Hilde Domin: Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Völker der Erde“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Völker der Erde“ aus dem Gedichtband Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. −

 

 

 

 

NELLY SACHS

Völker der Erde

ihr, die ihr euch mit der Kraft der unbekannten
Gestirne umwickelt wie Garnrollen,
die ihr näht und wieder auftrennt das Genähte,
die ihr in die Sprachverwirrung steigt
wie in Bienenkörbe,
um im Süßen zu stechen
und gestochen zu werden −

Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.
Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt −
und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht −

Völker der Erde,
lasset die Worte an ihrer Quelle,
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können
und mit ihrer abgewandten Seite
wie eine Maske dahinter die Nacht gähnt
die Sterne gebären helfen −

 

Zerstöret nicht das Weltall der Worte

Dies ist ein Aufruf, wie ich keinen zweiten sehe im lyrischen Werk der Nelly Sachs. Trotz ihrer vielen „Du“, „Ihr“, „Wir“, die die „O Mensch“-Rufe der „Menschheitsdämmerer“ an Hoffnungs- und Verzweiflungspathos weit zurücklassen. Man muß sich klarmachen, daß Nelly Sachs fast eine genaue Altersgenossin Werfels ist, Bechers, Golls und Heynickes (1890/91). Dabei aber von ihnen unabhängig: eine Stimme, die am Ende des Zweiten Weltkriegs sich erhebt, wie die der „sehnsüchtigen Verdammten“ (Pinthus) am Ende des Ersten. Sie war es, die das erste „Ihr“ in einem Atem mit dem „Wir“ sprach, in ihrem „Chor der Geretteten“ (Wohnungen des Todes, Aufbau Verlag 1946, herausgegeben von Becher und Huchel). Sternverdunkelung, ihr zweiter Band (1949), mußte mangels Interesses eingestampft werden, ganz wie Celans Sand aus den Urnen (1948), der bereits die „Todesfuge“ enthielt. Heute wissen wir also, daß die deutsche Nachkriegslyrik mitnichten „weltfern und idyllisch“ anfing, „einzige Ausnahme Günter Eich“, wie immer noch behauptet wird.
„Völker der Erde“ gehört in den Umkreis von Sternverdunkelung, wurde etwa gleichzeitig geschrieben wie, in New York, Adornos fataler Satz: „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ und „unmöglich“. Grau ist doch die Theorie. Erstaunlich bleibt, daß es Adorno nie gelang, dies Fehlurteil auszulöschen, das immer noch umläuft und uns auch anno 77 von einem stimmführenden Germanisten pünktlich serviert wurde. „Daß es noch Gedichte gibt nach Auschwitz, beweist nur, daß die Welt nach Auschwitz Auschwitz vergessen hat“, befand Peter Wapnewski. Das Verkehrteste, was wohl je zur Verteidigung dieser abgeleierten und unhaltbaren These vorgebracht wurde, die 1951 ihren Siegeszug antrat: genau ein Jahr, bevor Celan mit Mohn und Gedächtnis in Deutschland unüberhörbar wurde.
„Völker der Erde“ ist einer der wenigen Aufrufe der Nelly Sachs, der sich an alle wendet. Die Völker der Erde sind aufgerufen, hier, jetzt, und in alle Zukunft. Es ist auch das einzige Gedicht von ihr, das sich ausschließlich mit der Sorge um die Sprache befaßt. Das Wort, wie der Atem (das „Pneuma“), ist das Leben selbst: der die Schöpfung in Gang setzende Logos. „Das atemverteilende Weltall“ wird es daher auch genannt.
Aufgerufen wird zur Enthaltung von Haß: Haß, das Messer, das Atmen und Sprechen zugleich abschneidet. Und sofort wird zur Wahrhaftigkeit aufgerufen. Aber in umgekehrter Folge, als wir es gewöhnt sind. Gewöhnt sind wir an: „Du sagst Frieden, aber du meinst ihn nicht. Sag doch gleich, wie schlecht du es meinst!“ Diese Art Forderung will den andern auf seine bösen Absichten festnageln, ihn überführen. Nelly Sachs dagegen verlangt: „Plane nichts Böses, wenn du Gutes sprichst!“
Es geht hier weniger um die nachzuweisende Diskrepanz von Wort und Wirklichkeit. Vielmehr soll das Wort den, der es spricht, auf sich verpflichten. Denn das Wort ist, seiner Natur nach, Wort des Lebens. „Lasset die Worte an ihrer Quelle.“ Diese „Quelle“ ist die Sehnsucht: Sehnsucht nach Liebe und nach Heil. Dies sind „die wahren Himmel“, in die die – nicht mißbrauchten – Worte „die Horizonte rücken können“. „Mit ihrer abgekehrten Seite“, die Geheimnis bleibt, helfen die Worte „die Sterne gebären“ (eine mehrfach benutzte Metapher). Von den Gestirnen heißt es in einem vergleichbaren Kontext, fast hölderlinisch: „die kreisten unsichtbar, und nur von Sehnsucht angezündet“. So fließen die Worte aus der Sehnsucht und entzünden die großen Lichter, von woher sie wiederum Kräfte beziehen, in ewiger Wechselwirkung. Jetzt verstehen wir den Anfang: von den „Völkern der Erde“, die Spulen sind für unbekannte Sehnsüchte („mit der Kraft der unbekannten / Gestirne umwickelt wie Garnrollen“). Und die aus der Kraft dieser Sehnsüchte Beschlüsse fassen und verwerfen, „die ihr näht und wieder auftrennt das Genähte“. Völkerverträge zum Beispiel oder die Menschenrechte. Von der summenden „Sprachverwirrung“, dem aktiven und passiven Wortbetrug („stechen und gestochen“ werden, wobei noch hinzugesetzt ist „im Süßen“, also Betrug mit Honigworten), kommt Nelly Sachs dann in die großen und erregenden Imperative: den Appell an die Völker, die Sprache heilig zu halten wie das Leben selbst.
„O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt – und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht –“. Ruft das nicht jeder von uns, wenn er morgens die Zeitung öffnet, wenn er abends den Fernsehknopf drückt!

Hilde Domin aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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