Joachim Sartorius: Zu Ernst Jandls Gedicht „Ikarus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „Ikarus“ aus Ernst Jandl: Poetische Werke. –

 

 

 

 

ERNST JANDL

Ikarus

Er flog hoch
über den anderen.
Die blieben im Sand
Krebse und Tintenfische.
Er flog höher
als sein Vater, der kunstgewandte
Dädalus.
Federn zupfte die Sonne aus seinen Flügeln.
Tränen aus Wachs tropften aus seinen Flügeln.
Ikarus flog.
Ikarus ging unter.
Ikarus ging unter
hoch über den anderen.

 

Über das gelungene Scheitern

Zwei Probleme hat der Mensch. Er kann nicht fliegen, und er ist sterblich. Die Sehnsucht, sich der Erdenschwere zu entheben, es den Vögeln gleichzutun, ist so alt wie der Mensch selbst. Mit den Ballons der Gebrüder Montgolfier war der Traum vom Fliegen zwar kein Hirngespinst mehr. Doch, schwerer als die Luft, aus eigener Kraft zu fliegen, dieser Traum vom vogelhaften Alleinflug blieb weiterhin Utopie. Die vielen Versuche Besessener, sich auch nur ein paar Meter in die Lüfte zu erheben, all die Flugapparate, der Sturz des Ulmer Schneiders Berblinger in die Donau, die Übungsflüge der Gebrüder Wright, die mit Flügeln applizierten Fahrräder des Gustav Mesmer, alle die vielen verrückten Etappen bis zur Erfindung des Flugzeugs belegen diese uralte Sehnsucht.
Seinen gültigsten Ausdruck fand der Traum vom Fliegen in der Sage von Ikarus. Er war der erste Flugpionier, der Vorfahre, wenn man so will, des Superman unserer Comics, der über Jahrhunderte unzählige Maler und Schriftsteller beschäftigte, angefangen bei Ovid, der uns die Geschichte von Dädalus und seinem Sohn Ikarus in den Metamorphosen erzählt und sie für uns als Erster zu mythischen Figuren macht.
Dädalus war ein berühmter Baumeister, Bildhauer und Erfinder – „kunstgewandt“, wie ihn Ernst Jandl in seinem knappen Gedicht charakterisiert. Für König Minos auf Kreta hatte Dädalus das Labyrinth gebaut. Der König will ihn nicht ziehen lassen. Da beschließt Dädalus, für sich und seinen Sohn Flügel zu fertigen und nach Sizilien zu entkommen. Der Fortgang der Geschichte ist bekannt: Dädalus erreicht Sizilien, Ikarus kommt mit seinen durch Wachs zusammengehaltenen Flügeln der Sonne zu nahe und stürzt ins Meer. Für seinen Übermut, seine Neugier, seinen Überschwang bezahlt er mit dem Leben. Aber für einen Augenblick hat er wahrscheinlich Außerordentliches erlebt, die extreme „Flow“-Erfahrung des Fliegens. Und sterbend stürzt er sich in die Unsterblichkeit.
So die allgemeine Lesart der Sage. Ernst Jandl bringt den Mythos auf einen anderen Punkt. Den Punkt vom gelungenen Untergang. Ob Ikarus nun fliegt oder ob er stürzt, er ist „hoch über den anderen“. Die letzten beiden Zeilen nehmen die Anfangszeilen des Gedichts wieder auf. Jandl will uns damit sagen, dass es verrückter Projekte braucht und die Menschheit nicht vorankommt, wenn es nicht einzelne Menschen gibt, die den Himmel herausfordern und lustvoll das Unmögliche versuchen. Ikarus hat es versucht. Er ist der kosmische Taucher – von der Sonne zur Erde, vom Himmel ins Meer –, während die anderen wie Krebse und Tintenfische die Bodenhaftung nicht verlieren. In seinen eigenen Auftritten – minutiös geplanten Acts – wollte Jandl eine „fortwährende Realisation der Freiheit“. Auch Ikarus ist ein Auftrittskünstler, er träumt von der großen Freiheit des Fliegens hoch oben im All. Das Gedicht steht in Jandls erstem Gedichtband Andere Augen, der 1954 erschien. Viele Kritiker meinen, Jandl habe erst viel später, mit Laut und Luise (1966) zu sich selbst gefunden, zu Wortspiel und Sprachwitz, zu Jonglieren und Performance. Aber in diesem frühen Text, der gerade in seiner Einfachheit ingeniös konstruiert ist, ist schon der ganze Jandl da: Ökonomie der Mittel, raffiniert gesetzte, dem knappen Text großen Nachdruck verleihende Wiederholungen. Die längsten Zeilen – über das Vernichtungswerk der Sonne – leiten wie zwei große Gongs das Verhängnis ein, den Sturz des Helden. So viele von uns stürzen unbemerkt und andere unrühmlich. Ikarus aber geht unter „hoch über den anderen“.

Joachim Sartorius, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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