Inger Christensen: Poesiealbum 285

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Inger Christensen: Poesiealbum 285

Christensen/Glöckner-Poesiealbum 285

SITZE AUF DEM KLEINEN AST MEINER VERNUNFT

Sitze auf dem kleinen ast meiner vernunft
säge säge mit rostiger rauher säge
spielzeug aufgehoben aus meiner kindheit

säge säge der winter kommt
macht schnell macht schnell eifrige hände
werft mich werft mich hinab zu mir selbst

 

 

 

Stimmen zur Autorin

Inger Christensen weiß, in welcher Zeit sie sich befindet und was sich in ihr ernten läßt. Und dieses Wissen, von Melancholie nicht ganz frei, in dem sich Sprachanalytik und poetische Intuition zu einer Art sechstem Gegenwartssinn verbinden, macht die eigentümliche Leistung ihrer Dichtung aus… Nach Form und Symmetrie (aber auch Unergründlichkeit) des Ausdrucks liegt (mit Das Schmetterlingstal) ein Kunstwerk an der Grenze zur Vollkommenheit vor… Sie führt uns vor, daß es möglich ist, im selben Atemzug klassisch und gegenwärtig zu sein, magisch und analytisch, unerschöpflich und kontingent. Wie kann das sein, fragt man sich: ein Requiem, das zugleich ein Hymnus auf das Leben ist… Das aber ist ihre Methode: in jedem ihrer großen Zyklen beginnt sie wieder am Nullpunkt, gegen gewaltige innere und äußere Widerstände, wie jemand, der noch nie eine Zeile geschrieben hat, jemand der nach einem erkenntniskritischen Unfall das Sprechen mühsam erst wieder erlernen muß. Oder wie ein großes, skeptisches Kind, das die Sprache wie ein Spielzeug auseinandernimmt, um zu schauen, woraus sie gemacht ist…
Durs Grünbein

Die Aura des Rätselhaften, Exorbitanten und Kosmischen umgab ihre Verse, doch wer ihr begegnete, war erstaunt über ihre einfache Erscheinung: weißhaarig, pausbäckig, bebrillt. Ihre Stimme aber zog alle in ihren Bann: ein intensiv beschwörender, melodiöser Singsang, der Dinge genau benannte und ihnen dennoch ihr Geheimnis ließ.
Dorothea von Törne

 

Poesiealbum 285

Nicht den Linien der väterlichen Schnittmuster folgen die Gedichte der dänischen Schneiderstochter Inger Christensen, sondern dem Atem der Schöpfung und ihren eingehauchten Prinzipien. Schmetterlingsflügel, vermessen mit dem Zirkel der Ewigkeit, Aprikosenbäume und Brombeeren, alphabetisierend in den Paradiesgarten der wunderhungrigen Seele gepflanzt. Die wechselseitige Durchdringung von Formel und Fatum ist es, die den Zauber dieser Dichterin ausmacht, der vollends erliegt, wer ihren magischen Singsang nur einmal hörte.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2009

 

„Manchmal ist das so“ 

Ich glaube, jeder der Inger Christensen einmal lesen hörte, ihr wunderbar schleppend-traumhaftes Sprechen, wird das nicht so schnell vergessen haben. Nach einer Lesung des Schmetterlingstals summte einem noch im Schlaf das von ihr magisch zum Klingen gebrachte Wort „Sommerfugle“ (gesprochen: Sommerfuhle; Schmetterlinge) im Ohr, und ich erinnere mich, daß meine Kinder, die eine Lesung Christensens im Freiburger Stadtpark gehört hatten, noch wochenlang und völlig abgelöst vom Ursprung des Gehörten dieses Sommerfuhle vor sich hin plapperten und sich über den eigenartigen Klang von Sommerfuhle freuten und dabei gar nicht mehr sagen konnten, wo Sommerfuhle eigentlich hergekommen war und natürlich nichts wissen mußten vom „Tod, der dich mit eignen Augen / vom Schmetterlingsflügel aus anblickt“, wie es am Ende des Requiems Das Schmetterlingstal heißt.
Inger Christensens Lesungen verschlugen einem tatsächlich die Sprache. Ich erinnere mich an einen Abend vor genau 13 Jahren im legendären Café Clara in der Berliner Clara-Zetkin-Straße, wo Inger Christensen den gesamten Sonettenkranz des Schmetterlingstals gelesen hat, der gerade in einer Ausgabe bei Kleinheinrich erschienen war. Ich glaube, die meisten hörten dort das Schmetterlingstal das erste Mal. Der Eindruck, den Christensens Lesung machte, war im ganzen Raum derart stark und von einer nahezu hypnotisierenden Qualität, daß Durs Grünbein, der als zweiter Autor für diesen Abend vorgesehen war und den es – wie uns alle – ganz offensichtlich ebenfalls erwischt hatte, nach dem Beifall etwas zu Christensen sagte wie: „Weltgedicht“, „eine Summe“ und „umwerfend“, jedenfalls etwas außerordentlich Bewunderndes, verknüpft mit der Frage, was man (in diesem Fall also er) denn jetzt noch lesen solle, ob er denn überhaupt noch lesen solle? Worauf Inger Christensen mit einer Art unbescheidenen Zurückhaltung oder sanften Unbescheidenheit antwortete:

Ja, manchmal ist das so.

Ich glaube, daß diese kleine Episode beiden Dichtern zur Ehre gereicht. Und natürlich wollten wir alle, daß Durs Grünbein noch liest, und so war es dann auch. Elke Erb hieß die Moderatorin dieses Abends am 7. Januar 1997 bei Orplid & Co. im Café Clara, an dessen Ablauf ich mich natürlich nur mit Hilfe meines Notizbuchs so gut erinnern kann.
Ich habe Inger Christensen noch einige Male getroffen, anläßlich gemeinsamer Lesungen. Bei einer mehrtägigen Veranstaltung in Graz mit dem Jandl-Titel „um ein gedicht zu machen hab ich nichts“ sprachen wir miteinander, abends beim Essen im Restaurant. Sie rauchte nicht mehr. Sie sagte: „Schon zwei Herzinfarkte im letzten Jahr“, in diesem Moment kam die Kellnerin, um unsere Bestellung aufzunehmen, aber wir hatten nur geredet und noch nicht ins Menü gesehen. In Nullkommanichts trug uns die Kellnerin den Speiseplan vor, viel zu schnell und ungeduldig, worauf sich Inger Christensen den ganzen Plan noch zweimal wiederholen ließ (bis heute bin ich unsicher, ob sie tatsächlich nicht verstanden hatte); danach war die Stimmung angespannt, und ich nur noch eine Winzigkeit davon entfernt, der Grazer Kellnerin etwas zu sagen, wie „Wissen Sie nicht, wen Sie hier vor sich haben? – die größte lebende Dichterin Europas, wenn nicht der Welt, eine Autorin, der man mit Sicherheit noch in diesem Jahr den Nobelpreis verleihen wird!“
Daß ich dann auch die Blutwurst nahm, rührte die größte Dichterin, und sie strich mir mit dem angewinkelten Zeigefinger über die Wange, eine Art Segen, der mir wohl unter keinen anderen Umständen hätte zuteil werden können. Und sofort knüpfte sich ein Gespräch an, das schließlich über den ganzen Tisch lief und die vormals müde Runde in Bann schlug – wie Blutwurst sein muß, nicht fad, nicht überwürzt, aber gerade so, daß man dies und das noch herausschmecken kann usw. Ich sah, wie Inger Christensen sich anhaltend freute über ihre Bestellung, die inzwischen einem kleinen Triumph gleichkam, einem Triumph über die unverschämte Kellnerin, über die Herzinfarkte, das Nichtmehrschreibenkönnen und über das ganze belastende Dasein einer kranken Schriftstellerin auf ihrer endlosen Lesereise – ein sanftes, unbescheidenes Vergnügen stand ihr im Gesicht, als wollte sie noch einmal sagen:

Ja, manchmal ist das so. 

Lutz Seiler, 7. Januar 2009 aus Michael Buselmeier (Hrsg.): „die aprikosenbäume gibt es“. Zum Gedenken an Inger Christensen, Verlag Das Wunderhorn, 2010

 

Thomas Sparr: Lesbarkeit der unlesbaren Welt. Die dänische Lyrikerin Inger Christensen, Merkur, Heft 567, Juni 1996

Zwiesprachen: Nico Bleutge über Inger Christensen. Am 5. November 2019 im Lyrik Kabinett, München

 

 

 

GELEIT UND JAHRESZAHLEN

Wo Inger Christensens Gedicht auf Edenkoben
im Tal am Wegrand aufgestellt, die ersten Staben
barock den Namen eines Freundes nennen –
zwei Jahre später war sie fortgegangen
ins Reich der großen Toten, ist,
wie ich da stehe, schon neun Jahre fort –
unweit in einem hohen Baum am Bach
wachen Bussarde über ihren Hort.

Uwe Kolbe

 

 

 

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Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Uljana Wolf sprach im Rahmen des poesiefestival berlin 2008 mit Inger Christensen.

 

Jan Wagner: Weltenformeln. Vor allem über Inger Christensen. Zweiter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur

 

Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).

 

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Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Inger Christensen

 

Inger Christensen spricht 2008 mit Paal-Helge Haugen.

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