Horst Rüdiger: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein alter Tibetteppich“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein alter Tibetteppich“ aus dem Band: Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werk in 3 Bänden. Band I: Gedichte 1902–1943. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

 

In orientalischer Verkleidung

Diese Reime hat es nie zuvor gegeben; man soll sie sich vorsprechen, um ihren Zauber zu hören: „liebet – Teppichtibet“, „Kostbarkeit – Maschentausendabertausendweit“, „Lamasohn – Moschuspflanzenthron – Zeiten schon“. Das klingt nicht wie „Herz – Schmerz“ oder „Liebe – Triebe“. Aber da ist auch nichts Preziöses, allenfalls Fernweh und die Lust am Kostbaren, denn auf einer „Kostbarkeit“ ruhen und berühren sich wohl die Füße der Liebenden. Auch „himmellang“ und „buntgeknüpfte Zeiten“ hat man noch nie vernommen. Ganz neu und un-erhört aber ist das Bild für die Verbindung der Liebenden: der Teppich. Goethe hat es im „Divan“ nicht gebraucht, Rückert nicht in den „Östlichen Rosen“.
Erfunden hat es die jüdische Frau aus Elberfeld, „der schwarze Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzweigegangen ist“. So nannte sie ihr Dichterfreund Peter Hille, der ohne ihr Gedenkbuch wohl ganz vergessen wäre. Er konnte nicht die Verse meinen, in denen der Weltschmerz der Lasker-Schüler Wort geworden ist:

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär…

Diese Verse sind 1906 entstanden, als Hille schon tot und die Schreie der Sterbenden noch nicht zu hören waren, welche ein Menschenalter später auch den Tauben den Tod des Göttlichen unter Barbarenfäusten ins Ohr dröhnten. Wie es sich für ein Liebeslied schickt, werden die Sinne des Hörers geweckt. Strahlen, Farben, Sterne entzücken das Auge; wenn es einen Teppich zu betrachten gilt, wird das Auge zuerst aufgerufen. Es nimmt auch die Mühe einer „maschentausendabertausendweiten“ Verknüpfung wahr (ein Geviertmeter Buchara-Teppich soll bis zu vierhunderttausend Knoten enthalten). Dann ist es der Tastsinn, welcher den Eros weckt. Die auf dem Teppich ruhenden Füße erfüllen in der kostbaren Weichheit die gegenseitige Nähe, so wie die lustvolle Berührung im unendlichen Kuß und im zärtlichen Wange an Wange das Nahen des Gottes spüren läßt. Und endlich wird der sinnlichste Sinn, der Geruch, geweckt, denn er ruft am nachhaltigsten die Erinnerung an unvergessene Menschen und Situationen wach. Der Moschuspflanze entströmt ein Duft, der zu den verführerischsten Reizen des Orients zählt.
Die Knüpferin Liebe schafft im Teppich ein Zeichen des Ineinanderverknüpfens. Ihr Werk ist keine empfindsame, vom Geiste des Pietismus oder des Titanismus genährte Liebe; es ist ein erotisches Spiel wie das sinnlich reizende Ineinander der Teppichfarben und -formen, nicht fern dem süßen Unsinn der Verliebtheit. Der homo ludens, nicht der homo faber wendet den Tibetteppich zum Märchenlande „Teppichtibet“, bringt das liebliche Wortungeheuer von den tausendfach verknüpften Maschen hervor und genießt den betäubenden Moschusduft, der dem Thron des Priestersohnes entströmt. Mit dem Fabellande, der Fabelpflanze und dem Fabelgeliebten tritt der ferne, literarisch noch nicht erschlossene zentralasiatische Osten in die deutsche Dichtung ein, eigentümlich verwandt und doch ganz verschieden vom früheren deutschen Orientalismus seit Adam Olearius: durchaus unpolitisch, leidenschaftlicher und kunstgewerblicher, exotischer und intimer zugleich, berauschender und bescheidener.
Das geliebte Wesen, dem die Verse gelten, ist der Sohn eines Zauberpriesters, der wohl nur durch Fabelei und Zauberkünste zu gewinnen ist; das liebende Wesen ist eine Frau. Else Lasker-Schüler hat sich immer gern in orientalischer Verkleidung gefallen, als Tino von Bagdad oder Prinz Jussuf aus dem ägyptischen Theben, wo sie auch geboren zu sein vorgab. Gestorben ist sie in der Heimat ihres Herzens, in Jerusalem, eine Dichterin, der die Klangwerte der deutschen Sprache wie anderen Lyrikern fremder Herkunft – Brentano, Chamisso, Rilke – in seltener Vollkommenheit zu Gebote standen.

Horst Rüdiger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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