Jürgen Engler: Zu Rafael Albertis Gedicht „Weiß“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rafael Albertis Gedicht „Weiß“ aus dem Band Rafael Alberti: An die Malerei. –

 

 

 

 

RAFAEL ALBERTI

Weiß

I
Es sprach das Weiß: Ich kann
glückselig sein in allem, denn ich bin
das Blut, unumgänglich für das wahre
Leuchten des Lichtes in den Farben.

II
Meine Geschichte, uralt, ist die Wand. Willst du
erstaunen vor mir;
erquick die Augen an ihrer gespannten Stirn.

III
Das erstaunliche verblüffende Säulen-Weiß.

IV
Weiß von Kreta, gedämpft und warm,
reflektierend und bläulich fast.

V
Weiß wie Schnee, weiß wie
Papier, weiß weiß
wie der Kalk in der Sonne
der stillen andalusischen Mauern.

VI
Ich – Rafael Alberti – sah
im landläufigen Weiß des Volkes: das Licht.

VII
Meine Kindheit war ein Geviert
aus frischem Kalk, lebendigem
Kalk mit meinem einsam fröhlichen Schatten.

VIII
Weißes Silber-Cadiz in meiner Erinnerung.

IX
Ich bin des allerreinsten Kalks Geschöpf.

X
Ich fürchte das Schwarz. Es fürchtet
das Schwarz sich vor mir. Die Nacht
hat Furcht vor dem Tag.
Der Tag vor der Nacht.

XI
Wenn mich der Pinsel erwählt, erschaure ich
wie des Auges Kristall, das ein unsichtbares
verirrtes Haar berührt.

XII
Unter den Farben bin ich der beste Maurer.

XIII
Eine Zeile auf mir,
eine Letter: Ein unvergeßliches Wunder!

XIV
Eine Zeile, ein Buchstabe,
mit weißer Kreide ein Strich nur
auf der glatten stummen Nächtlichkeit der Schiefertafeln.

XV
Ich singe vor allem im lichten
Anfangsgrün des Frühlings.

XVI
Morgengebet:
aaaaaaaaaaaaaVerleih mir die Gnade,
Fra Angelicos Blau himmlischer noch zu machen
und in noch zarterer Blässe sein Rosa.

XVII
Und plötzlich gleite ich nieder als Gewand oder Wolke.

XVIII
Zuweilen bin ich des Füllens schwingende Wölbung
gegen das grenzenlose Blau.

XIX
Jener – Ucello – alter Vogel,
gestorben im Spinnennetz der Perspektive,
ließ mich hervorbrechen in Pferdegestalt.

XX
Und herrlicher noch und mehr als Architektur:
Piero della Francesca.

XXI
Wogenschaum, hinrasender.

XXII
Decke bin ich, Morgendämmern, schneeiges
Spitzenwerk im Kristall des Frostes.

XXIII
Und auf mancher Leinwand flüchtige weiße Taube.

XXIV
Gespinst des willfährigen Gürtels der Venus,
Bettuch für die Formung ihrer Gestalt.

XXV
Hauben-Weiß, straffgeschnitten,
bäuerliches Schnee-Weiß Breughels.

XXVI
Gespenster-Weiß, Weiß der Verzückung.

XXVII
Halskrausen-Weiß weiße Flamme El Greco.

XXVIII
Ich erscheine im Traum als Ordenskleid,
als Elfenbeinschatten
von Schüssel – Zurbarán –, Kutte oder Mönch.

XXIX
Immer bereit, des Schattens
verborgene Mitte zu treffen.

XXX
Am Ende werde ich das üppige Gold durchdringen
die überquellende Schlehe jenes Haars.

XXXI
Ich durchsonne, helle auf, ich trübe,
löse auf, mache transparent,
ich wasche fort, verflüchtige, verdunste
(Manet, Sisley, Monet,
Pissarro, Renoir…)

XXXII
Reines absolutes Weiß, gefangen aber
in einem Rechteck, einem Quadrat, in einem Kreis.

XXXIII
Denkt daran, daß ich auch Rose bin.

Übertragen von Erich Arendt und Katja Hayek-Arendt

 

Augen-Blicke. Zum lyrischen Aphorismus

Das Gedicht „Weiß“ entfaltet in dreiunddreißig Bild-Gedanken eine lyrische Phänomenologie der Farbe Weiß. Die Farbe kann nicht an sich, sondern nur an und in den Erscheinungen sichtbar werden; der Dichter bietet seine „Farbenlehre gleichsam in Miniaturen dar, die – mit der Art der Aufnahme bildender Kunst korrespondierend – auf einen Blick zu erfassen sind. Das Gedicht entstammt dem 1945 bis 1952 entstandenen, Pablo Picasso gewidmeten Poem „An die Malerei“. Dieses „Poem von der Farbe und der Linie“, wie es im Untertitel heißt, ist aus einer Vielzahl von Gedichten gebildet, die in gebundenen Strophen, freien Rhythmen und lyrischen Aphorismen die Malerei preisen. Thematisch sind in Albertis lyrisch gestraffter Geschichte der Malerei drei Gruppen zu unterscheiden: Odenhafte Huldigungen an die großen italienischen, spanischen, deutschen, holländischen, flämischen und französischen Meister von der Renaissance bis zum zwanzigsten Jahrhundert; Sonette, die die Elemente, Wesenheiten und Techniken der Malerei besingen; schließlich lyrische Variationen über die Primärfarben.
Der lyrische Aphorismus zeichnet sich durch Sinnlichkeit ebenso aus wie durch Präzision, er ist der absolute Feind poetischer Beliebigkeit und bloßer Rhetorik. Deshalb wird in der Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder auf ihn zurückgegriffen. Giuseppe Ungaretti und Salvatore Quasimodo fanden in ihm eine ihrem Hermetismus gemäße Ausdrucksweise. Ezra Pound und Wallace Stevens, Guillaume Apollinaire, René Char und Eugène Guillevic gebrauchten ihn. Paul Eluard gab in seinem Gedicht „Der Sieg von Guernica“ bündige Auskunft darüber, wo die Poesie steht:

Parias der Tod die Erde und das Häßliche
Unserer Feinde haben die eintönige
Farbe unserer Nacht
Wir werden siegen.

Und eben Rafael Alberti, zu denjenigen gehörend, die die Revolution der Poesie vorantrieben, da sie die Poesie der Revolution vernahmen, ist ein Meister dieser Ausdrucksform, beispielsweise in seinem großen Gedicht „Arion. Ungebundene Verse über das Meer“.
In der Lyrik der DDR spielt der lyrische Aphorismus kaum eine Rolle, das Kurzgedicht, Brechts „Buckower Elegien“ beispielsweise, speist sich eher aus der epigrammatischen Tradition. Sicher wäre es falsch, die gleichsam aphoristische Prägnanz des Epigramms zu verkennen, künstlich Grenzen zwischen den Ausdrucksformen zu errichten, doch sind wohl, im Hinblick auf das Kurzgedicht, unterschiedliche Traditionen nicht zu übersehen. Einige Beispiele betont aphoristischer Ausdrucksweise gibt es in unserer jüngsten Lyrik, Hanns Cibulkas „Variationen über den Wind“ aus seinem Band Lichtschwalben seien genannt. Richard Pietraß präsentiert in seinen Bänden Notausgang und Freiheitsmuseum Muster knapper lyrischer Definitionen menschlichen Seins. Aber das sind Ausnahmen.
So verwundert es nicht, daß der Begriff ungebräuchlich ist. Mir erscheint er als Bezeichnung einer spezifischen Ausdrucksweise sinnvoll. Was also ist ein lyrischer Aphorismus? Unter einem Aphorismus wird gemeinhin die – paradoxe – Äußerung eines überraschenden Gedankens verstanden. Die Überraschung ist Kennzeichen auch des lyrischen Ausdrucks. Die Metapher ist der plötzlich erscheinende Lichtbogen zwischen zwei Vorstellungspolen. Wenn in einer etwas manierierten Metapher ein Bächlein als „Silberschatz der Schublade des Tals“ (Saint-Pol Roux) aufglänzt, dann kann sie geradezu als lyrischer Aphorismus gelten. Doch hieße es Überraschung als Aufsprengen des Vertrauten allzu eng zu verstehen, ließe man sie allein der Analogiemetapher entspringen. Albertis Gedicht verzichtet gerade weitgehend auf diese Metaphernform, wohl aber verleiht er personifizierend dem Weiß Gestalt, und es wird beschworen durch die Nennung weißer „Erscheinungen“:

Wogenschaum, hinrasender.

Allein die Heraushebung einer Erscheinung aus der Fülle des Seins überrascht hier, diese Hervorhebung verleiht ihr besondere Bedeutung – der Leser wird dazu angehalten, sein inneres Auge ganz auf die evozierte Erscheinung zu richten. Ist es ein Kennzeichen vieler Gedichte, daß sie von überraschenden Bild-Gedanken durchwirkt sind, so ist der lyrische Aphorismus die Isolierung solchen Bild-Gedankens, dem auf diese Weise Eigenständigkeit verliehen wird. Eher als eine fragmentarische Notiz stellt der lyrische Aphorismus einen auf seine Weise vollendeten Bild-Gedanken vor – eine Bildformel, die lyrisch-definitorische „Beschreibung“ eines Phänomens –, und er gerät so in die unmittelbare Nachbarschaft des japanischen Haiku.
Die Herkunft des lyrischen Aphorismus könnte nur in einer umfassenden Studie ermittelt werden. Sicher speist er sich in starkem Maße aus einer poetischen Tradition, wie sie sich bis zu Edgar Allan Poe zurückverfolgen läßt, der zuerst den Poeten als Technologen feierte. Baudelaire, ganz im Banne Poes, hielt die Phantasie für „die wissenschaftlichste aller Fähigkeiten“. Künftig erscheint der Dichter immer wieder als eine Art literarischer Ingenieur, der der romantisch-rhetorischen Kundgabe des Subjekts den gleichsam unpersönlichen Kalkül, den kühl geplanten Effekt entgegenhält. Magie und Mathematik sollen eine Hochzeit eingehen – ein verzweifelter Versuch, der Poesie in einer bürgerlich-prosaischen Welt Strenge und Würde zu verleihen.
Die französische Poesie übte auf die spanische und später die lateinamerikanische Lyrik einen mächtigen Einfluß aus. Zugleich leistete die spanische Dichtkunst einen eigenständigen Beitrag zur Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Der sogenannten Generation von 1927, zu deren hervorragenden Vertretern Rafael Alberti gehört, ging die Generation von 1898 voraus. Zwischen diesen Zäsuren tritt Ramón Gómez de la Serna auf die literarische Bühne, der Erfinder der Greguería. Ein Beispiel:

Das Licht ist wie eine nackte und sorgsam enthaarte Frau.

Der Romanist Werner Krauss schreibt in seiner glänzenden ideologiegeschichtlichen Untersuchung „Spanien 1900–1965“:

Die literarische Waffe zur Auflösung aller Zusammenhänge – mochten sie nun logisch verknüpft sein oder rhetorisch gebunden oder durch die Konvention eines Stoffes gefügt –, das ist die Greguería, das Prinzip der Atomisierung, Ramóns ureigener Fund.

Sicher liegt hier eine Quelle lyrisch-aphoristischer Ausdrucksweise der spanischen Dichter.
Aber die Wurzeln dieser Ausdrucksform reichen wohl tiefer. Das Volkslied, dessen poetische Formeln und Bilder sich im Laufe der Jahrhunderte in unübertrefflicher Einfachheit und Präzision herausbildeten, war lebendiges Vorbild für die spanischen Poeten in ihrem Streben, alles Überflüssige zu vermeiden. Darüber hinaus kann man den lyrischen Aphorismus Albertis in engsten Zusammenhang bringen mit dem andalusisch-mediterranen Daseinsraum, dessen klares Licht die Konturen der Dinge kräftig hervortreten läßt. Nach Deutlichkeit zu streben heißt nicht, auf den Ausdruck von Stimmungen und Gefühlen zu verzichten, jedoch, sie gleichsam wie Dinge zu behandeln.
Die Einheit unseres Gedichts wird nicht allein dadurch garantiert, daß die lyrischen Aphorismen dem gleichen Gegenstand gelten, vor allem gerät dieser als geschichtlicher in den Blick. Der erste Aphorismus – „Es sprach das Weiß…“ läßt den Beginn der biblischen Schöpfungsgeschichte assoziieren, weiter ist die Geschichte des Weiß die Geschichte häuslichen Sich-Einrichtens des Menschen in der Welt (II), der menschlichen Zivilisation, wie sie vom antiken Griechenland aus ihren Aufstieg nahm (III und IV).
Die Lebensgeschichte des 1902 in der andalusischen Hafenstadt Puerto de Santa María bei Cádiz geborenen Dichters leuchtet auf, und über die äußere hinaus erfahren wir zugleich die innere Biographie des Poeten und wieder darüber hinaus ein Kapitel Kultur- und Kunstgeschichte. In seinen Erinnerungen „Der verlorene Hain“ spricht Alberti vom unauslöslichen Eindruck, den im Madrider Prado-Museum die Gemälde Tizians in ihm hervorriefen:

Mehr als jeder andere bestätigte er mir durch seinen ausgeprägten Sinn für das Helle endgültig, daß meine Wurzeln hinabreichten in die Zivilisationen des Blau und Weiß, der Farben, die ich schon als Kind in mich aufgenommen hatte, Farben der Häuserwände, Tür- und Fensterrahmen der Städte meiner Bucht, die überschattet sind von jenem durchsichtigen Blau, das herkam von den Fresken Kretas, durch Italien strömte und das ganze spanische Mittelmeergestade bis zu den Städten der Provinz Cádiz am Atlantik übergoß und weiter durch Huelva bis hinauf zur Grenze Portugals floß.

Und so durchströmen dieses Gedicht wie das Poem überhaupt „Erinnerungen quer durch die Farben“, um den charakteristischen Titel eines Gedichts aus der Sammlung Erinnerungen des in der Ferne Lebenden zu zitieren. Denn der Kommunist Alberti mußte nach Francos Machtergreifung ins Exil gehen; erst 1977 konnte er in sein Heimatland zurückkehren. Die Erinnerungen an der Kindheit „Geviert aus frischem Kalk“ sind sehnsüchtige Reminiszenzen an die andalusische Heimat: Bekenntnis zum Volk, zum „landläufigen Weiß“. Und im zehnten Aphorismus heißt es:

Ich fürchte das Schwarz. Es fürchtet sich das Schwarz vor mir.

Man lese hierzu auch das Gedicht „Schwarz“ des Poems, um der schmerzlichen Antagonismen innezuwerden, wie sie die spanische Historie prägen. In den Erinnerungen wird Goyas Spanien als „ungeheure Stierarena“ bezeichnet, „schroff in zwei Farben unterteilt: Schwarz und Weiß. Weiß der Sonne und der üppigen Kraft. Tiefes Schwarz des Schattens, des schwarzen, geronnenen Blutes.“ In diesem Kontrast, im weiteren Spektrum der Farben des Poems werden nationale Geschichte und Kultur Spaniens zur Anschauung gebracht.
Mit einer Jahreszahl ist das große Eingangsgedicht des Poems überschrieben: 1917. In diesem Jahr übersiedelte Albertis Vater mit seiner Familie aus Puerto in die spanische Hauptstadt. Und im Prado erschien Rafael Alberti die Göttin Malerei in leuchtender Aureole. Im „Verlorenen Hain“ erinnert er sich:

Ich habe noch nichts von der Überraschung gesagt, die ich in unserem wunderbaren Museum bei meinen ersten Besuchen erlebte. In meiner kleinen andalusischen Stadt war ich nur die schlechten Farbdrucke gewohnt gewesen und einige Landschaften aus der Schule des Velázquez im Hause meines Großvaters, und ich hatte daher gedacht, die alte Malerei sei nur dunkel, voll brauner Erdigkeit, unfähig zum Blau, Rot, Rosa, Gold, Grün und Weiß, zu all den Farben, die sich mir nun plötzlich bei Velázquez, Tizian, Tintoretto, Rubens, Zurbarán und Goya offenbarten…

Albertis Poem gilt einer verlorenen Liebe. Denn ehe er seine Kräfte der Dichtkunst widmete, war er auf dem Weg, Maler zu werden: Unablässig zeichnete und malte er, stellte erstmals, er war damals achtzehn, 1920 im Madrider Herbstsalon seine Arbeiten aus: So träumt er in „1917“, dem ersten Stück des Poems, einen „längst vergessenen Alberti“:

… die überwältigende, wache, todgeweihte Lust,
die Malerei zu suchen und die Dichtkunst dann zu finden,
mit dem begrabenen Schmerz, die Qualen zu begraben,
den Dichter zu gebären, da ein Maler stirbt,
sie reißen, fern von ihnen, erneut mich hin, in einem Vers
der Reue, dir, o Malerei, meine abgebrochne Liebe zu gestehn.

Albertis Huldigung der Malerei ist eine Suche nach der verlorenen Zeit: das Selbstporträt des Dichters als junger Maler. Und diese Zeit, gestaltet vorn Dichter mit der gleichen Besessenheit, mit der er vormals das Malen betrieb, aufgerufen in einer sinnlich-gedanklich pointierten Dichtkunst, ist die wiedergefundene und unverlierbare Zeit im Poem.

Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 1, Januar 1985

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