Karl Krolow: Zu Erich Frieds Gedicht „Reden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Frieds Gedicht „Reden“ aus Erich Fried: Es ist was es ist. –

 

 

 

 

ERICH FRIED

Reden

Zu den Menschen
vom Frieden sprechen
und dabei an dich denken
Von der Zukunft sprechen
und dabei an dich denken
Vom Recht auf Leben sprechen
und dabei an dich denken
Von der Angst um Mitmenschen
und dabei an dich denken –
ist das Heuchelei
oder ist das endlich die Wahrheit?

 

Suche nach der Wahrheit

Wo beginnt das Reden, das Dichten, und wo endet es bei Erich Fried? Man täuscht sich leicht. Man meint, es zu wissen, und man weiß es nicht. Es ist nicht bloße Vielseitigkeit oder die Schnelligkeit, etwas in Worte und literarisch umzusetzen: als Lyriker, Erzähler, Übersetzer. Eben dachte man noch an den Shakespeare-Übersetzer, an den Mann, der uns Dylan Thomas, T.S. Eliot, Sylvia Plath ins Deutsche übertrug, der über die „Freiheit, den Mund aufzumachen“, gedichtet hatte, ein zorniger, ein ganz und gar unbequemer und für manche aufreizender Schreiber, der auf der Suche war und warnte. Warngedichte und Liebesgedichte sind während solcher lebenslangen Suche entstanden. Erich Fried war immer ein Angefochtener, ein zu sehr und meist ein zuwenig Verstandener gewesen, einer, der Mißverständnis um Mißverständnis auf sich gezogen hatte, der gewarnt und vorgewarnt hatte und dabei seinen Unmut ausschüttete in einfach scheinenden Versen, die so einfach und so wichtig waren, daß man sie sich hinter die Ohren schreiben konnte, wenn man hören und vor allem zuhören wollte. Erich Fried war von Anfang an auf (möglichst viele) Zuhörer angewiesen. Er brauchte sie, um zu sagen, was faul war und wo die Fäulnis steckte, aber auch, was der Liebe wert, was einfach und liebenswert geblieben war. Seine Gedichte können als ständiges Zureden, Hinweisen, Mahnen verstanden werden. Es geht oft um Kopf und Kragen: für den einen und für die anderen. So ist es bei ihm seit Jahrzehnten. Er will nicht zur Ruhe kommen lassen. In seinem Kopf, im Gefühl sind ständige Unruhe. Die Einfachheit, in der er beides ausdrückt – sein „Reden“ –, ist Dringlichkeit, die keine Wiederholung scheut. Es geht schließlich ums Ganze. Fried begnügt sich nicht mit weniger.
Auch im Gedicht „Reden“ geht es um dieses Ganze und um den einzelnen, um die andere. „Reden“ ist ein Liebesgedicht und ein Gedicht auf der Suche nach der Wahrheit. Es ist jene absolute, illusionär scheinende Wahrheit, illusionär, weil sie von vielem verhindert wird: von Heuchelei, von Egoismus, von Feigheit vor sich selber, von Mutlosigkeit.
Fried hatte immer Mut. Er war manchmal schonungslos. Doch was er in diesem persönlichen Gedicht wollte, wollte er im Grunde jedesmal: „Zu den Menschen / vom Frieden sprechen“, „Vom Recht auf Leben sprechen“, „Von der Angst um Mitmenschen“ und endlich auch diesmal von jener Herausforderung, die Wahrheit heißt. Fried suchte stets nach der Herausforderung, und er selbst forderte in Gedicht und Prosa oder Aufsatz heraus: „Reden“ ist ein äußerst diskret „privates“ Gedicht, und es ist von der ersten bis zur letzten seiner elf Zeilen ein „öffentliches“ Gedicht, das die anderen, die Zeitgenossen und Mitmenschen, das Gegenwart und Zukunft meint, Recht und Unrecht, Frieden und Angst und immer wieder – im Kehrreim – das An-dich-Denken. Mehr soll hierüber nicht gesagt werden: es ist alles über die Person gesagt worden, an die hier gedacht wird: über ihre Wichtigkeit und ihre Einbezogenheit in das, was alle angeht oder doch angehen sollte.
Das Gedicht endet in einem Fragesatz. Es läßt die wichtige, entscheidende Frage offen: Was ist Wahrheit? So lautete die Pilatus- Frage. „… ist das Heuchelei / oder ist das endlich die Wahrheit?“ Es geht – wie gesagt – ums Ganze. Auch in diesem Gedicht. Erich Fried ist ein Rigorist. Er ist folgerichtig, noch in einem Text, in dem – in beinahe jeder zweiten Zeile – das Liebesgedicht durchscheint.

Karl Krolowaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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