Jürgen Engler: Zu Adolf Endlers Gedicht „Läusesuchen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Adolf Endlers Gedicht „Läusesuchen“ aus dem Band Adolf Endler: Akte Endler. –

 

 

 

 

ADOLF ENDLER

Läusesuchen

Ich streck die Zunge, meine Finger anzufeuchten.
Du setzt dich unter hellste Lampen, senkst den Kopf.
Ich faß die güldne Spange, zieh sie aus dem Zopf.
Das Licht entrollt dein Haar und läßt es brandrot leuchten.

Ich such nach deinen Läusen, streichelnd deine Wange,
Im schmalen Strich des Scheitels hinterm Muschelohr.
Ich fang, zerknack sie, wink sie scharenweis hervor
Mit feuchten Fingernägeln; zwei sind eine Zange.

Wie schön, wie herzschlagstockend schön: nach Läusen suchen!
Du zeigst den heiligen Hals, als würdest du gehenkt.
Du wirst begnadigt. Ich, der Henker, abgelenkt,
Fang deine Läuse wie Rosinen aus dem Kuchen.

Ich zähle dreizehn, zweiundzwanzig, fünfunddreißig,
Und du zählst hitzig mit und fragst: Schon wieder drei?
Ich zähl die Laus, das Läusekind, das Läuseei.
Die schlimme Zählwut macht mich grausamer und fleißig.

Ich such nach deinen Läusen, ach, wo ist die eine,
Die letzte listigste der großen Läusebrut?
Dein rotes Haar erglänzt wie viele Tropfen Blut.
Ja, deine Läuse fing ich dir. Jetzt fängst du meine.

 

Die Geburt des Gedichts aus dem Geist der Zählwut

„Läusesuchen“ ist ein so seltsames wie grandioses Liebesgedicht. Ein Paar im höchst intimen Beieinander. Sonst nichts auf der Welt. Bis auf die Läuse, die „große Läusebrut“. Die Hingabe gilt der Geliebten, ihrer Befreiung vom Geziefer. Ein Liebesdienst, der Gegenseitigkeit verspricht. Welch harmonische Gemeinsamkeit, wäre da nicht unheimlich eine orgiastische Grausamkeit im Spiel, die mit den Läusen als Ersatzopfer für Henkersgelüste vorliebnimmt. Zunächst? Brandrot, blutig glänzt das Haar.
Ein Gedicht des Rimbaldisten Endler, Gegenstück zu Arthur Rimbauds „Läusesucherinnen“. Wie dieses zählt es fünf Strophen, ist mit strengem Wechsel von männlichen und weiblichen Reimen in jambischen Sechshebern geschrieben, die ihre Herkunft vom Alexandriner erkennen lassen. Mit seinen schmückenden Attributen („güldne Spange“, „heiliger Hals“) und preziösen Details („Muschelohr“) ruft es eine Tradition edlen poetischen Ausdrucks auf, die durch ihre Inanspruchnahme für die Schilderung des Läuseknackens zugleich düpiert wird.
Ein leidenschaftliches, ein fiebriges Gedicht: Das Jagdfieber hat ihn gepackt, und der Knacker wird nicht eher Ruhe geben, bis er die letzte Laus zur Strecke gebracht hat. Das nun mutet als schiefes Bild an, aber so ganz schief ist es nicht: Wer zählt, Laus für Laus, bewegt sich auf einer Zahlenstrecke. Der „schlimmen Zählwut“ begegnen wir nicht nur in diesem Gedicht. Mal mehr, mal minder heftig ist sie in nicht wenigen der Texte Endlers am Werke. Er selbst gibt den Hinweis: „Du nimmst mein Heft, im Zwang der Zahl geschrieben…“, heißt es im Gedicht „An K.“.
Der Dichter hat also nicht nur ein Faible für genaue Zeitangaben – ja, das ist Realismus im Gedicht! –, sein „Erzählen“ speist sich darüber hinaus aus dem Zählen und Aufzählen – wütender Versuch, der Welt mit ihren freilich nicht nur zahlreichen, sondern unzähligen Erscheinungen Herr zu werden. Bewegt sich der Poet bei der „Wirtin am Feuchten Eck“ oder am „Ende einer Tour“ mit dem Zählen der Fliegen auf dem Fliegenfänger bzw. von Druckfehlern noch sehr im niederen Zahlenbereich, so berichtet der Kompaniekochgehülfe in seinem „Lied“ schon von 2357 Kartoffeln, denen er die Augen ausgestochen hat, und steigert sich der „Schrecken“ im frappanten Vierzeiler, der uns Hegels „schlechte Unendlichkeit“ als langen Gang der Bürokratie erfahrbar werden läßt:

Im Wartezimmer, als das rote Lämpchen aufglüht
Und eine Mädchenstimme streng befiehlt: „Frau Schulz in Zimmer zwei!!
In Zimmer zwei, Frau Schulz!! In Zimmer hunderttausend-
Vier Kollege Endler – – –“

Und weiter geht’s mit der „Stadt der Ratten“ – „Einwohner zählt sie hundertmalachthunderttausend“ („Ja geh“). Ehe mich die Zählwut gänzlich ansteckt und ich alle Beispiele von Endlers Zähl-Werk aufliste, die Lesart zur Zählart verkommt, breche ich ab.
Doch ein Meisterwerk von Endlers Zähl-art muß genannt werden: „Das Lied vom Fleiß“, das der Dichter in poetischem Furor mit fünfzig Doppelreimen auf hundert Zeilen treibt, eine Schöpfung, die ihn erschöpft zurückläßt. Könnte die „Zählwut“ gar eine Metapher für dichterisches Allmachtsstreben und für die Omnipotenzsucht dessen sein, der die Welt ganz in Verse bringen will? Wer von ihr befallen ist, ob er nun Möbel, Löffel oder Verse zählt, will die Welt in Besitz nehmen, sich ihrer und seiner sicher sein. Endler ist ein Wortesammler, und wenn sie sich noch dazu reimen und er – ist die Reim- nicht der Läusesuche vergleichbar? – neue, überraschende Reime findet, triumphierend wie Cyrano de Bergerac in Rostands Schauspiel – dann ist das fürstliche Hochgefühl des Poeten wohl nur mit dem des Läusesuchers zu vergleichen. Strophen und Gedichten mit nur wenigen Reimen, gar einem Reim gilt erst recht Endlers „Zählwut“, sie gehören zu den Meisterstücken der Reimkunst: Je unwahrscheinlicher es ist, daß noch einer gefunden wird, desto größer ist der Erfolg. Das Gedicht als Ordnungsmacht: die chaotische Welt der Erscheinungen, die anflutenden Bilder, Details, Tatsachen werden durch Versmaß und Reim – wie sehr ist doch Dichten Skandieren, also Zählen! – zur Ordnung gerufen. Solange man dichtet, solange man zählt, lebt man. Doch gerade durchs Zählen wird man der Vergänglichkeit inne. Das Vanitas-Gedicht „Des Freundes Wettlauf mit dem Schneemann“ weiß davon. Im Zählen läuft die Zeit ab. Die Zahl, das Nun und Jetzt, ist der Zeitpunkt, durch den Zukunft Vergangenheit wird. Was zählt der Triumphgesang des Zählens? Immer ist er zugleich ein Abzählen, ein Abgesang.

neue deutsche literatur, Heft 486, Juni 1993

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