Karl Riha: Zu Kurt Tucholskys Gedicht „Augen in der Großstadt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Tucholskys Gedicht „Augen in der Großstadt“ aus Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. –

 

 

 

 

KURT TUCHOLSKY

Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
aaaaaada zeigt die Stadt
aaaaaadir asphaltglatt
aaaim Menschentrichter
aaaMillionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupille, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Das geht dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
aaaaaEin Auge winkt,
aaaaadie Seele klingt;
aaadu hast’s gefunden
aaanur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupille, die Lider;
was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
aaaaaEs kann ein Feind sein,
aaaaaes kann ein Freund sein,
aaaaaes kann im Kampfe dein
aaaaaGenosse sein
aaaEs sieht hinüber
aaaund zieht vorüber…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
aaaaaVon der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

 

Einzelanalyse

Dieses Gedicht Tucholskys ist im Erstdruck 1930 in der AIZ, der Arbeiter Illustrierten Zeitung erschienen; als sangbares Chanson war es aber auch zum Vortrag fürs Literarische Kabarett berechnet. Zum unmittelbaren Vergleich bietet sich ein älteres, bereits vor der Jahrhundertwende entstandenes Gedicht Detlev von Liliencrons an, „In einer großen Stadt“ überschrieben. Es ist per Refrain an einen Drehorgelspieler, also einen wandernden Leierkastenmann gekoppelt, wie sie damals noch häufig auf Plätzen, in den Straßen und Hinterhöfen der Städte anzutreffen waren:

Es treibt vorüber mir im Meer der Stadt
Bald der, bald jener, einer nach dem andern.
Ein Blick ins Auge, und vorüber schon.
aaaDer Orgeldreher dreht sein Lied.

Es tropft vorüber mir ins Meer des Nichts
Bald der, bald jener, einer nach dem andern.
Ein Blick auf seinen Sarg, vorüber schon.
aaaDer Orgeldreher dreht sein Lied.

Es schwimmt ein Leichenzug im Meer der Stadt,
Querweg die Menschen, einer nach dem andern.
Ein Blick auf meinen Sarg, vorüber schon.
aaaDer Orgeldreher dreht sein Lied
.1

Drei Strophen hier und dort – freilich unterschiedlicher Länge –, einzelne, sogar wörtliche Anklänge – „treibt vorüber“ versus „zieht vorüber“, „Ein Blick ins Auge, und vorüber schon“ versus „Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick“ –, Ähnlichkeiten im Thema überhaupt, im übrigen aber markante Unterschiede, die es festzuhalten gilt! Während Liliencron die hauptsächlichen Textelemente aus der damals doch schon konventionellen Metapher „Meer der Stadt“ ableitet – man beachte die Eingangszeilen der drei Strophen mit ihren Verbvarianten „Es treibt“, „Es tropft“, „Es schwimmt“ bzw. die Metaphernübertragung „Meer des Nichts“ –, stellt Tucholsky ganz auf den Augenblicks-Moment ab, der für die Flüchtigkeit der menschlichen Beziehungen in der Großstadt steht. Auch bleibt bei ihm der Text durchgehend in der Du-Anrede und damit sozusagen didaktisch, während Liliencron gerade dadurch überrascht, daß er die beobachtete Großstadtszene auf sich bezieht, verinnerlicht: der Tod der anderen ist, rascher als gedacht, der eigene Tod.
Zwar gibt es Belege für die Anonymität und Entfremdung des gesellschaftlichen Lebens, seit die Großstadt ins Blickfeld geraten ist, doch werden sie noch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch immer wieder relativiert durch ganz gegenteilige Äußerungen, in denen das Leben in der großen Stadt als höchst informativ und anregend hingestellt wird. Friedrich Hebbel (1813–1863) zum Beispiel fühlt sich in den Straßen von Paris in eine Bibliothek von hunderttausend Bänden versetzt: Flanieren heißt für Ludwig Börne (1776–1837) Lesen.2 Aber nicht nur die großen Metropolen des Auslands, sondern auch die deutschen Großstädte der Jahrhundertmitte bieten ihren Beobachtern – wie etwa die Rund-um-die-UhrBeschreibung Berlins durch Adolf Glaßbrenner (1810–1876) zeigt3 – ein differenziertes, mit vielen sprechenden Einzelheiten gefülltes Bild. Mit dem in immer neuen Wellen sich steigernden Anwachsen der Population in diesen Zentren und ihrer zunehmenden Technisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte, zur Jahrhundertwende hin und erst recht darüber hinaus verdüstern sich die Farben nicht unerheblich. Gerade die Literatur der zwanziger Jahre – also der engere und engste literarische Umkreis Tucholskys – bietet dafür instruktive Beispiele; so etwa – stellvertretend für viele andere Werke und Werkausschnitte, die sich nennen ließen – folgender Passus aus Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz:

Die Schupo beherrscht gewaltig den Platz. (…) Der Norden ergießt sich nach Süden, der Süden nach Norden. (…) Ebenso haben viele sich nach Osten aufgemacht, sie sind den andern entgegengeschwommen, es ist ihnen ebenso gegangen (…). Das Gesicht der Ostwanderer ist in nichts unterschieden von dem der West-, Süd- und Nordwanderer, sie vertauschen auch ihre Rollen, und die jetzt über den Platz zu Aschinger gehen, kann man nach einer Stunde vor dem leeren Kaufhaus Hahn finden. Und ebenso mischen sich die, die von der Brunnenstraße kommen und zur Jannowitzbrücke wollen, mit den umgekehrt Gerichteten. Ja, viele biegen auch seitlich um, von Süden nach Osten, von Süden nach Westen, von Norden nach Osten. Sie sind so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Elektrischen sitzen. Die sitzen alle in verschiedenen Haltungen da und machen so das außen angeschriebene Gewicht des Wagens schwerer. Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln, ein ungeheures Kapitel. Und wenn man es täte, wem diente es?4

Morgens der Weg zur Arbeit – das ist der Ausgangspunkt bei Tucholsky! Vom Bahnhof aus geht es in die Stadt hinein; das Wort „Menschentrichter“ sucht die Enge des Gedränges zu bannen, das den einzelnen in seinen Sog zieht: „asphaltglatt“ hält die Assoziation der Straße wach. In diesem Geschiebe, unter „Millionen Gesichtern“ kommt es zu jenem kurzen Augenblick, der unter anderen Umständen zu intimerem Kennenlernen, zu Liebe und „Lebensglück“ hätte führen können. Doch schon ist man auseinandergerissen, „verweht“, mit dem Wind gesprochen, um sich „nie wieder“ zu sehen. Die einmalige Konstellation wird sich nicht wiederholen: die fremden Augen sind fremd geblieben…
Die zweite Strophe, die der ersten im Aufbau gleicht, verallgemeinert und modifiziert die angesprochene Situation. Vom Arbeitsalltag wird aufs Leben überhaupt und auf die „tausend Straßen“ – jetzt im übertragenen Sinn gemeint: ,Straßen des Lebens‘ – hinübergeschwenkt, und statt von möglichen Beziehungen zwischen den Menschen, die denkbar sind, sich erhoffen lassen, aber nicht herstellen, ist von ihrer raschen Vergänglichkeit, ihrer Haltlosigkeit die Rede. Der Verlust der Erinnerung ist allgemein; die Kontakte reduzieren sich auf Sekunden, und der Ablauf der Zeit ist unaufhaltsam, kein Moment läßt sich festhalten oder zurückgewinnen…
Die dritte Strophe hält die Waage zwischen konkreter Stadt- und Straßensituation und ihrer Versinnbildlichung: der „Gang durch Städte“ nimmt das „Wenn du zur Arbeit gehst“ der ersten und das „Das geht dein Leben lang“ der zweiten Strophe auf, setzt sie ineins. Und noch einmal wird der Blickkontakt in der Menge als flüchtig und letztlich vergeblich gekennzeichnet, die Entfremdung zwischen den Menschen aufzuheben: „nur für Sekunden“ und „einen Pulsschlag lang“ sind dabei identisch, nur daß eben durch die neue Formulierung das Auge direkt ans Herz gebunden, die Gefühlserwartung stärker unterstrichen wird. Insofern handelt es sich um ein Resümee! Völlig neue Aspekte eröffnet jedoch der mittlere Teil der Strophe mit seiner Freund-Feind-Differenzierung, die den bislang dargestellten und besprochenen Sachverhalt wertend spaltet. Damit gewinnt die angeschlagene Diskussion eine zusätzliche und wirklich überraschende Dimension. Was sich bis zu diesem Punkt sozusagen als allgemeine Lebensproblematik des Großstädters ausgegeben hatte, wird nun unter dem Blickwinkel antagonistischer Lebensverhältnisse beleuchtet; anders gesagt: die bis dahin scheinbar aufs Individuelle und Private eingegrenzte Lebensproblematik öffnet sich jetzt für die klassenspezifische – und damit politische – Fragestellung.
Damit kehrt Tucholsky zum Ausgangspunkt des Poems – der Eröffnung der ersten Strophe – zurück und vertieft den Bezug zur Zeitschrift, in der der Text erstabgedruckt wurde: er spricht ja den Arbeiter, der morgens zur Arbeit geht, nicht mehr allein per vertraute Szenerie und Erlebnissituation an, sondern konfrontiert ihn mit seinem spezifisch-gesellschaftlichen Charakter. Allerdings geht er nicht so weit, zumindest für die ,unteren Schichten‘ die Entfremdung des einzelnen aufzuheben, in Richtung etwa einer proletarischen Solidargemeinschaft; im Gegenteil: wie die des Feindes, bleibt ja auch die Mutmaßung des Klassenfreundes und potentiellen Kampfgenossen im Vagen, im Ungewissen. Im Zirkel der diffusen, anonymen und momentären Großstadtlebensverhältnisse wird also auch die Klassenzugehörigkeit entscheidend geprägt; mit Sicherheit hat aber der Autor, der ja als einer der wichtigsten kritischen politisch-literarischen Journalisten der Zeit zu gelten hat, auch die konkreten Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten zum Ende der Weimarer Republik im Visier, die reale Spaltung und Verunsicherung der Arbeiterbewegung: sie spricht er auf diese Weise verdeckt an und problematisiert sie innerhalb des abgesteckten Demonstrations-Horizonts.
Ein abschließender Hinweis zum Chanson- oder Couplet-Charakter des Gedichts, gewissermaßen zu seiner großstädtischen Fasson! Tucholsky hat dieses neue, in den zwanziger Jahren besonders populäre Literatur-Genre mit all seinen Ausstrahlungen einer anhaltenden Beobachtung unterzogen; er hat sich nicht nur selbst unter die Couplet- und Chanson-Autoren seiner Zeit gemengt, hat dieser Vortrags-Lyrik seinen Stempel aufzudrücken gesucht, sondern hat sich immer wieder auch analytisch und programmatisch zu dieser Form geäußert. So wandte er sich beispielsweise gegen die Zotenhaftigkeit rein unterhaltender Kabarett-Lieder. Schon 1919 forderte er – in einem so betitelten Artikel – „Politische Couplets“: noch habe Deutschland keinen wirklich großen politischen Chansondichter hervorgebracht, trotz 1848. Die Kunst des Couplets ist ein anderer Aufsatz desselben Jahres überschrieben: „Um des Couplets und der politischen Sache willen“ plädiert er für „Gesinnung“ und – was die Gestaltung angeht – fürs „feinste Handgelenk“. Besonders eindringlich befaßt er sich mit der „schwersten Kunst“, „den Refrain zu gestalten, daß er sitzt“; dabei beruft er sich – hinter Arno Holz und Frank Wedekind (1864–1918) zurück – auf französische Traditionen und speziell auf Aristide Bruant (1851–1925) als Vorbild.5
Raffinement des Refrains, Wiederholung, Variation und Abwandlung des Strophenschemas… –: die spielerisch-kunstvoll genutzten Formmöglichkeiten der Gattung tragen auch bei unserem Textbeispiel – „Augen in der Großstadt“ – nicht unwesentlich dazu bei, den beabsichtigten Effekt zu erzielen: die gesellschaftliche und politische Problematisierung einer Alltagssituation, in unserem Fall einer großstädtischen Alltagssituation, ein Umschlag ins Politische, wie er mit ähnlichen Mitteln auch in zahlreichen anderen Chanson- oder Couplet-Texten Tucholskys intendiert ist. Zum Refrain: innerhalb der jeweils vier letzten Verse jeder Strophe entsprechen sich sprachlich-rhythmisch von der Dreigliedrigkeit her die jeweils zweite und dritte Zeile; über „Braue, Pupille, die Lider“ dringt der Blick ins Auge des fremden Gegenübers ein, um sich gleich wieder zu verlieren, mit „Vorbei, verweht, nie wieder“ wird das Abbrechen des Kontakts mit Ausdrücken markiert, in denen sich der Verlust zur Endgültigkeit steigert. Die dritten Zeilen im Refrain nehmen von Strophe zu Strophe um jeweils eine Silbe zu, wodurch der Eindruck des Fortschreitens geweckt wird. Aus dem sonstigen Gleichbau der drei Strophen brechen einzig in der dritten Strophe jene zwei Verszeilen heraus, auf denen von der inhaltlichen Entwicklung des Ganzen das entscheidende Gewicht liegt:

es kann im Kampfe dein
Genosse sein.

Das eindeutigste Indiz für die Ausweitung des Themas ins Politische wird also durch einen das Textschema erweiternden Einschub, der das Auge des Lesers einfängt und erst recht beim Vortrag zwingt, einen zusätzlichen Atem zu nehmen, besonders markiert. Der apostrophierte Gegensatz der Klassen und die Interpolation auf „ Von der großen Menschheit ein Stück“ werden so – per Auffälligkeit – stark parallelisiert und geben auf diese Weise dem Autor die Möglichkeit, seinen eigenen politischen Standpunkt als ethischer oder humanistischer Sozialist anzureißen.

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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