– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Eine Art Verlust“ aus Ingeborg Bachmann: Werke I. –
INGEBORG BACHMANN
Eine Art Verlust
Gemeinsam benutzt: Jahreszeiten, Bücher und eine Musik.
Die Schlüssel, die Teeschalen, den Brotkorb, Leintücher und ein Bett.
Eine Aussteuer von Worten, von Gesten, mitgebracht, verwendet, verbraucht.
Eine Hausordnung beachtet. Gesagt. Getan. Und immer die Hand gereicht.
In Winter, in ein Wiener Septett und in Sommer habe ich mich verliebt.
In Landkarten, in ein Bergnest, in einen Strand und in ein Bett.
Einen Kult getrieben mit Daten, Versprechen für unkündbar erklärt,
angehimmelt ein Etwas und fromm gewesen vor einem Nichts,
(– der gefalteten Zeitung, der kalten Asche, dem Zettel mit einer Notiz)
furchtlos in der Religion, denn die Kirche war dieses Bett.
Aus dem Seeblick hervor ging meine unerschöpfliche Malerei.
Von dem Balkon herab waren die Völker, meine Nachbarn, zu grüßen.
Am Kaminfeuer, in der Sicherheit, hatte mein Haar seine äußerste Farbe.
Das Klingeln an der Tür war der Alarm für meine Freude.
Nicht dich habe ich verloren,
sondern die Welt.
Dies ist ein Gedicht an und gegen Max Frisch. Vier Jahre lang, von 1958 bis 1962, waren die beiden das Traumpaar der deutschen Literatur. Sie, die Magische, er, der Kritische: Wie außer ihnen nur noch Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir prägten Ingeborg Bachmann und Max Frisch die Vorstellungen ihrer Zeitgenossen von der kongenialen Gemeinschaft hochmögender Geister. Aber die Legende, die sie verkörperten, hatte auch einen Alltag – und der Mythos, den sie lebten, mündete in ein Drama der Hörigkeit und der Eifersucht. „Das Ende“, notierte Frisch in der Erzählung „Montauk“ von 1975, „haben wir nicht gut bestanden, beide nicht.“
Das Gedicht „Eine Art Verlust“, 1962 entstanden, 1967 von der Dichterin im Hörfunk gelesen und 1978 in der postumen Werkausgabe erstmals gedruckt, unterrichtet über dieses Ende aus ihrer Sicht – und doch ganz in seinem nüchternen, betont lakonischen Stil. Jedenfalls verzichten die sechzehn Verse völlig auf den ausgreifenden, beschwörenden, hochfahrenden, kurz: den unbedingten Ton, der die Poesie der Bachmann sonst so unverwechselbar kennzeichnet. Deshalb sind sie einzigartig in ihrem Werk. Höchst sachlich zieht das Gedicht Bilanz, macht Inventur.
Bereits der Titel gibt sich seltsam unbeteiligt, schafft Distanz zur Katastrophe, die er anzuzeigen hat. Das einst Verbindende wird dann schlicht aufgereiht. Nur ein genuin poetisches Bild erlauben sich die ersten Zeilen, jene „Aussteuer von Worten, von Gesten“, die das Paar – ohne Hochzeit, aber in seiner hohen Zeit – sich selbst bescherte. Den ersten vollständigen Satz gibt es erst zu Beginn der zweiten Strophe. Mit ihm meldet sich auch ein „Ich“ zu Wort: müßig übrigens, hier zwischen lyrischer und autobiographischer Rede zu unterscheiden.
Nichts Dunkles an dieser Dichtung scheint zur Deutung zu nötigen. Kein weiterer Sinn etwa ergäbe sich, wenn man das „Wiener Septett“ als Ludwig van Beethovens Es-Dur-Septett (opus 20) identifizierte, kein zusätzliches Signal, wenn man den „Strand“ in Ostia vermutete: Rom war der Ort dieses Paars. Und die Frömmigkeit „vor einem Nichts“ erklärt, in Klammern, die folgende Zeile gleich selbst.
Unüberhörbar indes eine allmähliche Steigerung der Emphase, ein Wachsen der Trauer im Erinnern zurückliegender „Freude“. Ästhetische Erleuchtung wird beschworen beim Blick auf den See, imperiale Phantasie gibt sich kund beim Grüßen vom Balkon, eigener Schönheit im Schein des Kaminfeuers wird gedacht: Diese Liebe, deren Zeichen die Dichterin nun inventarisiert, war jüngst noch sehr groß und sehr erhaben. Erhaben bis zur befreienden Blasphemie:
denn die Kirche war dieses Bett.
Ein ungeheuerliches Bild, vorbereitet durchs Benennen des Betts im zweiten und sechsten Vers, nun gesteigert zum heiligen Raum einer „Religion“ der Erotik und der Sexualität, „furchtlos“ überdies – den krassen Gegensatz zeigend zum Katholizismus Kärntner Provenienz, dem die Bachmann entrann.
„Eine Art Verlust“ kündet in Wahrheit von einem totalen Debakel. Weil sie nur diese Summe ziehen können, sind die beiden letzten Verse ganz kurz. Und weil sie sich gegen die totale Verzweiflung wehren, schließen sie vom Verlust just jenes aus, das ihn bewirkte: Das verlorene Du, die eigentliche Welt. In seiner gesteigerten Sachlichkeit ein ergreifendes Poem.
Jochen Hieber, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999
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