Celan arbeitet mit den kleinsten semantischen Einheiten. Die Vorsilbe „An-“ in Vers 3 erhält durch die Abspaltung ein besonderes Gewicht, eine autonome Bedeutung. Der Leser fragt einen Augenblick lang irritiert: Was heißt das nun, „das bunte Gerede des An-“, bis er merkt, worauf der Dichter hinauswill. Zeigen will er, wie uneinheitlich, brüchig und zerfallsbedroht das „An- / erlebte“ ist, das niemals die Intensität eines wirklichen Er-lebnisses erreicht und schon gar nicht ins Gedächtnis eingeht. Dasselbe gilt für „hundert- / züngig“. Das in hundert Zungen redende Gedicht besitzt keine ganzheitliche Sprache, es zerfällt in lauter Versatzstücke. Daß die Glieder der zerlegten Vokabeln jeweils auf verschiedenen Zeilen stehen, verschärft einerseits die Trennung, beschleunigt andererseits aber auch die Verschmelzung. Das Enjambement hat in der Lyrik die Funktion, den oberen Vers an den unteren zu binden. Man wird somit nicht behaupten können, Celan habe es nur darauf abgesehen, den Zerfall seiner Sprache am einzelnen Lautkörper darzustellen, sowenig es stimmt, daß seine Sätze nur noch elliptische Konstruktionen seien. Mit dem Wort-Enjambement wird außerdem der semantische Spielraum erweitert. Oft gelingen ihm sogar neue Formen von Oxymora. Die Silben „an-“ und „er-“ widersprechen sich gewissermaßen. An-gelebtes ist – im Gegensatz zum Erlebten – nicht zur persönlichen Erfahrung geworden. Ein Wort wie „Aschen- / glorie“21gehört eindeutig in die Reihe der paradoxen Komposita. Dagegen ist im Beispiel „… ab- / getrennt, du“22 klar, daß die optische Trennung die inhaltliche unterstreicht. In anderen Fällen will die Zerlegung darauf hinweisen, wie ungewöhnlich die Zusammensetzung ist: „sprach- / pockiger“,23 „Augenschlitz-Krypta“,24 „Kometen- / brauen“.25 Die Chiffre stellt sich nicht als Produkt, sondern im Prozeß ihres Entstehens dar. Das Konstruktionsprinzip wird sichtbar gemacht. Der Leser soll erschrecken über die große Kluft zwischen den Elementen. Daneben schöpft Celan auch die Möglichkeiten der Wortellipse aus. In Benedicta wird das Partizip „gebenedeiet“ in der letzten Strophe auf seine Vorsilbe reduziert, welche zugleich zu den Partizipien von „trinken“ und „segnen“ gehört: „Ge- / trunken, / Ge- / segnet.“.26 Mit jedem „Ge-“ wird die Lobpreisung von neuem in ihrer Unaussprechbarkeit erfahren. Weiter läßt sich wohl die Aufsplitterung nicht treiben, sonst endet das Gedicht in einem Trümmerhaufen von Lauten, wie es am Schluß von „Keine Sandkunst mehr…“ der Fall ist: „Tiefimschnee, / Iefimnee, / I-i-e.“27 Durch die Einengung der Optik vom Satzganzen auf das Silbenbruchstück verliert die poetische Vokabel ihre Selbstverständlichkeit und wird zu einem gespenstischen Fragezeichen. Es ist ein ähnlicher Effekt, wie wenn man durch die Lupe ein Stück Haut an einem Finger betrachtet und über den Rillen vergißt, daß sie ein Bestandteil des Körpers ist. Nicht nur dem Modellcharakter zuliebe hat Celan den semantischen Wandlungsprozeß im Schlüssel-Gedicht am Einzelwort dargestellt. Die Konzentration auf die kleinsten Einheiten der Sprache erweist sich in der Folge als neues Stilprinzip. Das Wort erfährt am eigenen Leib, wovon es spricht.
Erstaunlicherweise bleibt das metrische Schema trotz des Verzichtes auf Langzeilen in vielen Gedichten unzerstört. „Weggebeizt…“ läßt sich ohne weiteres in Daktylen und Trochäen aufgliedern:

WĒGGÈ- / BĒIZT vòm /
Strāhlèn- / wīnd dèiner/ Sprāchè
dàs / būntè Gè- / rēdè dès / An-
èr- / lēbtèn – dàs / hūndèrt- /
zǖ ngìgè / Mēin-
gè- / dīcht, dàs Gè- / nīcht.

Doch ist mit dieser metrischen Aufteilung nichts gewonnen, denn die abrupten Zeilensprünge lassen niemals jenen walzerähnlichen Rhythmus aufkommen, welcher den Leser der Elegien in Bann zieht und ihm den Eindruck vermittelt, er kreise ständig um einen imaginären Mittelpunkt des Gedichtes. Das hängt damit zusammen, daß die einzelnen Chiffren viel isolierter dastehen als früher. Rückgriffe auf bereits Gesagtes und metaphorische Verflechtungen über die Strophen hinaus sind selten. Auf Stilmittel romantischer Herkunft wie Alliterationen und Assonanzen wird weitgehend verzichtet. Anaphorische und assoziative Wiederholungen bleiben Ausnahmefälle. Einzig „Büßerschnee“ und „Genicht“ korrespondieren mit Chiffren, von denen sie sich herleiten. An die Stelle der klangvollen Genitivmetaphern – „Blumen der Zeit“, „Halme der Schwermut“28 – sind die schrofferen Komposita getreten. „Strahlenwind deiner Sprache“ mutet wie ein Relikt an. Vergleichen wir die tonangebenden Substantive mit dem Wortschatz aus „Umsonst…“, fällt auf, daß die Zusammensetzungen die schlichten Hauptwörter vom Typus „Herz“, „Schloß“, „Baum“ verdrängt haben: „Strahlenwind“, „Mein- / gedicht“, „Büßerschnee“, „Gletscherstuben“, „Zeitenschrunde“, „Wabeneis“, „Atemkristall“. Diese konzentrierten Chiffren bringen eine gewisse Statik und Härte ins Gedicht und lassen keinen Schmelz aufkommen. Unterstützt wird die Statik durch den sparsamen Gebrauch von Verben. In jeder Strophe kommt nur eines vor, und zwei davon sind überdies Partizipialkonstruktionen, sozusagen erstarrte Tätigkeiten. So gerät der Rhythmus immer wieder ins Stocken, der däluyhsche Schwung wird gebrochen. Wir haben es mit einem zerhackten Nominalstil zu tun, der dafür verantwortlich ist, daß das Gedicht eine eisige Kälte ausstrahlt und der Leser nie richtig „einschwingen“ kann. In der Atemwende häufen sich die dreigliedrigen Komposita: „Augenschlitz-Krypta“,29 „Schneewimperschatten“,30 „Herzschattenseil“,31 „Schweige- / jahrtausend“.32 Was Celan früher gleichsam lyrisch ausgeschrieben hat, wird nun in komprimierter Form wiedergegeben. Eine Zeile wie „Sie herbsten den Wein ihrer Augen“33 würde in der Periode des Spätwerks reduziert auf die Formel „ihr Augenweinherbst“. „Schwarze Milch der Frühe“34 könnte „Frühmilchschwärze“ heißen, „Halme der Schwermut“ wären „Schwermutshalme“ usw.
Fassen wir alle diese Stilzüge zusammen – Verzicht auf den Titel, starke Segmentation in der Syntax, zerhackte Kurzverse, Wort-Aufsplitterung und Wort-Enjambement, Ambivalenz einzelner Silben, stockender Rhythmus und Hypertrophie der Nominalkomposita –, so beginnt sich abzuzeichnen, was Celan vom beizenden Strahlenwind erwartet und welche Art poetischen Sprechens er in der Atemwende ausgemerzt haben möchte. An die Stelle der abgerundeten, melodischen und schwer mit Bildern befrachteten elegischen Verse soll das offene, zerstückelte und asketische Gedicht treten, das fragmentarischen Charakter hat, und zwar nicht im Sinne von „unfertig“, sondern von „unvollendbar“. Der Dichter zieht die Konsequenzen aus der Forderung nach erschwiegenen Worten, indem er versucht, dem Unausgesprochenen mehr Raum zu verschaffen. Je geballter das Schneewort, je konzentrierter die Chiffre, desto größer scheinen die Abstände von Zeichen zu Zeichen zu werden. Da gibt es kein tänzerisches Dahingleiten mehr, da wird man nicht mehr vom Melos getragen, man muß gleichsam von Scholle zu Scholle springen. Celan schaltet die Zwischenglieder aus, welche die Metaphern untereinander verbunden haben – wie etwa im Winzer-Gedicht das Wort „Mauer“, das die Brücke schlägt zwischen „Nacht“ und „Stein“35 –, und verhindert auch damit den rhythmischen Fluß. Man kann den Begriff der „Engführung“36 aus der Fugenkomposition auch wörtlich nehmen und so verstehen, daß die mehrgliedrigen Komposita immer enger zusammenrücken und sich gegenseitig immer stärker isolieren, weil die verbindende Dynamik des Verbums fehlt. Gefördert wird die Isolation natürlich vor allem durch die Segmentation in der Syntax. Je mehr ein Wort aus der semantischen Kongruenz eines Satzes herausgelöst wird, desto größer seine Evokationskraft. Kommt die Silbenspaltung hinzu, konzentriert sich die Aufmerksamkeit erst recht auf das Zeichen als lexikalische Einheit. In der Tendenz zur Schwerpunktbildung durch Komposita verrät sich aber auch das Bedürfnis nach Verknappung der Sprache. Die„ Wortaufschüttung“37 zeugt im Grunde von einem tiefen Mißtrauen Celans gegenüber seinen bewährten Stilfiguren. Aus einer Genitivmetapher geht immer noch eindeutig hervor, welcher Teil der vergleichende und welcher der verglichene ist. Das zusammengeschmolzene Doppelwort verwischt die Konstellation, zumindest für Leser, welche über den Unterschied von „determinierend“ und „determiniert“ nicht genau im Bilde sind. Sie werden zum Beispiel zu „Strahlenwind“ auch „Windstrahl“ assoziieren. Öffnung des Gedichtes durch Reduktion, das ist das eine Hauptmerkmal des neuen Stils, beginnend beim Verzicht auf den Titel und endend bei der Auftrennung des Wortes. Als zweites gelingt es Celan, die Paradoxie aus dem „Gespräch im Gebirg“ auf die Lyrik zu übertragen, so daß das Gedicht in seiner Existenz als Kunstwerk – nicht nur in einzelnen Oxymora – widersprüchlich erscheint. Es versucht mit allen Mitteln, seine lyrischen Qualitäten zu leugnen. Obwohl der Dichter weiß, daß er dadurch die Einheitlichkeit der Stimmung gefährdet, verstümmelt er seine Sätze mit übertriebener Segmentation. Man könnte so weit gehen und sagen: Eigentlich steckt Celan eine archaische Prosa in das zerrissene Gewand seiner Strophen. Das ist, von der Idee des Lyrischen her gesehen, paradox. Ähnlich verhält es sich mit dem Widerspruch zwischen Rhythmus und Takt. Zwar wird das metrische Schema der Langzeilen aufrechterhalten, doch richtet es sich weder nach den Fugen der Syntax noch nach denjenigen der Verse, sondern legt sich als willkürlicher Raster über das Gedicht. Die schwerfälligen Komposita mit ihren doppelten Wortakzenten lassen sich scheinbar leicht dem trochäischen und daktylischen Muster unterordnen. Beim Vortrag aber zeigt sich, daß die Hebungen sehr kräftig, die unbetonten Silben dagegen meistens zu schwach ausfallen oder ihrerseits zu Hebungen umfunktioniert werden. Das Partizip „weggebeizt“ wird natürlich nicht alternierend gelesen, sondern der Tonfall bleibt über drei Silben hinweg gehoben, so daß vor der Präposition „vom“ eine starke Zäsur entsteht. Eine gewisse Spannung zwischen Takt und Rhythmus ist vonnöten, damit das Klappern der Verse vermieden wird. Doch hier fällt der Unterschied zu groß aus. Der gesamte Rhythmus stellt das Metrum in Frage. Paradox wirkt ferner die Art, wie Celan seine Komposita einsetzt. Einerseits zeugen sie vom konstruktiven Willen zur Verknappung und Verdichtung der Sprache, andererseits betonen der Trennungsstrich und das Wort-Enjambement das Unvereinbare der einzelnen Glieder. Die Doppelchiffre entsteht und zerfällt sozusagen im selben Augenblick.
Aus der Analyse dürfte klargeworden sein, daß mit dem „Strahlenwind“ nicht die Sprache des vorliegenden Gedichtes gemeint sein kann, noch irgendeine für Celan erreichbare Form des poetischen Sprechens. Aber die Verse von „Weggebeizt…“ stehen unter dem Einfluß einer sowohl zerstörerischen als auch schöpferischen Sprachgewalt. An ihnen vollzieht sich der in der ersten Strophe beschriebene Prozeß, den wir bei der Interpretation des Paradoxons in der Prosa mit Celans Formel umschrieben haben:

Eins und Unendlich
vernichtet,
ichten
.38

Unser Fragment gehorcht demselben Gesetz, denn es will in zerbrochenen Worten und Zeilen vom Geist einer vollkommenen Ursprache zeugen. Gerade weil es diesen Anspruch erhebt, muß es dürftig erscheinen. Es präsentiert sich in einer eigentümlichen Zwitterform, in der Schwebe zwischen Ge-dicht und Ge-nicht. Der Vorgang des Ichtens (zu etwas machen) scheint eben erst eingesetzt zu haben. Auch das „Gespräch im Gebirg“ kann die utopische Ursprache nicht abbilden, sondern lediglich den Weg darstellen, der in ihre Nähe führt. Doch ebenso falsch wie die Identifikation der Form mit dem Geist, aus dem sie entstanden ist, wäre der Glaube, Celan verurteile seine früheren Arbeiten samt und sonders zu „Mein- / gedichten“. Auch in den Augen des Büchner-Preis-Trägers behalten „Die Winzer“ ihre Gültigkeit. Der selbstkritische Lyriker sagt ja nicht: Ich hätte das Gedicht vor zehn Jahren niemals so schreiben dürfen. Er sagt: Heute würde ich es nicht mehr so schreiben. Die elegischen Verse sind nicht weniger dicht als die bruchstückhaften der Atemwende, aber sie stehen noch in einem anderen Verhältnis zum Verschwiegenen, indem sie es mit großer Eindringlichkeit umwerben und mehr besingen als erleiden. Nun ist die Sprachskepsis so akut geworden, daß sie sich aus der Thematik in die Form durchgefressen hat.
Während die erste Strophe ganz vom Gegensatz „Strahlenwind / Gerede“ beherrscht wird, versucht die zweite, den Weg des Dichters nach der Atemwende zu verfolgen. Wir lesen richtig, wenn wir die Vorsilbe „Aus-“ zunächst einmal auf das Vorhergehende beziehen. Aus ist es mit dem falschen Zeugnis, aus mit der bunten Bildersprache des Anerlebten, weggefegt wurde das metaphorische Beiwerk. Auf dem Nullpunkt der Vernichtung angelangt, fängt sich das Gedicht zögernd wieder auf. Es muß gleichsam durch den Engpaß der ersten drei Zeilen, die typographisch so angeordnet sind, daß „Frei“ dieselbe Position einnimmt wie „Aus-“. Diesen Akt der sprachlichen Freisetzung hat Celan in der Büchner-Preis-Rede anvisiert:

Die Kunst erweitern?
Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge.
Und setze dich frei
.39

Was mit der „allereigensten Enge“ gemeint ist, zeigt uns die Landschaft in der zweiten Strophe. Der ausgewirbelte Weg führt durch den Schnee, und zwar durch einen „menschen- / gestaltigen“ Schnee, den der Autor auch „Büßerschnee“ nennt. Peter Horst Neumann erwähnt in seiner Interpretation von „Weggebeizt…“ die Möglichkeit, daß die im Schnee des Schweigens Stehenden für ihre voreilige Bildersprache zu büßen haben könnten.40 Dann würde sich aber die Frage aufdrängen: Wer sind die Schuldigen? Sind es auch Dichter, womöglich jüdische? Celan dürfte sich kaum ermächtigt gefühlt haben, andern eine Buße aufzuerlegen. Naheliegender scheint es, den Schnee auf jene zu beziehen, die für etwas büßen mußten ohne eigene Schuld. Dafür spricht das zweigeteilte Adjektiv „menschen- / gestaltig“. Die Gestalt des Menschen ist in diesem Schnee erkennbar, aber als zerbrochene. Im Band Sprachgitter gibt es eine Winterlandschaft, die in unseren Zusammenhang gehört, im Gedicht „Heimkehr“:

Schneefall, dichter und dichter,
taubenfarben, wie gestern,
Schneefall, als schliefst du auch jetzt noch.

Weithin gelagertes Weiß.
Darüberhin, endlos,
die Schlittenspur des Verlornen.

Darunter, geborgen,
stülpt sich empor,
was den Augen so weh tut,
Hügel um Hügel,
unsichtbar.

Auf jedem,
heimgeholt in sein Heute,
ein ins Stumme entglittenes Ich:
hölzern, ein Pflock.

Dort: ein Gefühl,
vom Eiswind herübergeweht,
das sein tauben-, sein schnee-
farbenes Fahnentuch festmacht
.41

Auch hier ist ein weiter Weg mit einer schweren Bürde zurückgelegt worden, erkennbar an der Schlittenspur. Der Dichter spürt am Schmerz in den Augen, was sich unter der Decke seines Schweigens emporstülpt: Es sind die Grabhügel der Toten, der Ermordeten. Ihr Schicksal ist schuld daran, daß es ihm die Sprache verschlagen hat. Man vergleiche dieses Motiv mit den blutenden Augen im Schlüssel-Gedicht und dem Augenwein in „Die Winzer“. Geblendet vom Schmerz sieht sich der Dichter einer tödlichen Kälte ausgesetzt. Das „ins Stumme entglittene Ich“ hat eine doppelte Bedeutung, indem es auf der einen Seite den Toten bezeichnet, der im hölzernen Pflock, im Schandpfahl, sein gräßliches Denkmal gefunden hat, andererseits aber auch für den Dichter selber steht, weil er jeden dieser Tode mitzusterben verdammt ist und dafür keine Worte findet. Trotzdem drängt das stumme Ich nach Vergegenwärtigung in der Sprache. „Je nach dem Wind, der dich fortstößt“, heißt es im Schlüssel-Gedicht, könne Dichtung nachwachsen. „Heimkehr“ nimmt diesen Faden wieder auf: Der Eiswind weht ein Gefühl herüber als erstes Zeichen seelischer Aktivität. Und das Fahnentuch am Pflock, das die Farbe des Schweigens trägt, läßt keinen Zweifel darüber offen, worauf es sich bezieht. Es ist ein Symbol der Trauer um das Verlorene, der Erinnerung und des Gedenkens, das zum Gedächtnis wird – entfernt vergleichbar dem Banner, das der Herzog der Stille den Scharen vorausträgt in „Umsonst…“. Die Landschaft ist gesättigt von allem Grauenhaften der jüdischen Vergangenheit. In diesem Sinne dürfte auch der „Büßerschnee“ aufzufassen sein, als aschenhafter Niederschlag sinnlos zerstörten Lebens im Gemüt des Dichters.

Alle die Namen, alle die mit-
verbrannten
Namen. Soviel
zu segnende Asche. Soviel
gewonnenes Land
42

Asche wird im Volksmund ab und zu „schwarzer Schnee“ genannt, eine Umschreibung, die in ihrer Paradoxie an die „Schwarze Milch der Frühe“43 erinnert, den Celanschen Todestrunk. Die Asche der verbrannten Juden hat den Schnee geschwärzt. Celan betrachtet es als seine Pflicht, sie zu „segnen“, ihr Gefäße zu töpfern.44 So wird es für ihn zur Selbstverständlichkeit, daß der Weg seiner Dichtung mitten durch diesen Hades führt, wo ihm das Schicksal von Tausenden, die für den verbrecherischen Wahnsinn Einzelner büßen mußten, gegenwärtig ist. Aber das Totengedächtnis ist eine Last, welche Celans Sprache immer wieder zu verschütten droht.
Deshalb muß das Wort „frei“ eine Schlüsselposition einnehmen und in Vers 9 frei stehen, ohne Nachbarwörter. Es besagt allerdings nicht, der Büßerschnee sei endgültig beseitigt. Der Pfad ist schmal, und die Gefahr des Erstickens in der Asche, was einem totalen Verstummen gleichkäme, keineswegs gebannt. Doch hier gelingt der Vorstoß zu den „Gletscherstuben und -tischen“, die wider Erwarten „gastlich“ genannt werden. Gastlichkeit läßt die Gegend rund um den Bergsee im „Gespräch im Gebirg“ eindeutig vermissen, sie ist eher unwirtlich und bedrohlich. Die Erde hat sich zwar dreimal gefaltet und aufgetan, doch sie gewährt dem jüdischen Wanderer keinen Einlaß:

… denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht und nicht für mich45

Entsprechend bleibt auch die im Gleichnis des grünweißen Wassers gespiegelte Sprache, die als gültige erkannt wird, ohne Du und läßt keinen Menschen an ihr teilhaben. Diese Entfremdung von der Natur und vom schöpferischen Urwort wird in „Weggebeizt…“ überwunden. Schon im Eingangsgedicht des Bandes Atemwende, in den allerersten Versen, nimmt Celan das winterliche Gast-Motiv vorweg:

DU DARFST mich getrost
mit Schnee bewirten
46

Wer immer mit dem Du gemeint sein mag, die Bewirtung mit Schnee ist ein Zeichen dafür, daß der Winter auch eine bergende Funktion haben kann und nicht nur tödliche Erstarrung bringt. Das Kompositum „Gletscherstube“ verkoppelt einmal mehr Gegensätzliches zu einer paradoxen Einheit. Während die Stube einen warmen und wohnlichen Raum in Erinnerung ruft, evoziert der Gletscher eine Welt voller Gefahren. Diese Ambivalenz ist wichtig, denn was in den Höhlen bereitliegt, kann nicht ohne Risiko geborgen werden. Außer in der Prosadichtung kommt die Chiffre des Gletschers vor der Atemwende nur noch einmal vor, in „Nächtlich geschürzt“. Dort berichtet Celan von einer Hochgebirgsgegend mit rastenden Gefährten, die eine Schuld abzutragen haben. Indessen vertrauen sie ihre Bürde einem Wort an, „das zu Unrecht besteht, wie der Sommer“,47 also nicht dem erschwiegenen Schneewort. Auf der Stufe des Bandes Von Schwelle zu Schwelle ist das Vordringen in die Gletscherspalten für Celan noch gar nicht denkbar, er ahnt erst, wie zentral die Eis-Chiffre für sein Werk werden wird, und läßt seine Wanderer die dünne Höhenluft atmen. Sie finden noch keinen Eingang zu den erstarrten Brunnstuben der Schöpfung, in denen-wenn die Abwandlung von Fausts Wort gestattet ist – erkennbar wird, was die Celansche Welt im Innersten zusammenhält.
In dreifacher Hinsicht werden die Gletscher für das Spätwerk bedeutsam. Als gigantische, stumme Zeugen einer urzeitlichen Vergangenheit verkörpern sie einen Teil der Erdgeschichte. Gewaltige Kräfte schlummern in ihren rissigen Blöcken. Wie die Vulkane und die Gesteinsschichten gehören sie zu jenen Naturerscheinungen, welche am unmittelbarsten an die Genesis erinnern und dadurch als eine Art „Schöpfungszentrum“ zum Hort der Celanschen Gedichtsprache werden. Hinzu kommt, daß die Zungenform Analogien zum sprachlichen Bereich begünstigt. Der nicht belegte Ausdruck „Gletscherzunge“ wäre im Chiffren-Netz dieser Dichtung als Organ einer utopischen Ursprache vorstellbar. Der Gletscher mutet aber auch wie das kristallisierte Schweigen Gottes an, das kontrastiert zur bunten Vielfalt seiner Welt. Die Formel vom erschwiegenen Wort fände somit in der Gletschersprache eine großartige Entsprechung. Der dritte und bedeutendste Aspekt ist in der Gitterstruktur zu sehen. Der Gletscher ist eine Erscheinung in Eiskristallform. Eine große Zahl von Chiffren, verteilt auf das ganze Werk, gehören zum Kreis der Schnee-, Eis- und Kristallwörter. Um nur einige zu nennen: „Kristall“,48 „Tausendkristall“,49 „Hagelkorn“ (M 46), „Eisdorn“,50 „Schneebett“,51 „Schneegarn“,52 „Schneewuchs“.53 Der Gletscher ist die gewaltigste aller Kristallisationen. Das geballte Wort im Schlüssel-Gedicht besteht aus Flocken, die sich um einen Kern gruppieren, und dieses Gebilde löst sich bei der Aktualisierung der Sprache aus dem schützenden Hohlraum, in dem es gewachsen ist; aus dem „Haus“ des Verschwiegenen muß es an die Oberfläche geholt werden. Das Modell läßt sich auf unser Gedicht übertragen, nur haben sich die Dimensionen geändert, da es nicht bloß um die Chiffre, sondern um das „Zeugnis“ geht. Aus dem Windstoß ist ein Strahlenwind geworden, aus dem Schneehaus ein Labyrinth von Gletscherstuben und aus den abgelagerten Schichten von Altschnee – die übrigens auch „Firne“ genannt werden – ein Firner, dessen Struktur derjenigen des Kristallkörpers verwandt ist.
Die „Gletscher[…]-tische“ scheinen zunächst lediglich die Gastlichkeit der Stuben zu unterstreichen und, sintemal das Kompositum nicht ausgeschrieben wird, eine schmückende Nebenfunktion zu haben. Sie passen auch nicht recht ins Bild einer geschlossenen Höhle, denn in der Glaziologie versteht man unter Gletschertischen Felsplatten, die auf Eisfüßen an der Oberfläche liegen, weil sie das zugedeckte Eis vor der Ablation schützen. Vom stilistischen Gesichtspunkt aus könnte man die Meinung vertreten, der Dichter habe in Vers 14 einfach eine Wiederholung von „Gletscher“ vermeiden wollen. Beziehen wir aber die Schlußstrophe mit ein, so zeigt sich, daß Celan mit seiner Schreibweise einen Wink geben möchte, der das Verständnis erleichtert, denn „Tisch“ ist in den früheren Gedichten ein Schlüsselwort und taucht meistens in Verbindung mit dem Begriff der Zeit auf. „Der Tisch wogt stundauf und stundab“54 heißt es in „Wasser und Feuer“. Das Meer wälzt die Speise heran, und zwar ist es das in Aufruhr geratene Meer der Zeit, denn es „fluten die Fahnen und Völker“, und die Menschen rudern ihre Särge ans Land. Aus „Stundenholz“55 ist der Tisch ein andermal geschnitzt, an dem geschwiegen, gegessen und getrunken wird; und die bekannte Stelle im Gedicht „Die Krüge“ sagt es noch expliziter:

An den langen Tischen der Zeit
zechen die Krüge Gottes
.56

Gletschertische sind solche Tische der Zeit, aus einem Material geformt, das Jahrtausende alt ist. Der Gast, der sich an ihnen niederläßt, wird „mit Schnee“57 bewirtet. Nicht das Meer, aber der Gletscher hat die Speise herangewälzt, gefrorene, konservierte Zeit. Die letzte Strophe, zu der das so verstandene Bild des Eistisches hinüberleitet, nimmt das Motiv gleich am Anfang wieder auf mit dem Stichwort „Zeitenschrunde“:

Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.

Sie steht ganz im Zeichen des Kristalls und ist durch eine Gegenbewegung zur vorhergehenden gekennzeichnet. Während der Blick zuerst hinauf zu den Gletschern gelenkt wird, stürzt er nun in die Tiefe. Vers 15 setzt analog zu Vers 9 den entscheidenden Akzent der Strophe: „Tief“. Auf die Freisetzung folgt der Durchbruch, wie er im Winzer-Gedicht mit dem Krückstock erzielt wird. Auch da wieder ein typographischer Engpaß, der diesmal die Aufgabe hat, das Lesetempo zu beschleunigen. Man soll förmlich durch die Zeilen hinunterrutschen. Der Schacht des Gedächtnisses, in der 2. Strophe Gletscherstube genannt, erhält den Zunamen „Zeitenschrunde“, eine Chiffre, die bekannt ist aus dem Gedicht „Vor einer Kerze“:

vermählt einer Schrunde der Zeit,
vor die mich das Mutterwort führte
58

Eine Schrunde ist ein Riß im Gestein oder eine Gletscherspalte, verursacht durch die Verschiebungen der Eismassen. Im übertragenen Sinn heißt das: Die Zeit hat sich aufgetan. Aus „Corona“59 wie aus „Umsonst…“ wissen wir, daß „Zeit“ bei Celan immer auch das „Gezeitigte“ bedeutet. Die Gletscherzunge ist innerhalb seines lyrischen Werkes die eindrücklichste Verkörperung der zeitlichen Ablagerungen, wobei die Vergangenheit des Dichters und die Epoche, in der er lebt, zu verschmelzen scheinen. Die Eis-Chiffre steht in engem Zusammenhang mit dem „Stein“, und die versteinerte Welt ist uns aufgegangen als eine, die vom Dichter erlöst werden will. Die Verkrustung beginnt dort, wo der Schmerz um das Verlorene, wo die Ohnmacht gegenüber der Zeit als „aetas“ das persönlich ertragbare Maß überschritten hat. Es ist zweifellos das Schicksal des jüdischen Volkes, das Paul Celan seine Epoche als Steinzeit erfahren läßt, und für diese Totenstarre der Schöpfung steht auf der Stufe der Atemwende die Vergletscherung. Eine neue Eiszeit ist angebrochen. Gletscher bilden sich bekanntlich dort, wo die jährlichen Schneefälle die Abschmelzung überwiegen. Je nachdem ob das Nährgebiet oder das Zehrgebiet größer ist, befinden sie sich im Vorstoß oder im Rückgang. Der Celansche Gletscher nährt sich vom Firn des Verschwiegenen, wobei wir darunter, wie angedeutet, nicht mehr bloß das Unaussprechliche im Leben des Dichters verstehen dürfen. In der „Zeitenschrunde“ öffnet sich ihm, psychologisch gesprochen, das kollektive Unbewußte seiner Zeit. Was sie unter der Oberfläche bewegt, was von ihr abgeschoben und verdrängt wird, muß in irgendeiner Form ins Kunstwerk eingehen. Die „Narbe der Zeit“,60 die das Land unter Blut setzt, der Riß im Gestein, die Gletscherspalte – das sind die Chiffren für die spezifisch Celansche Erfahrungsweise der Zeit. Das Wort „Erinnerung“ tönt ihm zu poetisch, er ersetzt es durch „Erinnerungswunde“.61 Und auch „Schrunde“ deutet auf Zerklüftung hin. Es gibt kein „Zur-Tiefe-Gehn“62 für den jüdischen Dichter, ohne daß sich die Abgründe der Zeit auftun. Das „Mutterwort“, das ihn vor die „Schrunde der Zeit“63 führt, ist der Mahnruf der ermordeten Mutter Celans. Ihr Tod ist stellvertretend für das Schreckliche, das sich im Büßerschnee niedergeschlagen und zum Schweigen des Gletschers verfestigt hat, das langsam abgetragen und verwandelt werden muß. Wie es möglich ist, „daß der Stein sich zu blühen bequemt“,64 birgt auch die Zeitenschrunde ein geheimes Wachstum. Der bedeutende Unterschied zum Stein liegt darin, daß im Eis die Struktur des Kristalls vorgebildet ist. Darauf verweist das Wort „Wabeneis“. Bekannt sind die Waben aus dem Zellenbau der Bienen. Sie werden aus Wachs gesponnen und dienen zur Speicherung des Honigs sowie zum Schutze der Brut. Die Zellen sind sechseckig, vertreten also dieselbe hexagonale Ordnung wie die Schneekristalle. Das Gletscherinnere ist keine amorphe Masse, sondern gitterförmig abgelagertes Material. Die Waben können ausgeschleudert, zu etwas verwendet werden. Wenn Celan an einer Stelle von den zeitleeren „Waben der Uhr“65 spricht, meint er damit eine ereignisarme Zeit, die keine kristallisationsfähigen Erlebnisse gezeitigt hat. Die Wabe vertritt nun nicht eine beliebig ersetzbare Ordnung. Das Hexagramm umschließt den Sechsstern, der als Davidstern zum Symbol des jüdischen Schicksals im Zweiten Weltkrieg und des Judentums ganz allgemein geworden ist. Wollen wir das Gitter-Motiv in seiner Entwicklung begreifen, müssen wir jenen Gedichtband zu Rate ziehen, der es sogar im Titel verwendet: Sprachgitter. Da stehen die Verse:

Das Schneebett unter uns beiden, das Schneebett.
Kristall um Kristall,
zeittief gegittert, wir fallen,
wir fallen und liegen und fallen.
Und fallen:
Wir waren. Wir sind.
Wir sind ein Fleisch mit der Nacht.
In den Gängen, den Gängen
.66

Ob Unterlage im Sinne eines Kiesbettes oder Schlafstätte, die Liebenden, die sich in der Kälte einzurichten versuchen, werden vom Bett nicht getragen, sie sinken lautlos durch das „zeittiefe“ Kristallgitter, das sich aus Verschwiegenem zusammengefügt hat. Die Tiefe der Zeit ist ihre Wunde. Stürzend von Schicht zu Schicht, sich erinnernd erfahren die Schweigenden Vergangenheit als Gegenwart. Deshalb können sie sagen:

Wir waren. Wir sind.

In der Tiefe der Zeit aber liegen die Katakomben. „Schneebett“ ist ein Gedicht über das stumme Zwiegespräch mit den Toten:

Augen, weltblind, im Sterbegeklüft: Ich komm.67

Ein Fleisch zu sein mit der Nacht bedeutet eine magische Vereinigung mit dem Tod. Es wäre letztlich ein Zugrundegehen im Wahnsinn, wenn nicht die kristalline Struktur des Schneebettes, dessen, worauf der Dichter im wörtlichsten Sinne „aufruht“, zur Gestaltung drängen würde. Das erschlossene Gedächtnis, das Schweigegitter ruft nach einem „Sprachgitter“.68
An dieser Chiffre ist viel herumgerätselt worden. Alfred Kelletat hat den Begriff nachgewiesen in seinem „Accessus zu Celans ,Sprachgitter‘“.69 In Nonnenklöstern wird das Gitterfenster im Parlatorium, durch das die Nonnen mit Weltlichen sprechen dürfen, Sprachgitter oder Sprachfenster genannt. Kelletat ist auch dem übertragenen Gebrauch nachgegangen und hat festgestellt, daß das Wort einzig bei Jean Paul bezeugt ist. Im Titan heißt es:

Der alte Mann (den Albano im Garten eingeschlummert fand) sprach hinter dem Sprachgitter des Schlafs mit Toten, die mit ihm über die Morgengrauen der Jugend gezogen waren.70

Ein Motiv, das Celan bei seiner großen Belesenheit gekannt haben dürfte, sintemal es zu einem der Hauptthemen seiner Lyrik wird. Plausibel ist im weiteren die Erklärung, die vom Bild eines Eisengitters ausgeht, wobei die gekreuzten Stäbe nicht nur trennende, sondern auch verbindende Funktion haben. Genaugenommen sind es die Stäbe, die den Dichter von der Außenwelt absondern, während die Zwischenräume den Blick sowohl nach außen als auch nach innen freigeben. Die Kommunikation mit dem Leser gelingt nur zwischen den Worten, welche die Aufgabe haben, die ausgesparten Felder zu begrenzen. Das Gitter wäre somit die ornamentale Kunstfigur, in den Kreuzstellen könnte man die Verschmelzung des Widersprüchlichen im Paradoxon sehen. Die Analogie ließe sich beliebig erweitern.
Indessen, so meine ich, hat Celan bei der Chiffre des Sprachgitters in erster Linie an ein Baugesetz gedacht, inspiriert durch die Chemie und Mineralogie. Ein Kristallgitter ist die raumgitterartige Anordnung von Atomen, Ionen oder Molekülen. Es gibt verschiedene Systeme, das kubische, trikline, tetragonale, usw. Erst nach der Summierung von Milliarden solcher Zellen wird der Körper sichtbar. Chemische Kristalle entstehen aus Lösungen durch Eindampfen oder Abkühlen. Der Vorgang dient zur Reinigung von Substanzen oder, bei verschiedener Löslichkeit der Stoffe, auch zu deren Trennung. Kühlt eine Schmelze ab, formieren sich die Kristalle im Augenblick der Erstarrung, so etwa in der vorgeschichtlichen Gesteinsbildung, beim Gefrieren des Wassers oder beim Erhärten von Legierungen. Allgemein gilt: Je langsamer die Abkühlung, desto größer die Kristalle. Wichtig ist, daß sich ein Stoff nur dann mit einem entstehenden Kristallgitter verbinden kann, wenn seine Struktur demselben System angehört, obwohl in jedem wirklich vorkommenden Kristall Fremdatome vorhanden sind. Eines der bekanntesten Mineralien ist der Quarz oder Bergkristall. Er existiert als Teil vieler Gesteine, in Granit, Gneis und Sandstein, wird aber auch als Einzelkristall in sogenannten Drusen gefunden. Das sind zentimeter bis metergroße Hohlräume im Erstarrungsgestein, deren Wände mit Kristallen überzogen sind.
Kombinieren wir diese Eigenschaften mit Celans Vorstellungen vom Wesen seiner Sprache, erweist sich die Fülle der Bezüge als frappant. Die Kristallisation des Erlebnismaterials ist, analog zur Gärung des Augenweins, ein organischer, sehr langsam fortschreitender Prozeß im Verborgenen, auf den der Dichter bewußt keinen Einfluß ausüben kann. Sinnbildlich dafür mag die Entstehung von Quarzen im Berginnern stehen. Auf einer anderen Bezugsebene veranschaulicht das Beispiel der eingedampften und dadurch gereinigten Lösung, wie wesentlich die Verdichtung des Erlebten ist – eine vorentscheidende Gestaltungsstufe, auf die wir bei den früheren Gedichten ausführlich zu sprechen gekommen sind. Die Druse entspricht dem Hohlraum des Gedächtnisses, der umgeben ist von den Schichten des erstarrten Materials aus der Vergangenheit. Im Verhältnis des Kristallkörpers zum ganzen Berg spiegelt sich die Relation „sprechen / schweigen“, wobei das Verschwiegene gegenüber dem Aussprechbaren dermaßen überwiegt, daß das Wort erdrückt zu werden droht. Trotzdem vermag der herausgelöste Kristall das Gebirge oder den Gletscher gültig zu repräsentieren, weil – wenn wir im Bild bleiben wollen – die „Elementarzellen“ der Sprache mit den Molekülen des Schweigens ein Gitter gebildet haben. Zwei Gedichtstellen sollen das Gesagte illustrieren. Unten schließt mit den Versen:

Und das Zuviel meiner Rede:
angelagert dem kleinen
Kristall in der Tracht des Schweigens
.71

In diesem „Zwiegespräch“, das die beiden polaren Ausdrucksmöglichkeiten Celans einander gegenüberstellt, erscheint die Rede als ein Zuviel vor dem Hintergrund des Schweigens, als unzureichend. Und doch spürt der Sprechende, daß seine Worte aufgenommen werden. Sie lagern sich einem Kristallkörper an, der aus der Stummheit wächst. Das Schweigen nimmt eine bestimmte Gestalt an, es wird trächtig. (Wenn man von den Bienen sagt, sie hätten eine reiche „Tracht“, meint man den Honig-Ertrag.) Obwohl nur Bruchteile des Gesagten mit dem Kristall verwachsen, jene Worte nämlich, welche beim Zuhörer ins Zentrum seines Wesens treffen, wird das Schweigen durch die Rede befruchtet. Der quantitive und der qualitative Gegensatz treten deutlich hervor. Klein ist der Kristall im Verhältnis zum Redeschwall und zur Unendlichkeit des Verschwiegenen, aber er ist essentiell. Vom Sprachgitter ist hier noch nicht die Rede. Es entstünde, wenn das „Zuviel“ abgebaut werden könnte, wenn das Wort nicht nur angelagert wäre, sondern wenn seine Struktur aus derjenigen des Schweigens hervorginge. Der Dialog in „Unten“ kann auch als Monolog über das Gedicht verstanden werden. Das Ich verfügt über „einige Reden“, über Mein-Sprachen. Das Du wäre der fremdere Teil des Dichters, der das Geheimnis des Kristalls besitzt, das es mit Worten einzuholen gilt. Konkret auf die Poesie bezieht sich die zweite Stelle aus dem Kreis der Kristall-Gedichte, sie klingt wie eine Vorankündigung der Schlußstrophe von „Weggebeizt …“:

Es liegen die Erze bloß, die Kristalle,
die Drusen.
Ungeschriebenes, zu
Sprache verhärtet, legt
einen Himmel frei
.72

So beginnt „À la pointe acérée“. Ungeschriebenes, bisher noch nicht Gesagtes und auch nicht Sagbares, hat den Erstarrungsprozeß der Kristallisation durchgemacht, so daß es nun in sprachlich realisierbarer, körperhafter Form offen daliegt in den erschlossenen Hohlräumen des Gedächtnisses. In der ersten Strophe des Gedichtes „Mit Brief und Uhr“ wird diese Stufe vorbereitet, indem das „Ungeschriebene“,73 das den Namen des Dichters zugleich errät und verschlüsselt, unter das Siegel genommen wird und damit dem „signum“ erschlossen ist. „Erz“ ist nur eine Chiffren-Variante zu „Kristall“, Hier ist nun das Sprachgitter Tatsache geworden. Das Verschwiegene hat sich zu einem kompakten und transparenten Körper verdichtet, dessen Kanten und Flächen den Kunstcharakter der Sprache symbolisieren, dessen Bausteine – die lautlichen und die lautlosen Elementarzellen – demselben Kristallsystem angehören. Das System könnte man, zurückgreifend auf die linguistische Terminologie, der „spezifischen langue“ des Dichters gleichsetzen, seiner persönlichen Art des sprachlichen Denkens und Empfindens, welche das Potential der ihm gemäßen Äußerungen bestimmt. Doch man soll die Analogie nicht zu weit treiben, ein gewisses Maß an Unschärfe gehört zu ihrem Wesen. Der „Himmel“, der Horizont, der durch die poetische Sprache freigelegt wird, entspricht dem hinabsteigenden Himmel im Winzer-Gedicht. Ein Stück innere Unendlichkeit ist im Kristall faßbar geworden und wird nach außen projiziert. Anders gewendet: Das Blau spiegelt und bricht sich in den geschliffenen Flächen des Minerals, dessen Struktur die Ordnung des seelischen Kosmos repräsentiert.
„Weggebeizt…“, das alle diese Chiffren rund um das Gittermotiv aus dem mineralogischen Bereich in die Bildebene des Gletschers transponiert – in den Gletscherstuben erkennen wir die Drusen, im Wabeneis das kristalline Gestein –, unterscheidet sich nun allerdings in einem wesentlichen Punkt von den früheren Kristall-Gedichten: Es läßt den Atem kristallisieren. Naturwissenschaftlich läßt sich durchaus nachvollziehen, daß der Atemhauch in der tiefen Eishöhle kondensiert und gefriert. Die Metapher stimmt. Wichtiger ist die Frage nach der Bedeutung dieser zentralen Chiffre. Ihre Funktion innerhalb des Gedichtes scheint klar zu sein. Sie schlägt die Brücke zum Anfang der ersten Strophe. Zwischen dem Strahlenwind und dem Atem muß eine enge Verwandtschaft bestehen, denn dank seiner beizenden Gewalt wird der Weg frei zum „Atemkristall“. Das Wort gewinnt seit den Sprachgitter-Versen zunehmend an Gewicht. Vorher kommt es als Substantiv gar nicht vor. Dann aber mehren sich die Atem-Komposita, die zu den eigenwilligsten von Celans Wort-Kompositionen gehören und von „Atem-Baum“74 über „Atemmünze“75 bis zu „Steinatem“76 und „Atemseil“77 reichen. Auch bei diesem Wort fallen verschiedene Bedeutungen zusammen.
Daß der Pneuma-Begriff, der hinter dem Atem als Lebenshauch steht, für Celan wesentlich ist, geht bereits aus einer Stelle in der Niemandsrose hervor:

Ge-
trunken hast du,
was von den Vätern mir kam
und von jenseits der Väter:
– – Pneuma
.78

Pneuma bedeutet im Alten Testament zunächst noch „bewegte Luft“, „Wind“; später wird es identisch mit dem Mensch und Tier eingehauchten Odem Gottes, der das Wesen zu seelischem Leben befähigt. Der Wortsinn hat sich soweit entfaltet, daß man „Atem“ und „Geist“ einander nicht völlig gleichsetzen darf. Als Offenbarung kommt der Geist Gottes über auserwählte Menschen, die so charismatisch begabt und in älterer Zeit zu kriegerischen Heldentaten beflügelt werden, aber auch prophetische und ekstatische Fähigkeiten erhalten:

Und der Geist des Herrn wird über dich geraten, daß du mit ihnen weissagst; da wirst du ein anderer Mann werden.79

Der Unterschied zwischen der griechischen und der biblischen Pneumavorstellung liegt darin, daß der von den griechischen Ärzteschulen zugrunde gelegte Begriff stets materiell gedacht wird. Nach stoischer Lehre ist das Pneuma mit der Weltseele identisch, und zwar als ein feuriger Hauch, der den Kosmos durchdringt und zusammenhält und dem Menschen sein göttliches Bewußtsein vermittelt. Dadurch wird es auch zum Prinzip der Inspiration. Es ist die dynamische, lebenserhaltende Kraft schlechthin. Das palästinensische Judentum dagegen führt den Begriff aus dem Alten Testament weiter. Wie dort kann das Pneuma den Wind und den Atem bezeichnen, aber auch persönliche, als „Geister“ bekannte Wesen wie Engel und Dämonen, ja sogar die Verstorbenen im Grabe. Der Geist ist in der palästinensischen Anthropologie zwar dem Menschen von Gott gegeben, trotzdem aber kein divines Element in ihm. Dergestalt bleibt er der Prophetie vorbehalten. Zum Beispiel die heiligen Schriften wurden durch den Geist inspiriert. Insbesondere sind die Lehrer der Gerechtigkeit damit ausgerüstet, und folglich haben ihre Auslegungen der Tora Offenbarungscharakter. Aber auch die Gemeinde lebt im Glauben, daß ihr beim Studium der Tora neue Einsichten in Gottes Geheimnisse verliehen würden.
Mit der Verselbständigung des Pneuma-Begriffes neben dem Gottes- und Geist-Begriff im Spätjudentum dürfte erklärbar sein, weshalb der Atem eines Rabbi als „heiliger Hauch“ empfunden werden kann, wie es in den Erzählungen der Chassidim berichtet wird:

Ein Schüler des Rabbi Jizchak Eisik erzählte: „Anfangs, wenn ich die Lehrrede unseres Meisters zu hören kam, ohne sie noch verstehen zu können, machte ich den Mund weit auf, daß doch sein heiliger Atemhauch in mich eindringe.“80

Der heilige Atemhauch ist das Pneuma der Zaddikim, ihm verdanken sie „Hithlahawuth“, die Ekstase. Liest man „Des Baal-schemtow Unterweisung im Umgang mit Gott“,81 so scheint es, als habe eine Verschmelzung der griechischen mit der jüdischen Pneuma-Vorstellung stattgefunden, denn die Weltseele, die dann freilich identisch wäre mit dem ursprünglichen Geist, ist bei der Erschaffung der Vorwelten, welche die göttliche Fülle nicht zu tragen vermochten, in die „heiligen Funken“ zerstoben. Und die Aufgabe des Gläubigen besteht darin, diese Funken aus dem Gestein, den Geräten und den Tieren zu erlösen. Das gemeinsame Glaubensziel der Chassidim nennt sich „Kawwana“. Mit jeder Handlung, die der Befreiung der göttlichen Funken dient, arbeitet der Mensch an der „Schechina“, der vollkommenen Gestaltwerdung Gottes. Dies ist die Kawwana des Empfangens, mit der man am feurigen Hauch der Weltseele teilhat. Daneben gibt es aber auch noch eine Kawwana des Gebens. Martin Buber schreibt:

Ihre Bahn ist das Schaffen, und das Wort vor aller anderen Gestalt des Schaffens.
[…] Wer des heimlichen Liedes kundig ist, das das Innen ins Außen trägt, des heiligen Reigens, der einsame spröde Worte zum Gesang der Fernen verschmilzt, der wird der Gottesmacht voll, „und es ist, als schüfe er Himmel und Erde und alle Welten von neuem“. Er findet sein Reich nicht vor wie der Seelenbefreier, er spannt es aus vom Firmament zu den schweigenden Tiefen.82

Man lese in diesem Zusammenhang noch einmal den Schluß des Winzer-Gedichtes:

… indes
der Himmel hinabsteigt ins wächserne Meer,
um fernher als Lichtstumpf zu leuchten,
wenn endlich die Lippe sich feuchtet
.83

In den schweigenden Tiefen, beim Wabeneis in der Zeitenschrunde, harrt das „Zeugnis“ dessen, der den Geist der Väter, das Pneuma, getrunken hat. Wir begreifen, weshalb Celan die Chiffre „Atem“ aufgespart hat für das Höchste und Letzte, das dem Gedicht zu erreichen möglich ist. Er nennt es „Wahrheit“84 oder das „Wahre“,85 Wörter, die für den Juden eigentlich tabu wären, weil sie mit dem Gottesnamen zusammenfallen. Der von jenseits der Väter herüberwehende „heilige Atemhauch“ scheint Wahrheit zu verbürgen:

EIN WURFHOLZ, auf Atemwegen,
so wanderts, das Flügel-
mächtige, das
Wahre
86

Diese Bahn ist vorgezeichnet in der Pneuma-Strophe, ein „Atemweg“, der die Geschlechter über die Grenzen der Zeiten und Kulturen hinweg verbindet:

… es ging
blind nur ein Atem zwischen
Dort und Nichtda und Zuweilen
87

Das „Wahre“ rührt den Dichter an, er ist vom Geist geschlagen, getroffen wie von einem Bumerang. Die Betroffenheit ist, wie wir bereits erwähnten, mehr als nur Inspiration, ein schicksalhaftes Gezeichnetsein. Dietlind Meinecke, welche verschiedentlich Gelegenheit hatte, Gespräche mit Paul Celan zu führen, verdanken wir den Hinweis, daß der Dichter beim Titel „À la pointe acérée“,88 der von Baudelaire über Hofmannsthal entlehnt ist, auch an den Ausruf Hiobs gedacht haben soll:

Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir: derselben Gift muß mein Geist trinken, und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet.89

Die Motive des Pfeiles und des Wurfholzes berühren sich eng. Vor allem jene Stelle aus Aber läßt an das Bibelwort denken:

… es war,
als schwirrte, vom Nichts her, ein Wurfholz
ins Ziel einer Seele…
90

Der Dichter versteht sich selber als verwundeter Schütze der Wahrheit. Von seiner Seele schnellt der Pfeil, die „Pfeilschrift“:91

etwas wird wahr,
zwölfmal erglüht
das von Pfeilen getroffene Drüben
92

Wenn die Pfeile des Allmächtigen vergiftet sind und das Wahre identisch sein kann mit dem Schrecklichen, dann dürfte das Pneuma, das im palästinensischen Judentum auch die Geister der Verstorbenen mit einschließt, den Dichter mit den Toten verbinden, dann ist die „Wahrheit“ mit ihrem Schicksal verknüpft. Celan sagt es deutlich in Sprich auch du: „Wahr spricht, wer Schatten spricht.“,93 wer im Namen der Schatten spricht. Dies führt nun zu einer der tiefsten Paradoxien in diesem lyrischen Werk. Der Atem, der göttliche Hauch der Inspiration, Sinnbild des Lebendigen und Schöpferischen, beflügelt den Dichter zum Zeugnis für die Toten:

Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings –
Beim Tode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht
.94

Bereits aus dem Gedicht „Argumentum e silentio“,95 aus dem die Formel des erschwiegenen Wortes stammt, erhellt dieser Zusammenhang, indem nämlich das Schneewort zuletzt von der „Nacht“ zeugt, dem steinernen Dunkel, das auch den Winzern das Keltern abverlangt. Die Wahrheit des „Atemkristalls“ ist keine frohe Botschaft, sondern geronnenes Dunkel, gefrorene Schwärze. Deshalb liegt sie so tief vergraben, verschüttet vom Büßerschnee, in der Schrunde, im „Wundenmal“96 der Zeit.
Daß der Atem bei Celan zum Medium des Wahren wird, hat noch einen naheliegenderen Grund, der im Sprechvorgang zu suchen ist. Er erfüllt die von Mund und Zunge geformten Laute mit Leben, doch ist er ebensosehr Ausdruck des Stummen, der tief atmet und die Worte zurückhält. Der Atem ist dem Sprechen und Schweigen gemeinsam. Bildlich formuliert ist in ihm die Bedeutung der Worte vorenthalten. Aber auch das Unaussprechliche wandert mit dem Atem gleichsam aus der Brust auf die Zunge und mischt sich in der Artikulation dem Lautkörper bei. Genaugenommen wäre das Atem-Kristallgitter ein System aus Sprachzellen und Atem-Zwischenräumen. Das Wahre stiftet der lebendige Hauch, von dem sich die Chiffren nähren. Wie Celan sich die wechselseitige Beziehung denkt, geht aus „Zwölf Jahre“ hervor:

Die wahr-
gebliebene, wahr-
gewordene Zeile:…  d e i n
H a u s  i n  P a r i s    z u r
O p f e r s t a t t  d e i n e r  H ä n d e.

Dreimal durchatmet,
dreimal durchglänzt.
97

Das Selbstzitat stammt aus dem früheren Gedicht „Auf Reisen“.98 Nach zwölf Jahren erweist sich die Zeile abermals als wahr, doch die Erfahrung führt nicht primär über das Wort. Celan hat den Text dreimal durchatmet und so aus dem Schweigen, dem Vergessen heraufgeholt. Er atmet beim Wiederlesen ein Stück seines Lebens ein, und erneut kommt es zur Kristallisation in Form eines Gedichtes. Die Worte sind, was das Zitat betrifft, dieselben geblieben, nur der Vers nimmt eine andere Gestalt an. Er wird dreimal gebrochen, zweimal über das Zeilenende, einmal durch den Gedankenstrich. Diese Struktur ist mit der Dreiteilung der Wahrheit am Anfang vorweggenommen. Auch sie durchatmet der Dichter dreimal. Somit entsprechen sich, bildlich vereinfacht, die drei Atemstöße und der dreifache Glanz des dreiflächigen Kristalls. Was sich verändert hat, ist die Substanz des Verschwiegenen, weil das atmende Du ein anderes geworden ist. Im Atem ist der Dichter ganz gegenwärtig:

Schärfer als je die verbliebene Luft: du sollst atmen,
atmen und du sein
.99

Das Wahre wandert auf Atemwegen, und Dichtung kann eine „Atemwende“ bedeuten. Damit kehren wir wieder zu jenem Begriff zurück, den Celan in der Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ verwendet. Er spricht ganz am Anfang, noch vor dieser Definition, vom Atem:

Aber es gibt, wenn von der Kunst die Rede ist, auch immer wieder jemand, der zugegen ist und… nicht richtig hinhört. Genauer: jemand, der hört und lauscht und schaut: und dann nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn „sprechen sieht“, der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt, und zugleich auch – wer vermöchte hier, im Bereich dieser Dichtung, daran zu zweifeln? –, und zugleich auch Atem, das heißt Richtung und Schicksal.100

Die Stelle erinnert stark an den Bericht des Schülers von Rabbi Jizchak Eisik, der die Lehre seines Meisters nicht versteht und dennoch über den Atem an ihrer Wahrheit teilhat. Für Celan gibt es ein Erkennen der dichterischen Sprache, das sich nicht in erster Linie an die semantischen Inhalte der Worte klammert, sondern darin besteht, daß man ihre „Richtung“ wahrnimmt… Ihre Herkunft – das wäre die schicksalshafte Komponente, der „Grund“, in dem der Antrieb und die Verpflichtung des Gestaltens wurzeln – und ihr Ziel, das Utopische, das sie umkreisen. Mit einem andern Bild nennt Celan die Richtung, welche durch diese beiden Pole bestimmt wird, „Meridian“.101 Die Atemwende markiert den Augenblick des Erkennens, da es uns den Atem verschlägt, weil der Lebenshauch der Dichtung in uns eingedrungen ist und wir spüren, wohin es den Dichter treibt und wovon er getrieben wird. Für Celan, der sich mit Büchner beschäftigt, ist sie zweimal da: Bei Luciles Ausruf „Es lebe der König!“ und dort, wo sich der Himmel unter Lenz als Abgrund auftut. Hier scheint ihm aufzugehen, wie die Bahn, wie der Atemweg Büchners verläuft. Ingeborg Bachmann sagt in einer ihrer Frankfurter Vorlesungen über die Wirkung des Dichters:

Weil er [der Dichter] Richtung hat, weil er seine Bahn zieht wie den einzigen aller möglichen Wege, verzweifelt unter dem Zwang, die ganze Welt zu der seinen machen zu müssen, und schuldig in der Anmaßung, die Welt zu definieren, ist er wirklich da.102

Das „unumstößliche / Zeugnis“, auf das unser Gedicht „Weggebeizt…“, stellvertretend für das Werk Celans, zuhält, ist der utopische Fluchtpunkt seiner „Richtung“. Er sucht im Atemstrom den Kristall, dessen Reinheit und Schärfe das verwirklichte Kunstwerk niemals ganz erreichen kann. Und damit erhält der Begriff „Wahrheit“, zu dem das Lügenhafte des „Mein- / gedichts“ kontrastiert, noch einen andern Sinn. Wahr ist nicht nur die Botschaft des Schattens, das Zeugnis der Vernichtung, wahr ist auch die im Pneuma übermittelte vollkommene Gestalt, die „Schechina“. Ins Poetologische übertragen hieße das: Die Wahrheit des Gedichtes wäre die reine Inkarnation der Celanschen Substanz im Wort. Daß die totale Verkörperung seines Wesens Utopie bleiben muß, weiß der Dichter ganz genau. Es gibt kein absolutes Gedicht, es gibt lediglich „diese unabweisbare Frage, diesen unerhörten Anspruch“;103 die Frage nach dem idealen Kristall, der „chemisch einheitlich“ wäre –, den Anspruch, in brüchiger Form von der Utopie zu sprechen. Die „… Wahrheit / gibt Nachricht“104 von ihrer möglichen Existenz, und das Kunstwerk versucht, ihrer Spur zu folgen. Peter Horst Neumann hat treffend bemerkt:

Wo Celans Gedichte von ,Wort‘ oder ,Sprache‘ reden, ist der Differenz gedacht, welche das absolute Gedicht von jedem in menschlicher Sprache möglichen trennt.105

Und diese Differenz wird kaum in einem Gedicht des Spätwerks so deutlich ablesbar wie in „Weggebeizt…“, wie in der Spannung zwischen dem „Atemkristall“ und seiner sprachlich realisierbaren Form.
Damit sind wir zur anfangs gestellten Frage nach dem Du, das sich im „Strahlenwind deiner Sprache“ offenbart, zurückgekehrt, und es dürfte klargeworden sein, daß es nicht mit dem Ich des Dichters identisch sein kann. Nicht er selber verfügt über die elementare Kraft des beizenden und zeugenden Wortes, aber er wird in der Inspiration von ihr erfaßt, so daß zumindest ein Hauch davon kristallisiert. Wilhelm Höck, ein Kenner der jüdischen Tradition, sagt in seiner Interpretation „Von welchem Gott ist die Rede?“ im Anschluß an die Motto-Strophe unseres Kapitels:

Das „Metapherngestöber“ läßt sich verstehen als das Logos-Sprechen nach Babel. „Droehnen“ dagegen ist das pfingstliche „Brausen“, der „Sturm“ der „Ruach“ Gottes am Schöpfungsbeginn (Ruach entspricht dem Pneuma als Geist, Atem und Wind etc.), wiederkehrend am Anfang von „Kirche“.106

So verlockend es wäre, diese Deutung auch für den „Strahlenwind“ in Anspruch zu nehmen – und dies um so mehr, als Celan selbst einmal das Wort „Pfingst- / schneise“107 im Sinne eines Offenbarungsweges gebraucht –, so vorsichtig wollen wir mit solchen Parallelen umgehen. Weder den „Gott“ in „Umsonst…“ noch den „Himmel“ im Winzer-Gedicht haben wir als religiöse Begriffe aufgefaßt, und es genügt meinem Dafürhalten nach für das Verständnis von „Weggebeizt…“, wenn wir im „Strahlenwind“ den Geist einer vollkommenen Ursprache erkennen, der den Dichter heimsucht und ihn bald an seiner Aufgabe verzweifeln, bald an das unumstößliche Zeugnis glauben läßt. Sprachskepsis und Vertrauen in das Wort sind so eng miteinander verquickt, daß es keinen andern Weg gibt als immer wieder neue, paradoxe Lösungen für das Dilemma zu suchen; ein Dilemma, das nun freilich in der Tradition der sprachlichen Überlieferung des Judentums verwurzelt ist, auf die wir zum Abschluß einen kurzen Blick werfen wollen.
Gershom Scholem, auf dessen Ausführungen wir uns im wesentlichen stützen, ist dem Problem der Tora-Überlieferungen in seinem Aufsatz „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“108 nachgegangen. Die Offenbarung der Tora, sagt Scholem, sei eine solche des Namens oder der Namen Gottes. Die dem Namen Gottes innewohnende Kraft ist so groß, daß sie nie in das menschliche Wort eingehen kann. Sie stellt ein Absolutum dar. Wie soll nun die Tora, die aus schriftlichen Zeichen besteht, dieses Absolute vermitteln? Die Kabbalisten sind der Ansicht, die Tora bezwecke nicht in erster Linie die Vermittlung eines konkreten Sinnnes, sondern begnüge sich damit, die Leuchtkraft des göttlichen Wortes zum Ausdruck zu bringen. Diese These taucht in allen klassischen Schriften der Kabbala auf. Demnach sind die verständlichen Worte der Tora nicht mehr deren Urworte, sondern bereits Deutungen. Würde das Wort sich in seiner ursprünglichen Fülle mitteilen, hätte es keinen Kommunikationswert, lediglich einen Stellenwert. Es kam sogar zur Behauptung, daß es die schriftliche Tora im Sinne einer unmittelbaren Offenbarung gar nicht geben könne, diese sei in der Weisheit Gottes eingeschlossen als Ur-Tora („Tora kelula“). Nach einem alten Wort des „Midrasch“ war die präexistente Tora mit schwarzem Feuer auf weißes Feuer geschrieben, wobei das weiße Feuer die schriftliche Tora bedeutete, deren Buchstaben aber noch nicht formal hervortraten. Ihre Form erhielten sie erst durch die Kraft des schwarzen Feuers, welches die mündliche Tora war.

Damit wäre also impliziert, daß, was wir auf Erden schriftliche Tora nennen, selber schon durch das Medium der mündlichen Tora gegangen ist und darin eine sinnliche Form angenommen hat. Nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift, die selbst schon eine Spezifikation ist, sondern die mystische Weiße der Buchstaben auf dem Pergament der Rolle, auf dem wir überhaupt nichts sehen, ist die eigentliche schriftliche Tora.109

Wenn es ein Wort Gottes gibt, so kann seine Sinnfülle auf gar keinen Fall der semantischen Polyvalenz eines irdischen Zeichens vergleichbar sein. Es ist unendlich deutbar, ja das Deutbare schlechthin. Für die mystische Theologie wird dies zu einem dominanten Kriterium der Offenbarung, und die mündliche Überlieferung drängt den schriftlichen Text in den Hintergrund. Nur die tausend und abertausend Formen des gesprochenen Tora-Wortes können zusammen seinen Sinn ausmachen. Jede schriftliche Fixierung hemmt die Vielfalt. Daß die mündliche Lehre dann doch aufgeschrieben wurde, galt allgemein als unheilvoll. Dem talmudischen Bericht nach war es sogar verboten, sie aufzuschreiben. Die spätere Kabbala prägte den Satz, daß die Tora für jeden einzelnen Juden ein besonderes, nur für ihn bestimmtes Gedicht annehmen werde und daß erst die Summe all ihrer Erscheinungsformen in der Kette der Überlieferung ihr Wesen ausmache.
Bei Paul Celan, der sich in seiner Bremer Rede ausdrücklich zur Landschaft bekennt, „in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat“,110 begegnen wir einer Dichtung, welche die alte jüdische Skepsis dem schriftlich fixierten Wort gegenüber wie ein Brandzeichen in sich trägt. Ihr Sprachgitter verweist – vergleichbar dem schwarzen Feuer im „Midrasch“ – auf die mystische Weiße der unsichtbaren Buchstaben auf dem Pergament, die Sprache des seelischen Urtextes, aus der es, nach Günter Eichs Formulierung, das Gedicht zu übersetzen gilt. Nur im Schweigen ist dieser Dichter ganz bei sich selbst, und das heißt auch: bei den Toten, den Vätern und Vorfahren, mit denen er sich durch das Pneuma verbunden weiß. Im Atem sieht er die lebendige Mitte zwischen dem Wort und dem Schweigen, im Atemkristall als einem winzigen Teil des „Tausendkristalls“111 seiner Welt das Ideal eines makellosen Kunstwerks, worin sich die Wahrheit – für die in den späteren Gedichtbänden immer häufiger auch die Chiffre „Licht“ steht – nicht nur brechen dürfte, sondern wo sie in ihrer Ganzheit erstrahlen müßte. Dieser Wunsch bleibt Utopie, aber Celans Gedicht entwirft sich darauf hin und wird trotz seiner Brüchigkeit zum Zeugnis dafür, daß es auch im dunklen, auf tragische Weise zu Ende gegangenen Leben dieses großen Dichters Augenblicke gab, in denen Licht war, „Rettung“.112

Hermann Burger, aus Herman Burger: Paul Celan, Fischer Taschenbuch Verlag, 1989

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