Horst Bienek: Zu Günter Kunerts Gedicht „Vorortabend“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Vorortabend“ aus Günter Kunert: Im weiteren Fortgang.

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Vorortabend

Hier geht die Luft geruhsamer umher.
Hier brennt eine Gaslaterne und
da auch. Hier riecht es nach Flieder
und Rauch
einer verlorenen Lokomotive
Die Geräusche gelangen weiter
als am Tage, beflügelt
von schwarzen Schwingen.
Hinter der Hecke jedes gesprochene Wort
ist so, wie es am Anfang war: ein Beginn.
So kommen
die Sprechenden erst später
zu ihrer Sprache hinzu, werden Nachbarn
aus Fremden, umgeben sich
mit ihren Gärten, mit holprigen Straßen,
mit Eisenbahngleisen, mit Universum:
Es werde Vorort.
Es werde Abend.
Es werde Schweigen.

Für heute Nacht nehme ich
die Schöpfung zurück.

 

Die schönen Täuschungen

Günter Kunert, Jahrgang 1929, hat seinen ersten Gedichtband, mit Förderung durch Johannes R. Becher der ihn in seinem Tagebuch bezeichnenderweise den „Grashüpfer“ nannte, schon mit 21 Jahren publiziert, Wegschilder und Mauerinschriften; seitdem hat er kontinuierlich Gedichtbücher veröffentlicht, zumeist Denk-Gedichte, Aphorismen in Versen, Parabeln, doch keineswegs das, was man früher Gedanken-Lyrik nannte. Einen gewissen didaktischen touch hatten diese Gedichte immer, und eigentlich erst im letzten Gedichtband Im weiteren Fortgang, versucht er davon loszukommen.
Das Gedicht „Vorartabend“ gehört zu einem neuen Zyklus, „Bucher Elegien“, was wohl nicht unabsichtlich mit einem andern, großen Vorbild klanghaft assoziiert, nämlich den „Buckower Elegien“. In Buch hat Kunert ein altes Haus gekauft, am Rande von Berlin, das signalisiert gleich Vorortstimmung, viel Natur, Gartengänge, Stille, die Erfahrung der Jahreszeiten, neue Nachbarn, Gespräche über Zäune, über die Hecken über die Bäume hinweg.
Fremd ist hier vieles – und doch teilt auch das Fremde in seiner Geruhsamkeit schon Vertrauen aus. Die Gaslaterne, der Flieder und der Rauch einer verlorenen besser einer entschwundenen Lokomotive, das freilich ist wie ein Bilderbuch, naive Malerei, schmeckt vielleicht sogar ein wenig nach Gestern, nach Idylle, nach heiler Welt, die dann ja auch absichtlich und etwas schwerfüßig eingeführt wird: Hier geht die Luft geruhsamer umher. Da schlägt ein Lyriker keine Volten, da gibt es keine kühnen, ungewöhnlichen Metaphern, da werden keine Pointen zugespitzt – und dabei könnte er es doch, er hat es früher, in anderen Gedichten, so bravourös bewiesen. Nein, hier steigt ein Lyriker über das Komplizierte, das Vergitterte, das Dunkle hinweg, öffnet sich einer neuen Einfachheit, fängt von vorn an, vergewissert sich seiner Umwelt, nennt sie, ruft sie auf, ein Anfang, ein Beginn: Schon ist die Sprache da, die Wörter, schon sind die Dinge vertraut, immer wohnlicher wird es da, wenn man nur erst die Worte vorausschickt, Freundlichkeit wächst geruhsam, der Vorort wird zur Welt, zum Universum. – Oder ist das nur ein Kleinbürgertraum?
Dabei spielt ein Dichter nur Schöpfung, auf einem Blatt Papier, in der Schreibmaschine, ganz spielerisch, ein Hauch von Wörtern. Nicht: es werde Licht, nein, keineswegs, nicht so gewaltig, da würde man erschrecken. Ganz einfach: Es werde Vorort. Nichts weiter. Es werde Abend. Und vielleicht, wenn so etwas wie Glück, Befriedigung hinzukommen soll. Es werde Schweigen.
Es ist kein bukolisches Gedicht, nicht einmal ein Naturgedicht – das sind nur Täuschungen. Da jongliert einer mit den bunten Bällen der Natur-Imitation, zieht verführerische Landschafts-Kreise, und dann nimmt er die Schöpfung, seine Schöpfung, zurück: poeta ludens. Es ist nur ein hinprojiziertes Bild, ein poetischer Entwurf, ein leichter, hingehauchter Einfall in einer Stille, die schon im nächsten Augenblick zerstört werden kann, und sei es nur durch das Schrillen des Telefons. Solange wie man das Gedicht liest, solange währt auch nur die Wirklichkeit dieses harmonischen Vorortabends. Der Poet, er nimmt mit der Nacht auch die Schöpfung zurück. Kunert hat viele Gedichte geschrieben, einige, die gewiß gewichtiger sind als dieses; fast immer merkt man ihnen das Machbare an. Dies hier ist ein einfaches Gedicht, das nicht einmal durch ein großes Motiv besticht, kein Gleichnis, keine Parabel, keine Didaktik, nur eine spielerische Imagination. Es steckt nichts dahinter: Es ist nur das, was es ist.

Horst Bienekaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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