Joachim Sartorius: Zu Lutz Seilers Gedicht „Sonntags dachte ich an Gott“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Lutz Seilers Gedicht „Sonntags dachte ich an Gott“ aus Lutz Seiler: pech & blende. 

 

 

 

 

LUTZ SEILER

Sonntags dachte ich an Gott

sonntags dachte ich an gott wenn wir
mit dem autobus die stadt bereisten.
am löschteich an der strasse stand

ein trafohaus & drei & vierzig
kabel kamen aus der luft in dieses
haus aus hart gebrannten ziegelsteinen; dort

im trafo an der strasse wohnte gott. ich sah
wie er in seinem nest aus kabelenden
hockte zwischen seinen ziegelwänden

ohne fenster dort am grund
im dunkel an der Strasse hinter
einer tür aus stahl

sass der liebe gott; er war
unendlich klein & lachte
oder schlief.

 

Gott = Elektriziät

Wer erinnert sich nicht bei der Lektüre dieses Gedichts an seine Kindheit, an Spiele auf einem Baugelände, in der Nähe elektrisch geladener Zäune und surrender Trafos? Immer gab es ein Schild mit einem Totenkopf darauf, schwarz auf gelbem Grund, oder einem kurzen, gezackt hinabfahrenden roten Blitz. Darunter stand:

Lebensgefahr! Zutritt verboten!

Die Angst, die von diesen Schildern ausging, war angenehm prickelnd. Manchmal brummte es in diesen Trafokästen, und dieses Geräusch steigerte die Erregung noch. In diesem Gedicht wird das „trafohaus“ sehr genau beschrieben: „aus hartgebrannten ziegeln“, „ohne fenster“, mit einer „tür aus stahl“, Dadurch wird es, auch in der Vorstellung des sich erinnernden Lesers, zu einem magischen Objekt. 43 Kabel kommen aus der Luft in dieses Haus, 43 Anschlüsse scheint es in diesem Dorf zu geben, 43 Stromzähler, 43 Geschichten? Sie alle enden in diesem Trafohaus oder fangen in ihm an.
Lutz Seiler hat in einigen luziden, gedanklich unnachgiebigen Essays zu den Entstehungsumständen seiner Gedichte Stellung genommen, die oft mit seiner Herkunft aus einem ostthüringischen Dorf zu tun haben. Er schreibt, daß Gedichte in einer Zeit, „in der nichts von ihnen zu sehen war, ihren Stoff, ihr Material zusammengetragen und aufbewahrt hatten, die offenbar aus dieser Zeit kamen“. Auch dieses Gedicht muß bei Lutz Seiler schon damals unterwegs gewesen sein, damals, als er am Sonntag nicht in die Kirche ging, sondern mit seinem Vater eine Garage aufsuchte, wo er ein Motorrad und der Vater ein russisches Auto liebevoll pflegten und kleine Mängel reparierten. Nachzulesen ist diese Episode in einem Essay, der den gleichen Titel wie unser Gedicht trägt, „Sonntags dachte ich an Gott“, und – ausgehend von diesem Text – einige Geschichten erzählt, die mit diesem Gedicht selbst unmittelbar nichts zu tun haben.
Denn das ist das Eigenartige an diesem Gedicht: Es schafft vom ruhigen narrativen Beginn aus bei wiederholtem Lesen einen Resonanzboden, auf dem vieles gleichzeitig, auch unbenannt und ungesichert, sich ereignen kann. In welche Stadt fährt der Autobus? Warum steht das Trafohaus direkt neben dem Löschteich? Damit ein Brand, ein Funkenregen gleich erstickt werden kann? Es ist verdammt ruhig in diesem Gedicht, doch so, als gäbe es gleich Stromschläge, schmorende Kabel, Entladungen, Katastrophen. Erst in der Schlußzeile wird dies zurückgenommen.
Dieses Gedicht steht in dem zweiten Gedichtband von Lutz Seiler, pech & blende, der ihn im Jahre 2000 mit einem Schlag sehr bekannt gemacht hat. Es ist das kürzeste und – was Rhythmus, Melodik und Satzbau betrifft – auch eines der einfacheren Gedichte in diesem Buch. In dem schon erwähnten gleichnamigen Essay spricht Lutz Seiler von einem Gefühl, das sich beim Lesen oder Hören von Gedichten einstellen kann.

es wurde einem etwas erzählt, man ist nur nicht in der Lage, eindeutig zu sagen, was es war, denn es war vieles gleichzeitig. Der Hallraum eines Gedichts sollte nicht kleiner sein als der eines Romans.

Die Kabel verbinden gleichsam verschiedene narrative Stränge, sie weiten das Gedicht.
In dem „trafo“ in einem Nest aus Kabelenden sitzt Gott. Er ist der Schöpfer. Er ist Synonym für Elektrizität. Aber er schläft. Das paßt zum Sonntag, denn Sonntag ist Ruhetag nach der Schöpfung. Seiler teilt uns mit, daß Gott schlief oder lachte. Aber auch das Lachen ist etwas, das gut zu einem Ruhetag, zu Entspannung paßt. Irritiert uns, daß Gott „unendlich klein“ ist? War Gott in einer DDR-Kindheit, in einer total säkularisierten Jugend eine Ouantité négligeable, eine Winzigkeit, eine Harmlosigkeit? Oder paßt in ein Trafohäuschen einfach kein großer Gott? Es klingt so, als fordere uns Lutz Seiler auf, selbst das Ohr an die Stahltür zu legen. Dann hören wir das Surren, Lachen oder Schnarchen. Das Übertretungsverbot schwindet dahin. Wir öffnen die Tür und treten in das Gedicht.

Joachim Sartoriusaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreißigster Band, Insel Verlag, 2007

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