Jayne-Ann Igel: alles lichter winter

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Jayne-Ann Igel: alles lichter winter

Igel-alles lichter winter

TESTAMENT

unter einer brücke hindurch, auf der anderen seite regnete es,
hatten sich pfützen gebildet, auf dem asphalt, dies typische
schwarzgraue geplänkel, ich spürte den regen nicht, sah nur
die auf dem wasser aufkommenden tropfen und dachte:
nützt nun ja alles nicht, lief weiter, erinnerte mich der eisen-
bahnbrücke in r., die ich gelegentlich unterquert, jenseits
derer man unvermittelt in einer welt, die eine andere sprache
hatte, eine sprache, deren geschmack man in den vorortzügen
zu spüren bekam, zentralwerkstatt, werkhallen, baracken,
wildwuchs von gräsern, einer lost-generation von gewächsen,
die im stadium des vergilbens, immerzu, dieser grad von
verwesung, so wie die sprache lediglich auf ein vorleben
hindeutete, ein endliches, ohne fragesätze, stets die
absenkung am ende, in diesen ansätzen, und dann die
grindigen schalen der äpfel in den vorgärten, die sie zu
unberührbaren machten, einer sorte von hartgesottenen,
die ihr nachleben in einweckgläsern fristeten, ein testament
für die nachgeborenen…

 

 

 

Mit alles lichter winter

erscheint nun bereits der vierte Band der Dresdener Dichterin Jayne-Ann Igel im gutleutverlag, in dem sie ein weiteres Mal ihre Ausflüge und Exkursionen in die traumartigen Nacht- und Tagwelten fortsetzt und fortschreibt, dabei ihrer miniaturartigen Form treu bleibend. Über die Entstehung von alles lichter winter sagt die Autorin:

Es gibt viele Texte in diesem Buch, die in halbwachen Momenten ihren Ursprung haben, in Momenten des Erwachens oder eines Dämmerzustands, in denen unkontrolliert Worte, Sätze oder Versatzstücke davon durch meinen Kopf gingen. Dabei habe ich versucht, bei jeder dieser Gelegenheiten solange wie möglich im ,stream‘ zu bleiben und sie zu notieren, mich also ganz bewusst diesem Zustand hinzugeben, der jeweils nur wenige Minuten währte, und zu sehen, was kommt und was in diesen Sätzen spricht, sich widerspiegelt, um dies dann herauszuarbeiten.

Aber alles lichter winter hat noch eine ganz andere Entstehungsebene: Im Rahmen von Jayne-Ann Igels intensiver Lektüre von Gedichten anderer Autoren – hier wären vor allem die Texte von Rainer René Mueller sowie die ,Engeltexte‘ der Berliner Dichterin Uta Ackermann zu nennen – ist für sie eine neue Herangehensweise der Textproduktion entstanden:

Eine Reihe von Texten sind während des Lesens von Gedichten Anderer entstanden. Ein Wort, eine Zeile bildeten jeweils den Auslöser für mich, für eine Art Dialog, auch wenn mein Text dann oft in eine ganz andere Richtung schwenkte. So zu schreiben, war neu für mich und in älteren Texten lassen sich kaum direkte Bezüge zu anderen Dichtern entdecken.

gutleut verlag, Ankündigung

 

Igels Licht

Licht!
Wir sollten kurz über Lyrik reden, weil Lyrik auf dieser Seite immer zu kurz kommt. Dabei ist sie durchaus im Netz vertreten, dabei ist Lyrik in der aktuell sehr kurzlebigen Zeit im Grunde das Genre der Stunde. Um ein kurzes Gedicht zu lesen, braucht es kaum Zeit, ein paar Minuten, manchmal sogar weniger als eine Minute. Und dennoch scheinen es Gedichte zu sein, die sich aufgrund eben ihrer Kürze ins Gedächtnis einbrennen, die sich über den Moment hinaus im Gedächtnis erhalten, und nicht nur im Gedächtnis Einzelner, sondern im kulturellen Gedächtnis der Gattung.
Und manchmal sind es nur Reste von Gedichten, die fragmentarisch überdauerten, auf Resten eines Trägermaterials. Einzelne Worte nur, kaum zu entziffern auf dem Papyrus. Sapphos Worte zum Beispiel.
Gedichte werden heute vergleichsweise wenig gelesen und Gedichtbücher kaum verkauft, sieht man das Phänomen aber überzeitlich, dann holen sie ihren Rückstand zu den Romanen locker auf, sie können dieser Prosaform im Wettkampf sogar einen gewissen Vorsprung einräumen, werden den aber immer wieder herausholen.
Diese Vorrede hier ist länger als die meisten der Gedichte Jayne-Ann Igels, auf die ich in diesem Beitrag mit Nachdruck verweisen möchte. Die Autorin bewegt sich nunmehr seit über dreißig Jahren mit ihren Spotlights durch die lyrische Landschaft im deutschsprachigen Raum, belieferte ost- wie westdeutsche Verlage, als es noch Sinn machte, von einer solchen Trennung zu sprechen, weil die Hemisphären realiter getrennt waren, ging dann zu einem deutschsprachigen Schweizer Verlag und fand sich zuletzt im Frankfurter gutleut verlag ein, wo sie gerade mit ihrem Band alles lichter winter die reihe licht eröffnete.
Die Texte des Buches changieren zwischen kurzem Prosagedicht und rhythmisch abgezirkelten freien Versen. Vielleicht kann man sie oft als Naturgedichte bezeichnen, wenn man unter Natur mehr versteht, als die Ansammlung organischen Materials außerhalb unserer Städte. Natur beginnt in Igels Dichtung unmittelbar vor den Augen und unter der Hand, hat sich in das menschliche Siedlungswesen geschlichen, und was dem einen als Makel erscheint, wird der anderen zum Ausweg. Ich möchte, um das zu illustrieren, an dieser Stelle einen Text des Bandes komplett zitieren:

Schönschrift der ordnung

der tröstung landschaft – die zeile kam mir, als ich das gelände des
fontane centers passierte, dieser mehrwert-deponie, in der die bäume in
reihe und von gleich hohem wuchs, eine art schönschrift der ordnung
darstellen, der zuteilung und anmutung…

Igel betreibt auch einen lyrischen Blog, auf dem man sich in ihr als Splittern gefügtes Weltbild lesen kann. Das oder der Blog heißt [umtriebe] und hier kann man sich der aktuellen Gedankenbewegungen der Autorin versichern, oder man kann, um es in der Sprache des Netzes auszudrücken, ihnen folgen. Doch bleibt auch das Buch in jedem Fall auch als solches Ereignis. Die gestalterische Qualität der Produkte des gutleut verlags sind Legion.

Jan Kuhlbrodt, piqd.de, 28.6.2020

Sage und säge

– Unser Autor ist selbst Dichter. Hier stellt er vier neue Bände von Kolleg:innen vor. –

Ein letztes Aufbäumen gegen das Hässliche in der Literatur fand 1966 durch den einflussreichen schweizerischen Germanisten Emil Staiger statt. In seiner Rede über „Literatur und Öffentlichkeit“ verstieg er sich zur Aussage:

Wenn (…) Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Verbrecher Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie?

Zu diesem Zeitpunkt nahm die 1947 in Trier geborene Ursula Krechel gerade ihr Studium der Geisteswissenschaften an der Uni Köln auf. Der Schönheitsdiskurs, den sie in ihrem neuen Gedichtband Beileibe und Zumute führt, liest sich wie ein veritabler Nachtrag zu Staigers Rede. Maßgeblich ist das Gedicht „Die Widerstandslinie der Schönheit“, das Schönheitsbilder als bereits idealisierte Entitäten entlarvt: „Was, wenn Schönheit das Geschönte wäre“, lautet eine typische Suggestivfrage. Indem sie nun die Begriffe des vermeintlich Schönen dekonstruiert, rangiert sie ihre Gedichte auf das „weniger Schöne“ in seiner Ungeschminktheit:

Schönt Liebe nicht, mildert, dämpft, verunklart
bestürzt das weniger Schöne, das gleichgültig lässt?

Es war Krechel, die 1989 als eine der ersten auf die herausragende Lyrik der 1954 in Leipzig geborenen Jayne-Ann Igel hinwies. In den kurzen hybriden Texten von alles lichter winter erzählt Igel, die auch Theologie studierte, profane Geschichten von „gefallenen engeln“ – bevorzugt aufgrund ihrer Bereitschaft, „sich auf etwas einzulassen, / statt nur aus den sphären der unantastbaren“. Die bewusste Inszenierung von luziferisch-vergänglichen Engelsschicksalen wird von poetologischen Reflexionen unterstrichen:

unsäglich diese klangschaft aus sage und säge.

Sie werden flankiert von einer Auseinandersetzung mit den Grenzen poetischer Wahrnehmung:

man
spricht von augenlicht, als ob das auge es selbst aussende, in
die welt, die eine andere als jene projektionsfläche im innern,
die ungenügend beschrieben, obgleich so oft und ausgiebig
das augenlicht daran geben, einen glanz erwartend, von
innen.

Das Faszinierendste an Igels Gedichtband ist sein Form-Inhalt-Widerspruch: Die Wohltemperiertheit des poetischen Stils macht weder vor Abgesängen noch vor bedrückenden oder hochexplosiven Themen halt: Das sind Fragen nach der Herkunft, dem „gefühl der versprengung“, dem Eingehegtsein oder dem Klimawandel.

Alexandru Bulucz, der Freitag, Ausgabe 19/2021, 6.6.2021

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jonis Hartmann: dieses graue ausgedinge
fixpoetry.com, 16.4.2020

Dresdner Dichterin Jayne-Ann Igel veröffentlicht neues Werk alles lichter winter
Dresdner Neueste Nachrichten, 23.10.2020

 

Ortungen – Jayne-Ann Igel und Patrick Wilden im Gespräch

 

Hinter verschlossenen Türen (Episode 01) – Jayne-Ann Igel im Gespräch mit Florian Ernst

 

Menschen in Klotzsche: Die Schriftstellerin Jayne-Ann Igel

Wer viel im Dresdner Norden unterwegs ist, dürfte ihr immer wieder begegnen: Jayne-Ann Igel erkundet Klotzsche und seine Umgebung nahezu täglich, sommers wie winters, bei gutem und schlechtem Wetter, zumeist mit Fahrrad und Kamera. Die Wahl-Klotzscherin wurde 1954 in Leipzig geboren und wuchs mit Blick auf eine Haftanstalt, in der ihr Vater arbeitete, in einer staatstreuen Familie auf. Als Kind etwas kränklich und nicht zuletzt bereits dadurch anders als andere Kinder, fand sie schon früh zur Literatur und zum Schreiben. Der Versuch, bereits zu ihrer Schulzeit die Deutsche Bücherei in Leipzig zu nutzen, wurde zwar abschlägig beschieden, nicht jedoch ohne den Hinweis, dass Minderjährigen in dieser Institution trotzdem eine Ausbildung offenstände. Also erlernte sie dort den Beruf einer Bibliotheksfacharbeiterin und erhielt damit – und das gehörte mit zum Ersten, was sie mir zu Beginn unserer langen Gespräche mit einem verschmitzt-glücklichen Lächeln erzählte – den „Schlüssel des Glücks“ und mit ihm Zugang zu allen Büchern, die in der Deutschen Bücherei inventarisiert wurden, also auch zu jenen, die nur sehr beschränkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Später begann sie ein Theologie-Studium – und am selben Tag ernsthaft mit dem Schreiben. Während in jugendlichen Jahren zunächst Texte entstanden waren, die von fernen, fremden Welten handelten, ging es jetzt um Erkundungen, um die eigene Wahrnehmung, das persönliche Umfeld, die eigene Kindheit und Jugend, Nachtträume und Selbstverortung. Das Studium brach sie kurz vor dem Abschluss ab, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. Sie bewegte sich – wohl ebenso leise und zurückhaltend, wie es noch heute ihre Art ist – in der, wie es Wolfgang Hilbig einmal nannte, „Küchen- und Korridor-Szene“ Leipziger Künstlerkreise und wurde lange von offiziellen Verlagen nicht veröffentlicht. Erst ab der Mitte der 80er Jahre erschienen erste einzelne Gedichte in Zeitschriften und Anthologien in Ost und West. Im Wendejahr 1989 – für Jayne-Ann Igel ein Wendejahr in vielerlei Hinsicht – dann gleich zwei eigene Gedichtbände, zum einen im S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, zum anderen in der Reihe Poesiealbum beim Verlag Neues Leben Berlin (Ost). Noch unter dem Eindruck der Montagsdemonstration vom 9. Oktober in Leipzig, an der auch sie teilgenommen hatte, fuhr sie wenige Tage später auf Einladung ihres westdeutschen Verlages erstmals in den Westen, zur Buchmesse nach Frankfurt. Die Genehmigung zu dieser Reise erhielt sie erst in letzter Minute, so dass sie nicht einmal mehr packen konnte und von ihrem Buchhonorar zunächst einmal Kleidung kaufen musste. Irgendwie irreal sei das alles damals gewesen, erzählt sie heute.
Ihre Textformen sind insbesondere Lyrik, lyrische Prosa und Prosaminiaturen. Außerdem schreibt sie seit 1981 Tagebücher, die angesichts ihres täglichen Schreibpensums bereits mehrere Schubladen und Regalfächer füllen, trotz kleinster Schrift. In ihnen notiert sie ihre Nachtträume, mit denen sie sich schon sehr lange intensiv auseinandersetzt, und alle anderen Begebenheiten und Gedanken, die sie beschäftigen. Oft sind diese Notate die Keimzellen für andere Texte. Außerdem ist sie gemeinsam mit Jan Kuhlbrodt Herausgeberin der Reihe Neue Lyrik, die in Kooperation mit der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen im Poetenladen erscheint.
Jayne-Ann Igel ist eine Beobachterin, eine, die auch den scheinbar nebensächlichsten Details ihre Aufmerksamkeit schenkt und Bedeutung beimisst, Details, die die meisten Menschen wohl übersehen: Schnecken, Fugen, Unkraut, Geländeformationen, Strukturen, Bäume, Schichtungen. Das schlägt sich auch in ihren Fotos nieder: drei Pappeln auf einem von Baggerspuren aufgerissenen und öd gefallenen Gelände, Bauerwartungsland; Laternenpfähle, die „ihre Hälse recken“; Baumgerippe; dreckige Wasserlachen in ausgefahrenen Feldwegen. Vieles wirkt auf den ersten Blick vielleicht düster, dunkel und schwermütig. Aber ich empfinde das nicht. Jayne-Ann Igel schärft unsere Wahrnehmung und lenkt sie wieder zurück auf das Wesentliche, weg von der Vormacht des Makellosen, Glatten, Perfekten und hin zur Realität – die zumeist eben mitnichten makellos, glatt und perfekt ist, aber deswegen auch noch lange nicht düster und hoffnungslos.
Mich nimmt ihr Schreiben gefangen! Es ist keine leichte Literatur, keine konsumierbare, gefällige, keine, die man nebenbei liest. Ja, man wird sie wohl „anspruchsvoll“ nennen müssen, es ist eine, die ihren Leser fordert und ihn auf sich selbst zurückwirft. Bei der Lektüre wurde ich mit vielen Gedanken und Gefühlen konfrontiert, die im tiefsten Inneren auch meine eigenen waren, mir im Alltag jedoch abhandengekommen sind. Das kann aufwühlen, keine Frage! Aber für mich ist es genau das, was ich von Literatur erwarte.
Nach Klotzsche hat Jayne-Ann Igel die Liebe verschlagen. Sie lebt und schreibt unter dem Dach einer Altbauwohnung im Villenviertel von Königswald mit Blick in hohe, alte immergrüne Kiefern.

Am kommenden Sonntag liest Jayne-Ann Igel zur Eröffnung des 3. Klotzscher Bücherbasars und der Literaturwoche im Gemeindehaus Alte Post aus ihren Miniaturen.

Petra Schweizer-Strobel, klotzsche-blog.de, 29.1.2018

 

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Jayne-Ann Igel

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Facebook + Gespräch
Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Igel“.

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