Jochen Jung: Zu Thomas Rosenlöchers Gedicht „Echo“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Rosenlöchers Gedicht „Echo“ aus Thomas Rosenlöcher: Am Wegrand steht Apollo. –

 

 

 

 

THOMAS ROSENLÖCHER

Echo

Wo ich bin knarren die Föhren.
Wo nicht rauscht in ihnen das Meer.
Folg ich dem Rauschen kommt Knarren.
Dort wo es rauscht kam ich her.

 

Das Geheimnis all unserer Unruhe

Vier Verse, die simpler kaum sein können. Und kaum vertrackter. Ihr Takt ist wie ein leichtes Stolpern, obwohl vorher alle Kommata aus dem Weg geräumt wurden. Das „O“ im ersten Wort jeder Zeile klingt zwar wie ein kleiner Gong, sonst aber hat das Ganze gar nichts Feierliches, und würde sich da nicht etwas reimen, käme man vielleicht nicht einmal auf den Gedanken, diese Zeilen überhaupt Verse zu nennen.
Aber so einfach auch immer das Gedicht daherkommt, gleich spürt man, daß dies eine Lebensstrophe, ein Lebensspruch ist, einleuchtend auf den ersten Blick. Aber schon auf den zweiten wirkt es wie ein seltsamer Strudel, dessen Sog einem kaum erklärbar scheint. Jemand macht einen Spaziergang durch einen Wald von Föhren, hohen, schwankenden Gestalten. Die stehen, das sagt uns das schmale Buch, in dem dieses knappe Gedicht sich findet, bei Wiepersdorf, dem Schloß der Arnims, von wo aus Achim die Briefe und Lebensmittelsendungen nach Berlin geschickt hat, zu Bettina, seiner Frau, und den gemeinsamen Kindern.
Sah es nicht eine Weile so aus, als wäre Rilke der letzte Dichter gewesen, der sich auf Schlössern einquartieren durfte? Inzwischen aber haben fast alle Schreibenden die Gelegenheit, in Villen, Burgen oder eben Schlössern Quartier zu nehmen. Man nennt sich writer in residence und kann sich auf Fristen und Dotierungen verlassen. Schloß Wiepersdorf ist da eine der einladendsten Möglichkeiten, und die hat auch Thomas Rosenlöcher genutzt. Dresdner des Jahrgangs 1947, war ihm die Vorstellung, in einem Schloß zu wohnen, gewiß immer eher ein Witz als ein Wunsch. Um so mehr aber hat ihn ganz offensichtlich der Aufenthalt dort herausgefordert: der Park mit seinen Figuren aus Göttergips und die Gegenwärtigkeit des Arnimschen Paares und seiner Geschichte, dagegen wehrt man sich und davor hat man Respekt, beides so gut man kann.
„Wiepersdorfer Tagebuch“ hat Rosenlöcher diesen Band untertitelt, aber so flüchtig notiert darin manches wirkt (und gerade das Erzielen dieser Wirkung gehört ja zum Schwersten), die überall präsenten Verweise auf vergangene und vergängliche Kultur haben ihn nachdenklich gestimmt und auf sich selbst verwiesen. Und da führt dann selbst ein harmloser kleiner Spaziergang auf einmal mitten in das Geheimnis all unserer Unruhe, die ja keinen anderen Grund hat als den, daß da, wo wir sind, nicht der Ort ist, wo wir sein wollen, und dort, wo wir sein wollen, nicht vor uns, sondern schon hinter uns liegt.
Wie ließe sich wohl die tägliche Unbill umstandsloser vertonen als durch das ewige Knarren von Bäumen, wie unsere Sehnsucht überwältigender als durch das Rauschen des Meeres. Und daß hier das Rauschen und das Knarren in denselben Bäumen aufklingt, aber echohaft zeitversetzt, und daß wir, die ewig Gefoppten, auf ewig dem herrlichen Rauschen nachhorchen, ja -laufen, das heißt wohl, einen komplexen Sachverhalt in ein einfaches Bild gebracht zu haben, mit anderen Worten: zu dichten. Was aber, andererseits, wäre, wenn sich unsere Sehnsucht erfüllte? Ach, schönster Konjunktiv, Seelen- und Herzensspeise – wehe, wir kämen dort an, wo wir hinmöchten. Wehe, wir würden wieder Kind, alles wär wieder gut, und alles begänne aufs neue. Wir wären womöglich – Gott behüte – auf ewig glücklich. So aber bleiben wir Mensch.

Jochen Jung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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