MEIN HERZ SCHLÄGT DREI SCHRITT VOR MIR HER
so komme ich um
räder und wurzeln zu schlagen
wie distelköpfe vom hals
blumenduft häuft sich ersäuft sich
die männlichen tage sind grün
sind luft die mir fehlt
die mich stählt
es bringt mich um
kopf und kragen
die weiß wie verblichenes sind
und wieder was frisch ist
und immer erst kommt
ist mir schon bis in die stimme gesprungen
reck dich! nimm farben für jeden satz!
(so mein blut
das einfältig rote
zum munde)
dem helfe ich ab wie mir selbst
aus dem dreck
der zu staub zerdörrt
mitten im leibe mich fristet
noch greif ich mich nicht
bin hinter mir her
duck mich vorm eigenen hinterkopf
wütend in sonne
ich bring mich im wechsel der stoffe
drei schritt zu mir hin
mit der diese junge Dichterin ihren Liebes- und Lebensanspruch ausspricht, läßt aufmerken. Er wird nicht nach innen verschlüsselt, sondern sucht seine Erfüllung in der Öffnung zur Welt. Blutvoll und beziehungsreich – ohne Scheu vor gewagten Metaphern – formt sich ihre Sprache, das „menschlichste Fleisch“.
Mathilde Dau, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1982
Cécile Millot: Was hat sich für Sie als Lyrikerin mit der Wende geändert? Ich würde eigentlich gerne wissen, was Ihnen spontan zu der Frage einfällt.
Kathrin Schmidt: Wissen Sie, was mir spontan zu der Frage als erstes einfällt, ist, daß die bürokratische Verwaltung meiner Kinder sehr viel aufwendiger geworden ist, als sie vorher war. Das fällt mir zuerst ein, weil mich das ziemlich beschäftigt, beschäftigen muß, man hat so viele Sachen zu beantragen, die man früher nicht kannte. Das frißt alles sehr viel mehr Zeit. An der Schreibsituation, an meinem Verhältnis zu meiner Arbeit, hat sich eigentlich nichts geändert. Das empfinde ich jedenfalls nicht. Kann sein, daß das später noch kommt. Obwohl ich sagen muß… Ich habe neulich darüber nachdenken müssen, als ich gebeten wurde, Texte zur Wendethematik an irgendeine Zeitschrift zu schicken. Ich habe spontan gesagt, so etwas habe ich nicht. Als ich mich dann aber an meinen Computer setzte und mir die verschiedenen Textdateien vorgenommen habe, merkte ich: Ich fand ganz viele Texte, die zwar nicht die Wende als politischen Akt zum Anlaß nahmen, aber dennoch ein Reflex darauf waren. Ich war doch sehr überrascht. Zu DDR-Zeiten hatte ich ja immer, sagen wir mal, das Glück, daß ich vom Schreiben nicht leben mußte. Das unterscheidet mich, denke ich, auch von einigen anderen Autoren meines Alters oder auch älteren Autoren. Demnach war ich nie in dem Zwang, etwas publizieren zu müssen. Und das kam einerseits meiner Lebenssituation entgegen, ich habe ja damals nicht etwa durchgängig geschrieben, sondern war voll berufstätig. Jedenfalls schrieb ich nicht so viel, daß ich in einem Jahr einen Band hätte machen können. Seit etwa drei Jahren bin ich wesentlich produktiver als früher und schreibe also auch in kürzeren Zeiträumen immer größere Texte.
Millot: Können Sie erklären, warum Sie jetzt produktiver sind?
Schmidt: Eine Sache, eine sehr technische Erklärung, von der ich nicht weiß, ob ich sie gelten lassen möchte: Ich habe wirklich Angst vor weißem Papier, kann also schlecht „anfangen“. Zu DDR-Zeiten hatte ich natürlich keinen Computer. Jetzt aber habe ich einen, und dieses Problem ist gelöst. Es macht mir nichts mehr aus, mich morgens hinzusetzen und anzufangen. Aber ich weiß, wie gesagt, nicht, ob man so etwas gelten lassen kann. Und dann denke ich, ich habe auch mehr Freiräume, weil meine Kinder jetzt größer sind. Das kommt auch noch dazu.
Millot: An den Beziehungen zum Publikum oder am Publikum, beim Leser, den Sie sich vorstellen, wenn Sie schreiben, hat sich da vielleicht etwas geändert?
Schmidt: Da ich mir keinen Leser vorstelle beim Scheiben, kann sich da, glaube ich, eigentlich nichts geändert haben. Natürlich kommt es hin und wieder vor, daß ich jemandem einen Text widme, aber diese Widmung kommt meist hinterher hinzu, wenn der Text schon da ist. Ich habe z.B. nicht mehr und nicht weniger Lesungen als ich zu DDR-Zeiten auch hatte, also immer eher wenig. Und ich hatte in der DDR nur einen Gedichtband, Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik1 heißt er. Der ist 1987 oder 1988 erschienen, und vorher so ein kleines Poesiealbum2. Also eher wenig. Und seit der Wende habe ich gar nichts. Im kommenden Februar erscheint bei Suhrkamp ein Gedichtband3. Das ist der erste seit damals. Ich habe eigentlich schon wieder sehr viel mehr Texte. Ich hoffe, daß es dann auch weitergehen wird mit Publikationen. Aber ich kann es nicht vergleichen, weil ich früher wenig hatte und jetzt auch nur das erste Bändchen, das noch nicht einmal da ist.
Millot: Sie haben also zuerst spontan gedacht, die Wende kommt in Ihren Gedichten nicht vor?
Schmidt: Ja. Ich habe es für mich eigentlich nicht als Thema begriffen, aber mit der Zeit zumindest gemerkt, daß es doch ganz schön gearbeitet hat in mir. Mein Verhältnis zu mir selber ist einfach ein anderes geworden, und das muß schon auch mit der Wende zusammenhängen. Hinzu kommt, daß meine Interessengebiete sich möglicherweise weiter aufgefächert haben. Ich habe zu DDR-Zeiten als Psychologin gearbeitet und mit der Wende gemerkt, daß uns sehr viele Sachen einfach nicht zugänglich gewesen sind, wissenschaftlicher Art. Eine Orientierung auf die ganzheitliche Auffassung vom Menschen zum Beispiel oder anthroposophische Theorien. Nur als Beispiel. Auf einmal kam mir das wie eine Lawine entgegen, und ich habe mich geradezu hineingestürzt. Im Moment spielt das alles eher eine große Rolle. Nun gibt es Leute, die meine Texte auch sehr politisch auffassen, was ich gar nicht so immer, in jedem Falle schon beim Schreiben, spüre. Aber ich merke hinterher, wie das Politische mir aus der Feder lief. Ich nehme es mir nicht vor, aber bemerke durchaus, daß es eine Rolle spielt.
Millot: Die Frage der Sprache und der Auseinandersetzung der Lyrik mit Sprache ist mir in diesem ganzen Zusammenhang wichtig. Haben Sie den Eindruck, daß sich die Sprache seit der Wende geändert hat? Ich meine jetzt die öffentliche Sprache, eventuell auch die private Sprache. Ob das irgendeine Auswirkung in Ihren Gedichten gehabt hat?
Schmidt: Das würde ich verneinen. Ich habe im Moment die konkrete Poesie für mich entdeckt und auch die experimentelle Dichtung überhaupt. Bis dahin war ich eigentlich eher konventionell orientiert, ohne daß ich mich als besonders konservativ auffassen will, das glaube ich auch nicht. Aber für mich war diese Entdeckung etwas Neues. Als Reflex auf die Wende kann man es nicht bezeichnen. Auch ohne die Wende wäre das sicher passiert, und es hätte auch in diesem Abschnitt meiner Biographie stattfinden können. Die öffentliche Sprache hat sich ganz sicher verändert. Das sehe ich ja zum Beispiel schon an meinen Kindern. Ganz einfach, weil die Warenwelt sich verändert hat. Es gibt schon da einen ganz banalen Hintergrund… Oder Werbung, die über das Fernsehen kommt. Ich denke, ich verstehe sie manchmal gar nicht mehr, weiß nicht, wovon sie sprechen, wenn die so über bestimmte Filme reden oder Abenteuer daraus nachspielen. Ich muß aber sagen, das läßt mich im Moment ziemlich kalt, weil die kommende Generation ohnehin ihr eigenes Ding machen wird.
Millot: Sie haben sich auch zu DDR-Zeiten nicht direkt mit der DDR auseinandergesetzt.
Schmidt: Nein, sicherlich nicht. Das war, glaube ich, nicht mein dichterisches Thema. Dabei habe ich mich seit 1985 durchaus auch in oppositionellen Zusammenhängen bewegt, aber nicht in der literarischen Szene. Ich war eher auf den politischen Bereich orientiert. Vielleicht war das Schreiben nicht das Medium, in dem ich versuchen konnte, Politisches durchzusetzen. Ich habe dann auch zur Wendezeit mit in Berlin am Runden Tisch gesessen, was mir ganz schnell wieder vergangen ist, weil die Politik wirklich nichts für mich ist. Aber ich glaube, daß zum Beispiel meine Beschäftigung mit dem Feminismus aus diesem Versuch, in die Politik reinzulangen, herrührt. Ich bin damals richtig zurückgezuckt, denn ich habe gemerkt, daß ich eine Frau bin und mich von den Männern am Runden Tisch unterscheide. Daß ich das nicht kann und nicht möchte, was die Herren da veranstalten. Sie hatten kein Ohr und kein Verständnis für die Mütter unter den am Runden Tisch Sitzenden, die vormittags und abends keine Probleme gehabt hätten, an den Sitzungen teilzunehmen. Aber sie fanden grundsätzlich am Nachmittag statt, wenn man seine Kinder aus dem Kindergarten abzuholen hatte oder die Älteren aus der Schule nach Hause kamen… Heute halte ich Politik beinahe für pervers, was ich vom Schreiben nun nicht gerade sagen kann, sonst würde ich es ja nicht machen. Und insofern sind das schon zwei verschiedene Sachen, völlig unterschiedliche Medien der Auseinandersetzung mit der Welt. In der Politik geht es möglicherweise auch gar nicht um die Welt. Aber daß das eine das andere nicht tangiert, das glaube ich nicht. Es hat schon miteinander zu tun.
Millot: Könnten Sie vielleicht beschreiben, welche politische Dimension Ihre Gedichte oder Ihre Schreibtätigkeit haben?
Schmidt: Ich habe eine sehr körperliche Art zu schreiben. Das muß richtig durch mich durch, ich bin dann eine Art Filter. Was dann schließlich aufs Papier kommt, kann ich vorher nicht sagen. Das hat mit dem oder dem oder dem Gegenstand zu tun. Ich schreibe auch ganz schnell. Also der Text ist sofort fertig. Meistens habe ich ihn ja schon lange im Kopf fertig, wenn ich mich an den Computer setze. Vermutlich habe ich mir das angewöhnt, als die Kinder klein waren, ich also viel zu tun hatte. Da habe ich auch beim Windeln „gedichtet“. Diese Schreiberei kommt bei mir ohnehin aus einer sehr musikalischen Richtung. Ich mußte sehr früh Musik machen und habe, während ich dann so mechanisch Klavier gespielt habe, immer im Kopf an etwas anderes gedacht. Und zwar im Rhythmus der Musik. Und ich habe in solchen Situationen, auch schon als ganz kleines Kind, als ich noch gar nicht schreiben konnte, gereimt. Kaum konnte ich schreiben, tat ich es. Es gibt da noch Hefte voller Gedichte. Ich denke, das ist eine sehr naive Sache gewesen. Aber es war, glaube ich, für mich sehr bestimmend, daß ich von der Form her gekommen bin und nicht von einem Gegenstand, den ich irgendwie gestalten wollte. Insofern kann ich auch nicht sagen, ich möchte in dieser oder jener politischen Richtung schreiben, sondern was entsteht, ist das Ergebnis einer ganz körperlichen Auseinandersetzung. Sicher muß die Welt nicht weit weg sein, sie schlägt sich schon nieder. Nach der Wende z.B. habe ich lange Zeit gar nicht geschrieben, weil ich durch viele andere Sachen so beansprucht war, daß daran nicht zu denken war. Ich habe auch eine Frauenzeitschrift4 gemacht zum Beispiel, wo ich zweimal am Tag zur Arbeit gefahren bin und überhaupt keine Zeit hatte, nicht mal zum Schlafen. Das war zwar irgendwie schlimm, gleichzeitig war es die fruchtbarste Arbeit, die ich bislang tun durfte. Insgesamt halte ich es für möglich, daß es auch ohne die Wende dahin gekommen wäre, daß die Texte heute anders sind. Ich kann es schlecht an Änderungen festmachen, die außen herum stattgefunden haben.
Millot: Können Sie aber diese persönliche Entwicklung charakterisieren? Was ist anders geworden?
Schmidt: Als ich anfing zu schreiben – als ich bewußt anfing, vielleicht so mit fünfzehn, sechzehn Jahren –, tat ich es aus therapeutischen Gründen. Das war richtige Selbsttherapie, weil ich sehr restriktiv erzogen worden bin und auch ganz, wie soll ich sagen, linientreu. Ich hatte Eltern, die mich sehr früh in die SED eintreten lassen wollten und ich war sehr aktiv in der FDJ, bis ich achtzehn, neunzehn war. Ich muß sagen, wenn man mich mit achtzehn Jahren gefragt hätte, ob ich der DDR in der Staatssicherheit dienen möchte, dann hätte ich möglicherweise ja gesagt. Es fällt mir ziemlich schwer, das so zu sagen, aber ich bin für mich zu diesem Schluß gekommen. Mit zwanzig nicht mehr, aber mit achtzehn, neunzehn kann ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen. Was heute natürlich auch dazu führt, daß ich nicht einfach die Hände heben kann, wenn ich höre, der oder der war bei der Stasi, weil ich dann immer denken muß, Kathrin, der Kelch ist an dir vorbeigegangen, sei froh. Ich habe mich psychisch ziemlich stabilisieren können, war lange Zeit depressiv, phasenweise, und deswegen sogar als suizidgefährdet in der Klinik gewesen. Schreiben war meine Rettung. Heute ist es das nicht mehr, weil ich einen ganz anderen literarischen Hintergrund habe als damals. Ich habe sehr viel mehr gelesen. Ich weiß auch, was ich will, was ich einigermaßen kann und was nicht, jedenfalls für den Moment. Ich brauche mich jetzt nicht aus irgendwelchen Krisen rauszuschreiben, sondern gerate eher erst hinein in eine Krise, wenn ich schreibe. Wenn mich ein Gegenstand richtig hat, dann schreibe ich, bis ich in einer ganz merkwürdigen Verfassung bin. Aber ich brauche diese Verfassung nicht mehr, um anzufangen. Das ist, glaube ich, anders als früher. Genau entgegengesetzt. Daher haben die Texte für mich heute so eine Art von Ironie und drücken vielleicht sogar eine gewisse Souveränität aus. Sie sind nicht bierernst, obwohl ich sie auch keinesfalls leichtfertig nennen würde. Aber sie haben, natürlich nicht alle, so eine bissige Ironie, die mir auch Spaß macht und, glaube ich, mir entspricht. Das vielleicht. Und dann experimentiere ich halt auch heute sehr viel stärker mit Sprache als früher. Sicherlich einfach deshalb, weil ich am Anfang gar nicht wußte, was Lyrik ist und meint und was es damit auf sich haben kann. Es ist, war und bleibt eine Folge von Entwicklungsphasen.
Millot: Könnten Sie das noch ausführlicher charakterisieren, um das noch genauer zu umreißen?
Schmidt: Ich glaube, daß meine Gedichte nicht mehr so geschwätzig sind wie beispielsweise in meinem ersten Gedichtband. „Geschwätzig“ klingt jetzt relativ böse… Ich meine, da ist noch sehr viel undisziplinierte Explosivität oder auch Kraft drin, von der ich denke, daß sie jetzt nicht mehr neben mir steht. Ich erlebe meine heutige Art zu schreiben als harmonischer. Und ich glaube auch, daß ich natürlich formbewußter schreibe. Formbewußter in dem Sinne, daß ich jetzt ungefähr eine Vorstellung habe, was heutzutage in der Lyrik geht und was nicht. Das bedeutet nicht, daß ich nun klassische Formen bevorzuge, obwohl ich durchaus auch mal einen gereimten Text habe und das nicht ausschließe. Aber selbst wenn ich so einen gereimten Text schreibe, nehme ich mir das nicht vor. Das kommt von selber. Das sind dann meist so zwei Zeilen erst, die feststehen, und dann gibt ein Wort das andere. Das geht dann sehr schnell.
Millot: Ist die Sprache bei Ihnen dunkler oder deutlicher geworden?
Schmidt: Komischerweise kann ich Ihnen das nicht genau beantworten. Das geht nur von außen. Man muß das von außen sehen. Für mich würde ich die heutige Sprache vielleicht deutlicher nennen. Obwohl andere das nicht unbedingt bestätigen würden… Freundinnen, die Texte von früher kennen, würden das wohl verneinen. Es ist vielleicht nicht mehr so viel Unsicherheit dabei, sich an etwas heranzutasten, oder vielleicht fällt es mir heute einfach leichter, ist selbstverständlicher geworden. Wenn man so anfängt zu schreiben, ist man doch auch originalitätssüchtig. Das alles gibt es nicht mehr. Ich bin beim Schreiben viel gelassener. Und ich glaube, daß ich ein ziemlich kritisches Verhältnis zu meinen eigenen Texten habe. Gott sei Dank. Dabei bin ich immer noch sehr zurückhaltend mit Öffentlichkeit. Wie früher. Ich habe zum Beispiel noch nie jemandem ein Manuskript angeboten und hatte also Riesenglück gehabt, daß Suhrkamp sich dafür interessiert hat. Das war eigentlich durch Zufall geschehen. Obwohl ich denke, daß ich das machen muß, daß es gar nicht anders geht, vor allem wenn ich irgendwann davon leben möchte… Ich habe jetzt ein Stipendium für ein Jahr bekommen. Dennoch habe ich heutzutage diesen Druck: Ich muß irgendwo Geld herkriegen. Mit Schreiben gelingt mir das nicht. Das habe ich zu DDR-Zeiten so nicht erlebt, weil wir halt mit sehr viel weniger Geld auskamen. Ich will damit nicht sagen, daß es besser war, daß es viele Sachen nicht gab. Man konnte einfach keinen Urlaub in Amerika machen, das stand gar nicht zur Debatte. Aber irgendwie war es auch beruhigend, daß man sich darum nicht kümmern mußte, wo Geld herkam.
Millot: Es ist jetzt so, daß Sie von Ihrem Schreiben nicht leben könnten?
Schmidt: Im Moment nicht, nein. Nach der Arbeit bei der Frauenzeitschrift hatte ich zwei ABM5-Stellen gehabt. Eine war zwei Jahre lang in einem sozialwissenschaftlichen Institut, ich habe zur Migrationsforschung gearbeitet und zur Situation ethnischer Minderheiten im Baltikum. Und jetzt habe ich eine ABM-Stelle bei Gerhard Wolf eigentlich nicht bei ihm, sondern beim janus e.V., der sich im Umfeld dieses Verlags gegründet hat. lch versuche, Projekte zu organisieren, Lesungen, Debatten. Alles noch nicht weit gediehen, sondern am Anfang. Seit Dezember. Schon 1992 und 1993, also vor meiner Zeit, lief in Marzahn die Lesereihe Zunge zeigen, von janus e.V., die wir nun fortsetzen wollen. Sie wurde kaum wahrgenommen von der Öffentlichkeit. Es gibt nur wenig Publikum in diesen Außenbezirken. Damit müssen wir rechnen. Durch den Ausgabenstop im öffentlichen Bereich im ersten Halbjahr sind unsere Lesungen in Marzahn gar nicht genehmigt worden. Die anderen Sachen auch nicht. Wir haben aber jetzt für den Herbst einiges wieder einrichten können, zum Beispiel eben Zunge zeigen und eine zweitägige Veranstaltung Tage der konkreten Poesie. Sie wird am 19./20. November stattfinden. Die bereite ich jetzt vor. Daneben habe ich, wie gesagt, dieses Stipendium, auf das ich mich sehr freue. Ich bin eigentlich ganz bewußt 1989 aus dem Beruf der Psychologin ausgestiegen, weil ich keine Lust mehr hatte jeden Tag zur Arbeit zu gehen, während das politische Leben geradezu explodierte. Die Berufstätigkeit kollidierte außerdem mit meiner Arbeit am Runden Tisch. Ich habe allerdings, das muß ich zugeben, damals nicht damit gerechnet, daß es schwer sein würde, wieder einzusteigen. Ich habe gedacht, probier’ es eine Weile, und wenn es nicht geht, dann gehst du zurück. Das geht aber nun nicht mehr. Wenn man fünf Jahre raus ist, hat man im Grunde keine Chance mehr. Außerdem fiel die Wende für mich gerade mit der Hoch-Zeit der Kinderbetreuung zusammen. Mein letztes Kind ist 1988 geboren. Das erste 1979, und jetzt sind meine Töchter gerade in England zu einer Sprachreise. Sie sind also schon relativ unabhängig. Zeitlich könnte es jetzt so gehen, daß ich schön meine sechs Stunden am Tag schreibe. Ich hoffe, daß ich es durchhalte.
Millot: Die Texte, die Sie schreiben, wie nennen Sie die? Sind das Gedichte oder sind das einfach Texte?
Schmidt: Ich möchte das Wort „Gedichte“ vermeiden, finde es aber genauso blöd, „Texte“ zu sagen. Trotzdem kommt mir „Texte“ leichter von der Zunge. Im Grunde finde ich es genauso unpassend wie das Wort „Gedichte“. „Gedichte“ klingt mir einfach zu hehr. Ich habe vielleicht gar keine Bezeichnung. Seit vielen Jahren jetzt schreibe ich übrigens an so einem… Roman? Keine Ahnung. Ich möchte versuchen, ihn bei Suhrkamp hinterherzuschieben, wenn der Gedichtband erschienen ist. Er ist schon ziemlich weit gediehen. Es gibt im Grunde von mir keine gedruckte Prosa, höchstens mal eine, die sich auf Lyrik bezieht, eine Lesart oder so was, Ansonsten gibt es nichts. Da ich aber jetzt eine ganze Menge geschrieben habe, möchte ich auch Prosa veröffentlichen, wenn es geht.
Millot: Wie könnten Sie Ihre Art beschreiben, sich mit der Sprache auseinanderzusetzen?
Schmidt: Ich setze mich nicht bewußt mit Sprache auseinander und ich versuche eigentlich auch nicht, einen sprachlichen Ausdruck für irgendetwas zu finden oder zu suchen, wenn ich schreibe. Ich muß natürlich zugeben, daß meine Texte irgendwo sehr metaphorisch oder mit Metaphern angefüllt sind, wobei ich auch mich fürchte und denke, daß es ein Irrweg wird, wenn ich den so weitergehe, wie ich das im Moment mache. Ich halte es für eine Gefahr, daß ich mich so zudecke mit Metaphern. Wenn man überlegt, daß jeder Mensch seine eigene Sprache hat, dann habe natürlich auch ich meine eigene Sprache. Ich sehe schon, was mich von anderen Autoren beispielsweise meines Alters unterscheidet, was meine Besonderheit ist. Aber das bleibt wohl alles auf der Wahrnehmungsebene. Ich verbiete mir auch, darüber theoretisch zu debattieren. Nehme das wahr, konstatiere das und registriere, daß ich ein System habe, in das ich einen Autor auch schon mal einordne, hierhin stecke oder dorthin. Nicht festgefügt, nur, um für mich selber eine Art Ordnung reinzukriegen. Ich denke schon, daß es funktioniert, möchte mich darüber aber nicht in theoretischer Art auslassen.
Millot: Unterscheidet Sie etwas von gleichaltrigen westdeutschen Autoren? Ist bei Ihnen vielleicht eine ostdeutsche Spezifität?
Schmidt: Dazu kenne ich möglicherweise zu wenige westdeutsche Autoren. Ich habe an zwei Wettbewerben teilgenommen. Nur bei diesen Wettbewerben habe ich Autoren persönlich kennengelernt, die etwa in meinen Alter waren. Für die sich also mit den Texten auch das Bild von einer Person verbinden läßt. Es kann zwar an der Auswahl für solche Wettbewerbe liegen, aber doch glaube ich bemerkt zu haben, daß es weniger existentiell zugeht. Daß es fast schon obszön ist, wenn in einem Text etwas anderes mitschwingt als die eigene, meinetwegen körperliche Befindlichkeit. Es gibt natürlich auch Ausnahmen. Ich habe einen Autor aus Köln kennengelernt, bei dem ich anfangs erst einmal sehr überrascht und auch befremdet war von der Art, wie er Texte macht und vorträgt. Der hat mich aber auch von Anfang an fasziniert, und ich habe mich so richtig reingelesen. Wirklich sehr modern, das wird Zukunft haben und ist tatsächlich auch existentiell. Es wird nicht an der Oberfläche rumgeschwafelt. Ansonsten – das mag aber mit diesen Ausschnitt von Literaturbetrieb zu tun haben, den ich kennengelernt habe und der sehr klein ist –, habe ich schon das Gefühl, daß es oft um andere Sachen geht als um Literatur. Selbstdarstellung… Natürlich ist Schreiben auch immer eine neurotische Angelegenheit, aber wenn die Neurose vor sich hergetragen wird, ist das auch schwierig. Man sollte zu seinen eigenen Schwierigkeiten schon auch ein (selbst-)kritisches Verhältnis haben.
Ich mag es aber eher nicht, das so zu sagen, weil ich zu wenige westdeutsche Autoren kenne. Daher möchte ich wirklich die Ausschnitthaftigkeit meiner Kenntnis betonen. Unter denen, die ich kennengelernt habe, habe ich halt auch Oberflächlichkeit erlebt. Was ich auch sagen kann: Man ist schon sehr empfindlich und kann mit Kritik nicht umgehen. In der DDR haben wir uns das viel härter um die Ohren gehauen, unser eigenes Schreiben. Hier ist jeder Ansatz der Kritik schon eine persönliche Verletzung. Das ist mir ziemlich fremd, und ich habe mich zurücknehmen müssen.
Millot: Gibt es vielleicht in Ihrem vorherigen Leben so Bruchpunkte im Schreiben, die von einem politischen Ereignis oder sonst einem öffentlichen, gesellschaftlichen Ereignis verursacht wurden?
Schmidt: Es gibt eine markante Bruchstelle, über die bin ich mir auch eigentlich im letzten Jahr erst klar geworden. Die ist aber wieder ganz in den persönlichen Bereich transformiert. Ich habe ihnen ja vorhin erzählt, daß ich sehr streng, also sehr restriktiv und sehr linientreu erzogen wurde. Es gab bei uns zu Hause kein Westfernsehen, ich durfte nicht die Christenlehre besuchen, obwohl ich das sehr gerne gewollt hätte, weil meine Freundinnen das auch machten und ich die Bibel kannte. Meine Großmutter hatte mir eine geschickt. Mein Vater mißbilligte das sehr. Und ich erfuhr dann, als ich fast erwachsen war, daß mein Vater neun Jahre in Bautzen gesessen hat, bis 1955. Ich habe später viel über diesen Prozeß gelesen. Mein Vater ist als ganz junger Mann von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland verhaftet und verurteilt worden zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit. Neun Jahre davon hat er abgesessen, bis er amnestiert wurde von Wilhelm Pieck. Ich habe fortan meine ganze Kindheit neu betrachtet. Erst habe ich sie entwertet gesehen dadurch, daß er mir nicht die Wahrheit gesagt und im Grunde versucht hat, mir das Gegenteil vorzuleben. Heute denke ich, daß er Angst hatte, ganz sicher. Angst, daß wir Kinder in unserer Entwicklung Schwierigkeiten haben könnten durch die Biographie, die er hat. Und das zeigte sich dann auch. Ich konnte beispielsweise nicht Medizinische Forschung in der Sowjetunion studieren, weil im dafür ausgereichten Vordruck, der korrekt auszufüllen war, unter dem Stichwort „Vorstrafen des Vaters“ stand: fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit. Es war 1973 noch nicht verjährt… Mein Vater hatte es mir wegen dieses Bogens erzählen müssen, er tat es zitternd und verpflichtete mich, die ich selbst zitterte, zu absolutem Stillschweigen darüber. Es war, glaube ich, tragisch in seinen Augen. Für mich eher nicht, denn ich habe das damals nicht überschaut. Im Grunde ist erst mit der Wende dieses Tabu innerhalb der Familie gebrochen worden, daß darüber nicht gesprochen wird. Ich hatte es beim ersten Mal, trotz des Zitterns, eher oberflächlich erfahren, es ist mir nur so erklärt worden: Das waren halt die Wirren der Zeit, und ich bin ja in der DDR geblieben, daran siehst du, daß es nichts mit dem System zu tun hat… Ich glaube, er hat sich tatsächlich lange Jahre vorgemacht, daß er die Schuld der Deutschen hat abtragen wollen. Soweit ging das.
Inzwischen gab es, vermittelt über eine Freundin, die zu diesem Thema arbeitet, mit meinem Vater darüber Gespräche, die aber von beiden Seiten immer sehr emotional geladen waren. Es sind viele Tränen geflossen. Und ich habe nach wie vor große Schwierigkeiten, weil er jetzt der Bundesvorsitzende der Vereinigung der Opfer des Stalinismus ist, die mir zum Teil eine ziemlich obskure Organisation ist. Ich erlebe ihn jetzt wieder als hundertprozentig gewendet und komme damit nicht zurecht. Obwohl ich ihm das Recht zugestehe, für diese neun Jahre eine Entschädigung zu kriegen, ja das ist unbenommen. Und er hat ganz sicher schwer gelitten in der Zeit. Ich glaube, daß ich daran schon noch arbeiten muß. Ich merke, wenn ich Männer zwischen fünfzig und sechzig Jahren sehe, wenn ich sie höre, wenn sie über ihre Lebensläufe reden, was ohnehin selten passiert jenseits von Stammtischen, dann bin ich immer ganz ergriffen und schnell nahe am Wasser gebaut. Ich denke schon, daß ich da noch ein bissel drüber nachdenken muß. Wahrscheinlich ist das eine ganz „normale“ Art von Tragödie, wie sie in der Geschichte halt immer wieder passiert, so oder ähnlich. Aber man muß seine persönliche Übersetzung dafür finden. Ich kann ihm für verschiedene Sachen, die ich so gemacht habe, nicht irgendwie die Schuld zuschieben. Das möchte ich auch nicht. Aber ich finde es auch schon hart, wenn man seine Tochter mit achtzehn Jahren in die SED fast rein prügeln will und man weiß im Grunde genau, daß man es selber nie tun würde.
Millot: Und hat sich diese Prägung aus der Familie irgendwie im Geschriebenen oder in Ihrer Haltung als junge Autorin in der DDR niedergeschlagen?
Schmidt: Ja, ich habe schon gemerkt, daß die Welt nicht so einfach ist, wie ich sie mir vorgestellt hatte oder wie man sie mir vorgemacht hat. Und ich bin durchaus kritisch gewesen und habe Sachen hinterfragt. Ich habe aber immer Grenzen gefühlt, auch für politisches Engagement. Das Seltsame ist: Ich habe mich oft auf eine irgendwie harmonisierende Weise zwischen den Fronten herumgedrückt. Ich wurde von den besonders „klassenbewußten“ Studenten beispielsweise bei uns für dissidentisch gehalten. Und den Dissidenten war ich nun, ehrlich gesagt, wieder zu rot… Das muß natürlich mit meiner Persönlichkeit und meiner Geschichte zusammenhängen. Ich habe lange Zeit geglaubt, daß bestimmte Dinge miteinander vermittelbar sind. Habe mich also sowohl in der Prenzlauer-Berg-Szene rumgedrückt als auch auf den Nachwuchsveranstaltungen des Schriftstellerverbandes. Und es gibt, muß ich sagen, nur noch einen Einzigen, für den ich das auch so wahrgenommen habe. Ich weiß nicht, wie er das heute sieht. Das ist der Johannes Jansen. Den habe ich auch auf eben beiden Szenen erlebt. Er ist der Einzige. Von heute aus gesehen, finde ich das zumindest merkwürdig. Von den älteren Autoren eventuell noch Brigitte Struzyk, die das möglicherweise ähnlich wahrgenommen hat wie ich. Verrückt. Habe ich tatsächlich geglaubt, daß es zu vermitteln sei? Ich erinnere mich, es oft als Borniertheit erlebt zu haben oder eine bestimmte Art von Verständnisproblem, das doch irgendwie zu beheben sein muß! (lacht) Es ist heute sicherlich lachhaft. Und möglicherweise muß man sich dafür schämen, aber ich kann das nun auch nicht mehr anders machen. Es war halt so.
Millot: Und zum Beispiel in dieser Zeit, wo Sie linientreu waren, wie Sie selber sagen, haben Sie da auch nicht aus einem politischen Ansatz geschrieben?
Schmidt: Ja, „linientreu“ war ich, bis ich vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt war, also länger nicht. Ein Mitfühlen mit Volker Braun oder ein Sich-Identifizieren mit Volker Braun in den ’70er Jahren und vielleicht auch noch in den ’80er Jahren war eigentlich schon ein Akt schwerer politischer Distanz zur DDR. Im Rückblick wirkt das fast vollkommen anders. Man kann es Leuten, die hier nicht gelebt haben, immer schlecht erklären. Zum Beispiel denke ich nicht, daß Bert Papenfuß eine besondere literarische Affinität zu Volker Braun gehabt hat, weil er einfach etwas ganz anderes machte. Beide hatten sich auf ihre Art sehr weit vom Selbstverständnis der DDR entfernt, das sie nicht teilten, befanden sich aber auf sehr unterschiedlichen von der DDR entfernten Positionen, die miteinander nicht viel zu tun hatten, wenn es auch zwischen den Menschen Braun und Papenfuß Solidarität gegeben hat. Hoffentlich, ich weiß das nicht genau. Ich traf mich schon mit Volker Braun in der Distanz zur DDR, aber auch mit Sarah Kirsch. Als sie und Biermann gingen, war ich nur traurig. Ich hätte wütend sein müssen, herkunftsbedingt, aber ich wäre gar nicht in der Lage gewesen, jetzt eine Wut zu haben auf irgendjemanden. Leider auch nicht auf die „führenden Genossen“, die das verbockt hatten. Zu lange hatte ich dieses beschissene Mitleid mit ihnen, weil sie (für mich) während des Dritten Reiches in Haft gesessen und ganz sicher mehr erlitten als ich. Mitleid ja, aber nicht Wut. Noch nicht.
Mich aber von der DDR in meinen Texten zu distanzieren, soweit bin ich anfangs nicht gegangen. Ich hatte diesen Status Quo, wie er war, sehr angenommen. Mein Vater war ja auch in der DDR geblieben. Es stand für ihn fest, daß er da bleibt. Und für mich stand das auch fest. Für mich war das gar keine Frage. Nicht, weil ich es von mir gewiesen hätte, in den Westen zu gehen. Ich habe später durchaus darüber nachgedacht, daß man das eventuell tun könnte. Ich war aber möglicherweise auch in der Art von Arbeit, die ich hier hatte, in einem positiven Sinne am Boden haftend. Ich habe als Psychologin mit Kindern in solchen Neubaugebieten wie Marzahn gearbeitet. Und das war eine sehr verantwortungsvolle Arbeit, wo ich auch nicht auf die Idee gekommen wäre jetzt abzubrechen. Es ist sicherlich auch eine von viel Gutgläubigkeit und Naivität bestimmte Haltung gewesen. Ich war außerdem durch meine eigenen Kinder sehr eingebunden in das System DDR, war hier ziemlich festgemacht, kannte die Lehrer, mit denen meine Kinder zu tun hatten. Und ich habe sie einmal so erlebt und einmal so. Es gab eigentlich immer die Möglichkeit, mit denen was zu besprechen. Trotz der Schwierigkeiten, die auch ich bekam. Ich habe psychologische Vorträge gehalten, vor den Eltern und vor Lehrern, mit denen ich durchaus Ärger bekam. Aber es gab dann auch wieder den einen, der auf meiner Seite stand. Das hat mich festgehalten. Oder sagen wir besser: Daran habe ich mich festgekrallt.
Millot: Man spricht oft in Bezug auf DDR-Literatur von einer „anderen Sprache“. Hätten Sie das auch für sich gesagt?
Schmidt: Es war keine Kategorie für mich. Ich lernte aber Autoren kennen, denen sie viel bedeutete. Zum Beispiel las ich einmal mit Gert Neumann zusammen in Dresden. Das muß Anfang der ’80er Jahre gewesen sein. Und nach der Lesung erzählte mir dann ein Freund, was Gert Neumann für ein Mensch ist, was er für Schwierigkeiten hat und wie er niedergehalten und gedemütigt wird. In solchen Situationen habe ich mich immer sehr mit einzelnen Menschen verbunden gefühlt, habe Anteil genommen. Zuweilen hatte ich den Gedanken, wenn du schreibst, dann möchtest du etwas schreiben, was vor dem oder dem Bestand hat. Womit der Neumann was anfangen kann oder der Hilbig. Daß du dem in die Augen sehen kannst mit dem, was du machst. Bei Papenfuß habe ich innerlich tiefe Scham empfunden, wie der behandelt wurde. Andererseits bin ich kein sehr kommunikativer Typ, kann mich in Szenen nicht darstellen. Auf Prenzlauer-Berg-Lesungen hat mich einfach keiner wahrgenommen. Das liegt sicher auch daran, daß ich nicht mit jemandem gekommen bin, der gesagt hat, guckt mal, das ist die und die. Ich bin hingegangen, weil eine Freundin mir sagte, da ist heute Abend das und das, da liest der Eddy Endler6 oder der Hans-Christoph Buch aus Westberlin, laß uns hingehen. Das taten wir dann. Einmal habe ich Stephan Bickhardt auch meine Mappe gegeben, bin dann aber merkwürdig behandelt worden. Vielleicht hat er gedacht, daß ich ein Spitzel sei. Ich nehme es den Leuten nicht übel, weil sie mich nicht kannten. Ich weiß auch nicht, wie ich reagieren würde, wenn jemand, den ich nicht kenne, kommt und mir seine Gedichte gibt. Naja, heute bräuchte ich wenigstens nicht mehr an Spitzelei zu denken… Jedenfalls kam ich nicht rein in die Szene, an der ich dennoch ungebrochenes Interesse hatte. Berührungsängste hatte ich nicht. Es gab vielleicht nicht genug Berührungen, aber sie waren immer ohne Angst von meiner Seite aus.
Millot: Daß heute die Veröffentlichungsmöglichkeiten vollkommen anders sind, was macht das für Sie aus?
Schmidt: Ja, für viele Leute, zum Beispiel für Papenfuß, sind sie sicher besser, weil es die DDR-Zensur nicht mehr gibt. Für mich weiß ich das nicht. Ich bin irgendwie davon noch zu weit entfernt und sehr froh, daß ich jetzt ein Buch haben werde und daß der Verlag mir gefällt. Suhrkamp finde ich schon ganz gut. Wenn ein Verlag sagt, wir würden was mit Ihnen gerne machen, dann würde ich schon genau gucken, was es für einer ist und ob ich mich da wohl fühlen könnte. Ich glaube nicht, daß ich da kritiklos bin. Aber meine Art des Herangehens ist halt so, wie sie ist, und nicht anders.
Millot: Da wir gerade bei Bert Papenfuß sind: Würden Sie Ihre Lyrik auch als „sprachkritisch“ bezeichnen?
Schmidt: Na ja, es ist ja natürlich nicht so, daß ich ein leeres Blatt zu diesem Thema bin. Aber es gibt Leute, für die Sprachkritik eher ihr Medium als Autor ist, also eben Papenfuß meinetwegen oder zum Beispiel Stefan Döring. In diesem – und nur in diesem – Zusammenhang würde ich natürlich sagen, daß es für mich kein Thema ist. Schon weil ich mich mit Papenfuß oder Döring gar nicht vergleichen könnte, sie haben Größeres geleistet auf diesem Gebiet. Andererseits glaube ich aber, daß ich das auf meine Art auch mache. Ganz blöd gesagt, ich glaube, ich bin wortschöpferisch tätig. Es gibt Sachen, die ich wohl tatsächlich erfunden habe, wie andere Leute andere Sachen erfunden haben, und das ist natürlich auch nicht sprachunkritisch. Oder bestimmte Wörter oder Zusammensetzungen von Worten, oder Metaphern, die mir zum Teil schon wieder zu gewagt sind. Gelegentlich denke ich darüber nach, was mit einer Metapher heute überhaupt noch funktioniert, das ist natürlich auch Sprachkritik. Ich habe allerdings nicht diesen theoretischen Anspruch und diesen Hintergrund, wie andere Autoren, die das sehr viel engagierter machen als ich.
Millot: Warum empfinden Sie dieses Mißtrauen der Metapher gegenüber?
Schmidt: Meiner eigenen gegenüber? Ich glaube, daß ich für mich jetzt, wenn ich meine eigene Arbeit sehe, an einem Punkt bin, wo ich richtig aufpassen und womöglich eine Wendung machen muß. Es muß zwar keine Kehrtwendung sein, aber doch eine Korrektur, wenn ich den falschen Weg gehe, in die falsche Richtung. Es ist vorerst nur ein Gefühl. Ich merke, wenn ich die Texte hintereinander weg lese, daß da einfach was passieren muß. Oft möchte ich immer noch eins draufsetzen. Wenn ich die Texte lese, dann kriege ich das ja mit: Immer noch eins und noch eins und noch eins. Das wird mir einfach zu viel, das erschlägt sich und mich. Die Texte werden zu voll. Davor fürchte ich mich. Ich warte immer drauf, daß es mir mal jemand sagt… Wenn es keiner tut, dann muß ich es mir halt selbst sagen. Das ist, als ob man sich vergaloppiert. Oder man hat eine bestimmte Sache zu weit getrieben. Dann geht es hier nicht weiter, du mußt irgendwie einen anderen Weg finden.
Sibylle Goepper: 1994 meinten Sie, dass die Wende überhaupt nichts an Ihrer Arbeit geändert hat. Sie sagten aber auch, es könnte später der Fall sein. Was würden Sie heute mit dem Abstand dazu sagen?
Kathrin Schmidt: Es änderte sich schon eine ganze Menge insofern, als ich 1991 begann, freiberuflich zu arbeiten. Von diesem Moment an konnte ich nicht mehr von der Lyrik allein leben. Ich fing an, die ersten dreißig Seiten eines 1986 begonnenen Romans um 400 Seiten zu erweitern, Ich schrieb Prosa! Und ich denke, das hatte mittelbar oder unmittelbar mit der „Wende“ zu tun. Ganz genau weiß ich es nicht, weil ich nicht sagen kann, ob ich überhaupt den Mut zur freiberuflichen Existenz gefunden hätte, hätte die DDR weiter bestanden. Ich habe 1994 oder 1995 also begonnen, meinen ersten Roman zu beenden und habe ihn dann auch publiziert.7 Seitdem bin ich Roman- und Lyrikautorin und natürlich auch älter geworden. Womöglich kann man das ja auch gar nicht mehr so richtig auseinanderklamüsern, was sich nun durch die Wende verändert hat und was durch die sozusagen „natürliche Alterung“…
Goepper: Sie stellen also eine direkte Verbindung her zwischen Ihrer Arbeit als freiberufliche Autorin und dem Gattungswechsel hin zur Prosa?
Schmidt: Ja. Man kann nicht von Lyrik allein leben. Nehmen Sie zum Beispiel Lutz Seiler. Er ist heute vorzugsweise als Lyriker bekannt – obwohl er auch hin und wieder Prosa schreibt –, er leitet aber das Peter-Huchel-Haus in Potsdam. Wenn man nebenbei einen solchen Job hat, kann man sicherlich eingleisig fahren, aber ich glaube, von der Lyrik allein kann man nicht leben. Man kann sich ja auch nicht ständig um Preise oder Stipendien bewerben, weil man dann gar keine Zeit für etwas anderes mehr hätte.
Goepper: Kam der teilweise Verzicht auf Lyrik für Sie einer Aufopferung gleich oder haben Sie ihn vielleicht als Beschränkung empfunden?
Schmidt: Nein. Ich hatte 1993 den Leonce-und-Lena-Preis gewonnen, meinen ersten großen Preis in der Bundesrepublik. Gleichzeitig beantragte ich damals ein einjähriges Stipendium beim Literaturfonds in Darmstadt. Wissen Sie, ich bin ja nicht allein. Mit mir lebten und leben fünf Kinder. Deswegen brauchte ich so etwas wie materielle Sicherheit. Ich bekam das Stipendium, und auf einmal fühlte ich mich, auch mit dem Preisgeld im Rücken, stark genug, um den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Es war keine Aufopferung, sondern einfach großartig, dass ich meinen 1986 begonnenen Roman zu Ende schreiben konnte. Ich hatte ihn liegen lassen. Als ich ihn 1986 oder 1987 meinem damaligen DDR-Verlag anbot,8 hatte der Cheflektor gesagt:
Ja, wir zahlen darauf eine Option von tausend Mark der DDR, aber dieser Schluss ist natürlich undenkbar. Dass zwei Frauen mit dem Ballon oder eine Frau mit dem Ballon loszieht, so was gibt’s nicht.
Ich war damals noch nicht freiberuflich gewesen, hatte nicht davon leben müssen. Also hatte ich daran auch nicht weiter gearbeitet, zumal ich, in Vollzeit berufstätig, erneut schwanger gewesen war. Wann hätte ich schreiben sollen? Mein erstes Prosaprojekt wartete also zehn Jahre auf seine Vollendung. Und als es so weit war, empfand ich die Möglichkeit eben als ganz großartig. Ein Hoch der Freiberuflichkeit. Meine Gedichte hatte ich beim Spazierengehen, beim Kochen, beim Straßenbahnfahren, beim Windeln „verfertigt“. Sie waren dann einfach da und mussten nur noch aufgeschrieben werden. Die Prosa aber braucht ein Stückchen Zeit, immer, täglich. Zeit, die ich nun im Hauptberuf hatte. Ich habe es nicht als Beschränkung empfunden, sondern als großes Glück.
Goepper: Zu DDR-Zeiten arbeiteten Sie als Psychologin und haben dabei fünf Kinder großgezogen. Waren Ihre Kinder kein Verzögerungsmoment für Sie als Autorin?
Schmidt: Nein, ich habe eigentlich erst richtig angefangen, als mein erstes Kind geboren war. Lange Spaziergänge mit dem Kinderwagen, dabei habe ich Gedichte entstehen lassen. Gedichte konntest du immer „machen“, ob du deine Kinder bei dir hattest oder nicht. Zudem waren meine Kinder schon ziemlich früh in der Krippe und im Kindergarten, wie es in der DDR üblich war. Eigentlich habe ich über normale Arbeitszeiten verfügt. Wenn mich Leute aus dem Westen fragen, wie ich das alles geschafft hätte, kann ich ihnen nur sagen:
Ich habe es genauso geschafft, wie es heute jede Frau schafft, die für ihr Kind einen Krippenplatz hat.
Nämlich: Ich ging arbeiten, während das Kind untergebracht war. Was ich damals völlig anders sah, als ich es heute sehe: Ich habe meine älteste Tochter viel zu früh, nämlich mit zehn Wochen, dem staatlichen Krippenwesen überantwortet. Das würde ich heute nicht mehr tun. Ich habe es damals nicht hinterfragt, weil ich jung und es üblich war, das als Studentin genauso zu machen. Inzwischen ist ein Platz für sehr kleine Kinder schwer zu finden. Ab drei Jahren ist es Pflichtaufgabe des Staates, einen Kindergartenplatz bereitzustellen, aber es stimmt natürlich, dass diese Plätze nicht immer vorhanden und dass sie nicht kostenlos sind. Dazu kommt noch, dass die Lage diesbezüglich im Osten immer noch wesentlich besser ist als im Westen. Zumindest zum Teil hat sich das ein bisschen halten können. Es konnten ja nicht einfach alle Frauen sofort in die Arbeitslosigkeit stürzen.
Ich habe meinen Mann 1984 geheiratet. Zwei Töchter hatte ich vorher allein bekommen, und wir haben dann zusammen noch drei Söhne. Seitdem ich ihn kenne, habe ich mir immer Zeit genommen, wenn ich Zeit brauchte. Für meinen Mann war es selbstverständlich, mir zur Seite zu stehen und alles möglichst gleichberechtigt mitzumachen. Ob es mit den Kindern zusammenhing oder mit mir. Es klingt vielleicht heute komisch, aber wir haben uns auf ganz selbstverständliche Weise ergänzt, dadurch war das auch nicht so schwer. Zumindest habe ich das so in Erinnerung.
Goepper: Sie fühlten sich als Frau und Schriftstellerin nie benachteiligt?
Schmidt: An manchen Stellen habe ich mich offiziellerseits schon benachteiligt gefühlt, aber ich weiß nicht, ob nun als Frau. Ich wollte zum Beispiel meine Dissertation in Psychologie schreiben, hatte mich schon darum gekümmert. Das war noch zu DDR-Zeiten, da sich eigentlich jeder Chef zu freuen hatte, wenn seine Untergebene eine Dissertation schreiben wollte. Als ich bei meinem Chef erschien, habe ich ihm erzählt, dass ich mich erfolgreich an der Humboldt-Universität beworben habe. Er meinte aber:
Nein, das kommt überhaupt nicht infrage, Sie sind hier als Psychologin eingestellt, und wir können es überhaupt nicht verantworten, dass Sie uns für die Zeit dieser Arbeit an der Dissertation ausfallen. Das geht überhaupt nicht.
Ich hatte eben damals eine Praxisstelle. Ich war vor den Kopf gestoßen und habe mich mit den Kollegen unterhalten, die zu mir meinten:
Das ist ganz einfach, der hat selbst keinen Doktortitel, und deswegen kann er dir nicht gestatten, einen zu erwerben.
Als Mann wäre es mir aber sicherlich ähnlich gegangen. Natürlich habe ich mich andauernd gefragt, warum in der DDR so viele alte Männer in der Mitte und an der Spitze der Gesellschaft platziert sind. Alles war sehr vermännlicht und sehr starr. Da waren wenige Frauen zu sehen, obwohl von ihnen stets die Rede ging, dass sie so selbstbewusst seien. Wenn man es auf ihre Familien bezieht oder auf ihren ökonomischen Status dann war es schon so. In der DDR konnte jede Frau auch allein leben, und eine Scheidung war überhaupt nichts im Vergleich zu heute, weil man sich einfach ohne einen Vermögensausgleich oder einen Rentenausgleich trennte. Jeder hatte sein eigenes Einkommen. Auch Unterhaltszahlungen waren absolut unüblich in der DDR. Nur wenn eine Frau mit vier oder fünf kleinen Kindern dasaß, eventuell umgezogen war und nicht sofort eine Arbeit hatte, kam es infrage, dass der Vater für diese Frau für eine gewisse Zeit, sagen wir sechs Monate, Unterhalt zahlen musste, aber normalerweise war das absolut unüblich. Heute haben Frauen diesen ökonomischen Status oder diese Möglichkeit zur ökonomischen Selbstständigkeit nicht mehr, das finde ich schon sehr problematisch. Eine große Änderung, die sich im Bewusstsein der Frauen vollzogen hat und mit der sie erst mal klarkommen müssen.
Goepper: Sie meinten 1994, dass manche Ihrer Gedichte ein Reflex auf die Wende waren. Sind inzwischen andere Texte dieser Art zustande gekommen oder hat sich dieses reaktive Schreiben eher erübrigt?
Schmidt: Die Wende taucht in allen meiner Prosaarbeiten auf, am wenigstens noch in die Gunnar Lennefsen Expedition, weil sie im Jahre 1976 spielt. Eigentlich ist sie aber, zuweilen im übertragenen Sinne, für alle meine Romane wichtig. Im zweiten Roman Koenigs Kinder9 zum Beispiel geht es um Haftbedingungen, Erlebnisse und Haftzeiten in den Jahren der sowjetischen Militäradministration in Deutschland – und um die späteren und weitreichenden Folgen. Es gibt zum einen die zeitliche Linie, die von 1946 bis in die Jetztzeit reicht, und es gibt auch die geografische Linie, von Kasachstan bis nach Deutschland. So etwas wäre vor der Wende nicht denkbar gewesen. Man muss es vielleicht anders sagen: Es wäre in der DDR nicht veröffentlicht worden. Es war unmöglich, die Haftzeit eines Menschen unter der sowjetischen Militäradministration im Roman abzuhandeln. Mein Vater hatte fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit bekommen und zehn Jahre davon in Bautzen abgesessen. Ich habe diese ganze Geschichte erst erfahren, als ich erwachsen war. Das Buch war ein autobiografischer Reflex auf genau diese Geschichte, die mein Vater erlebt hat. Und das nächste Buch war dann eine Stasi-Geschichte.10 Das wäre zu DDR-Zeiten natürlich auch nicht denkbar gewesen.
Goepper: Dass Sie sich plötzlich mit solchen Stoffen beschäftigen konnten, hängt sicher mit dem Gattungswechsel zwischen Lyrik und Prosa zusammen. Oder könnten Sie sich vorstellen, ein solches Material auch in der lyrischen Form zu bearbeiten?
Schmidt: Nein, das geht überhaupt nicht, denn das Schreiben von Lyrik ist ein ganz anderes. Bei der Lyrik gibt ein Wort das andere, man versucht, überschaubare gedankliche Räume sprachlich weit auszuleuchten. Was aber nicht heißt, dass Lyrik dem kleinen Gegenstand verhaftet bleibt! Man versucht, ein Wort auszuschreiben und ein anderes Wort zu öffnen, damit es in das ausgeschriebene und von dort in weitere Worte eindringen kann. Dabei entstehen zum Beispiel Neologismen. Das ist ein ganz anderes Schreiben als das von Prosa, wo man in großen gedanklichen Bögen sitzt und schwitzt und sie schließlich verlässt.
Goepper: Wie wählen Sie die eine Gattung oder die andere? Werden Sie von der Gattung gewählt, wie mir von anderen Autoren gesagt wurde?
Schmidt: Früher konnte ich nicht beides gleichzeitig machen. Ich konnte nicht heute Prosa schreiben und morgen Gedichte, das ging nicht. Inzwischen ist aber manches anders geworden, weil sich die Art meines Schreibens ohnehin stark verändert hat. In der Zwischenzeit erlitt ich einen Sprachverlust, weil ein Aneurysma in meinem Kopf platzte. Ich musste die Sprache wieder neu lernen und konnte auch fünf, sechs Jahre lang keine Gedichte mehr schreiben. Überhaupt nicht. Seit etwa zwei Jahren will es wieder klappen, und ich habe auch einen Gedichtband, der dieser Tage erscheint: Blinde Bienen11 lautet der Titel. Noch finde ich es beinahe ungeheuerlich, dass ich das wieder hervorlocken konnte. Das Schreiben ist aber trotzdem so verändert, dass ich einfach viel kalkulierter und vernunftmäßiger herangehen muss als in der Vergangenheit. Früher habe ich das alles nur nach Laune, nach Gusto und nach Intuition gemacht. Heute kann ich – oder muss mir vielleicht auch wirklich – etwas vornehmen und entscheide je nachdem, was dran ist. Wenn ich an einem Roman sitze, möchte ich ihn schon zu Ende bringen. Wenn ich aber an einer bestimmten Stelle nicht weiterkomme, dann weiche ich mitunter aus zur Lyrik, weil ich denke, dass diese andere Sprachstruktur den Text ein bisschen aufweicht und ihm einen anderen Ton gibt. Manchmal sind die Romane auch von kleinen Gedichten, von anders strukturierten sprachlichen Texten oder von lyrischen Passagen durchsetzt. Selbst in Du stirbst nicht12 gibt es so etwas. Es geht ums Meer, drei oder vier Seiten sind nur ein Satz. Solche Passagen sind eigentlich in jedem Roman zu finden. Das habe ich immer gemacht, wenn ich glaubte, mit der Prosasprache nicht mehr weiterzukommen. Nach langer Arbeitszeit an umfänglicher Prosa bin ich mir oft überhaupt nicht mehr sicher, ob sie etwas taugt, ob sie „gut“ ist, weil ich über Wochen und Monate in demselben Sprachduktus stecke. Das versuche ich durch solche Ausflüge in die Lyrik oder in lyrisches Sprechen zu durchbrechen, um vor mir selbst die Sicherheit wiederherzustellen. Danach kehre ich zurück zur Prosa und kann dann tatsächlich neu ansetzen und weitermachen. Also: regelmäßig raus, um zu sehen, ob noch was anderes geht! Ich fühle mich sowieso auf dem Feld der Lyrik viel sicherer. Das hat sicher damit zu tun, dass ich anfangs nur Lyrik publiziert habe. Wenn man die allerersten Veröffentlichungen dazurechnet, kann man sagen, dieser Anfang mit ausschließlich Lyrik dauerte zwanzig Jahre. und ich fühle mich auf diesem Feld auch nicht als naive Leserin. Germanistik oder Literaturwissenschaft aber habe ich nie studiert und betrachte mich in Bezug auf Prosa tatsächlich als eine solche.
Goepper: Was ich besonders aufschlussreich finde, ist die Tatsache, dass auch bei der Prosa die sprachliche Komponente eine zentrale Rolle hat.
Schmidt: Das kommt sicherlich genau daher, dass ich so lange „nur“ Lyrikerin war. Aber ich lasse das wirklich im Unbewussten. Ich lege mir darüber keinerlei Rechenschaft ab, weil das, wie ich gemerkt habe, zu Selbstzensur führt. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, wenn ich gerade an so einem theoretischen Gedanken sitze, überhaupt mit Schreiben anzufangen, und deswegen verbiete ich mir das, so gut es eben geht. Genauso wie ich mir verbiete, darüber nachzudenken, ob mir die Psychologie beim Schreiben was bringt. Natürlich „nützt“ sie einem in gewissem Sinne. Wenn man Selbsterfahrung hat, wenn man etwas über sich und auch über andere gelernt hat, kann es schon sein, dass es auch beim Schreiben in irgendeiner Weise hilft. Nichts hasse ich jedoch mehr als die Übersetzung psychologischer Theorie in Literatur. Ich werde mir keine Abrechnung hierüber erlauben, das muss einfach unbewusst funktionieren.
Goepper: Würden Sie das Schreiben immer noch als körperliche Auseinandersetzung bezeichnen oder ist es im Laufe der Zeit zu einem ruhigeren Vorgang geworden?
Schmidt: Das Schreiben als körperliche Auseinandersetzung hat sich in meinem Fall nun geradezu extrem bewahrheitet. 2002, als dieses Aneurysma in meinem Kopf platzte, hatte ich genau an jenem Tage die allerletzten Änderungen, Einrückungen in Koenigs Kinder für die Druckerei, an den Verlag geschickt. Als der Roman raus war, platzte das Aneurysma am selben Abend. Das spricht doch eigentlich dafür, dass der Körper unheimlich mitgeht. So, dass mein Mann immer für das nächste Buch ziemliche Angst hat. Dass das Schreiben im Laufe der Zeit zu einem friedlicheren Vorgang geworden ist, kann ich also überhaupt nicht bestätigen. 1994 war noch ganz meine lyrische Zeit, vielleicht hatte ich mich in der Lyrik so weit geübt und gefestigt, dass ich das Scheiben nicht mehr so stark als eine körperliche Auseinandersetzung erlebte, wie es sie ganz am Anfang gewesen war. Aber bei der Prosa schreibe ich mich schon ganz schön in Krisen rein, auch in körperliche Krisen. Beim letzten Buch13 allerdings stimmt es wiederum nicht. Das war ein ganz einfaches Schreiben und ich wusste überhaupt nicht, ob es gelungen sei. Ich denke nicht, dass es mein bester Roman ist, obwohl ich für ihn einen Buchpreis14 bekommen habe. Ich halte Koenigs Kinder nach wie vor für meine beste Arbeit. Das aber nur so intern, in mir selbst…
Goepper: Gehen Sie mit dem eigenen Werk immer so kritisch um?
Schmidt: Ich habe schon eine interne Liste der Wertigkeit meiner Bücher. Da liegt Seebachs schwarze Katzen an letzter Stelle und Koenigs Kinder an erster. Ich ordne ein und versuche, damit auch kritisch umzugehen. Mein erster Roman hätte auch ein deutlich stärkeres Eingreifen von Lektoren, die da gekürzt und geglättet hätten, vertragen. Er wurde in einem Begeisterungsrausch geschrieben, den ich auch in guter Erinnerung habe. Das war damals stimmig für mich. Was aber rausgekommen ist, ist möglicherweise nicht stimmig für alle, weil sich andere Leute nicht in diesem Geisteszustand befunden haben wie ich beim Schreiben. Aus heutiger Sicht ist er für mich total überladen, dadurch hat er es vielen Leuten schwer gemacht, überhaupt reinzukommen. Es gibt dennoch immer wieder Leute, die sagen:
Das war überhaupt dein bestes Buch, das war ganz toll.
Man muss sich daran gewöhnen, dass es so was gibt. Es wird immer Leute geben, die etwas völlig anderes zu meinen eigenen Sachen sagen als ich selbst.
Goepper: Haben Sie viele Kontakte zu Ihren Lesern?
Schmidt: Ständig. Das ist auch neu. Ich hätte mich noch vor einem halben Jahr als ziemlich abseits betrachtet. Was ich aber im letzten halben Jahr mit dem Buchpreis erlebt habe, ist die völlige Verkehrung. Einmal von den Verkaufszahlen her: Es sind jetzt wohl über 150.000 Bücher verkauft worden, was vorher undenkbar gewesen wäre. Nicht einmal im Ansatz. Alle anderen Bücher, die ich bis jetzt publiziert habe, sind dadurch mitgezogen worden. Sicher genieße ich die Aussicht auf ein bisschen Geld schon. Aber natürlich fällt mir immer sofort ein, wie viele gute Bücher es gibt, die gar nicht in Erwägung gezogen wurden, nicht einmal in die Auswahl um diesen Buchpreis gerieten, also hinten runterfielen. Ich sage mir:
Mensch! Kathrin, das ist Lotterie, und jetzt hat es dich getroffen, und nun genieße das doch mal.
So richtig gelingen, will es mir aber nicht. Sicherlich liegt der Erfolg von Du stirbst nicht am Thema, aber auch an dem medialen Hype, der für eine kurze Zeit darum gemacht wurde. Auch, zum Beispiel, Feuchtgebiete von Charlotte Roche oder Axolotl Roadkill von Helene Hegemann sind Bücher, die durch die Medien gehypt wurden. Oder Benjamin Lebert damals, der als Sechzehnjähriger Crazy schrieb. Das kann man aber doch nicht so ernst nehmen. Die Leute finden sich in der Vielzahl der Neuerscheinungen leider gar nicht mehr zurecht und gehen dann einfach davon aus, dass ein Buch gut und lesenswert ist, wenn es einen „großen“ Preis bekommt. Bevor man einen solchen Preis erhält, wird man normalerweise als Autor überhaupt nicht bemerkt. Es gibt sehr viele Möchtegern-Autoren, aber es gibt auch sehr viele Autoren, die wirklich gut sind und von denen kaum ein Mensch sagen wird, dass er sie kennt.
Goepper: Beschweren Sie sich, wie viele Ihrer Kollegen, über die Entwicklung des Literaturbetriebs seit der Wende? Glauben Sie auch, dass der gesamtdeutsche Literaturbetrieb zu kommerziell, zu unterhaltungsorientiert ist? Und hat das in Ihren Augen mit der Marktwirtschaft zu tun?
Schmidt: Sie haben es gerade schon gehört. Natürlich beschwere ich mich darüber. Einerseits finde ich es schon beruhigend, dass ich diesen Preis erhalten habe, doch leider ist es nur für mich persönlich angenehm. Natürlich ist der Literaturbetrieb zu kommerziell, aber das betrifft nicht nur die Literatur, das betrifft die anderen Bereiche genauso. Ob die Marktwirtschaft wirklich der Grund ist, weiß ich nicht, denn sie gibt es schon ziemlich lange. Das ist vielleicht auch der Wohlstandsmittelschicht geschuldet, die sich gebildet hat und die sich selbst in viele verschiedene Richtungen und Facetten ausdividiert. Genauso ausdividiert ist dann auch das Interesse an bestimmten Sachen. Dazu kommt noch, dass, wer heute schreiben kann, irgendwann mal ein Buch rausgibt. Wie soll man sich überhaupt noch zurechtfinden? Heute werden Bücher massenhaft produziert und auch wieder massenhaft eingestampft. Zudem sind die Methoden der großen Buchhandlungen, wie Hugendubel oder Thalia, ganz frech. Sie gehen in kleine Buchläden, bieten den Leuten Verträge an, sagen ihnen:
Ja, es läuft alles so weiter wie früher. Wenn Sie uns Ihren Laden übergeben, bleiben Sie bei uns Geschäftsführer.
Nach drei Jahren sitzen sie entweder ganz draußen, oder aber ihr Laden ist groß genug, dass sie sich von einem Verlag, der seine Bücher an prominenter Stelle in ihrem Laden liegen sehen will, eine Rolltreppe einbauen lassen. „Hat’s gegeben“, sage ich, rufe aber zugleich: „Wo gibt’s denn so was?“
Goepper: Haben Sie immer noch den Eindruck zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, dass Sie als Schriftstellerin eine ostdeutsche Spezifizität haben?
Schmidt: Natürlich, es fängt schon bei der thematischen Prägung an. Ich habe meine Prägungszeit in der DDR erlebt, und wenn ich schreibe, ist es oft im Rückgriff auf autobiografische Dinge, die man erlebt hat. Die DDR-Vergangenheit kommt immer mit rein. Mein Blick auf die Welt ist wie die jedes anderen Menschen auch durch Kindheits- und Jugenderfahrungen geprägt. Für mich ist es zum Beispiel normal, dass eine Frau arbeitet. Wenn ich aber mit mir gleichaltrige Frauen in Baden-Württemberg sehe, ist es für sie nicht normal. Für jüngere schon eher. Ich sehe auch viele Frauen, gerade in Süddeutschland, die in meine Lesungen kommen und dann begeistert sind und sich gar nicht mehr fassen können:
Und dieses schöne Buch…
Das kommt mir unecht vor. Es scheint mir aufgesetzt, diesem medialen Rummel gefolgt. Das ist eine mir noch nicht sehr vertraute Mittel- und Oberschicht, die sich im Westen den Besuch von Lesungen der Buchpreisträgerin leistet. Lesungen im Westen sind übrigens meist auch viel voller als im Osten. Natürlich sind sie auch schön. Leute sind immer dabei, die gute Fragen stellen. Trotzdem: Ich habe das Gefühl, dass ich manchmal ein bisschen von älteren Leuten im Westen als Exot aus dem Osten angeschaut werde. Ich komme mir dann vorgeführt vor wie eine Kuh an der Leine, die jetzt etwas erklären soll, was den Kühen im Westen nicht aufgeht. Aber vielleicht stimmt das gar nicht.
Goepper: Das hat jetzt mehr mit Ihrem Leben als mit Ihrem Schaffen zu tun. Meine Frage wäre, ob vielleicht im „Westen“ die Texte anders empfunden werden, weil Sie z.B. eine andere Sprache benutzen als die westdeutschen Leser.
Schmidt: Dass die Sprache nun als ostdeutsch empfunden wird, kann ich nicht sagen. Man sagt meiner Sprache nach, dass sie manchmal altertümelnd sei. Dazu kann ich nur sagen, dass ich bei einem Vater aufgewachsen bin, der sehr altertümelnd und bürokratisch sprach und schrieb. Das ist einfach eine frühe Prägung von mir, aber die gibt es im Westen ganz genauso. Es gibt allerdings heute in meinem Verlag eine wachsende Pop-Fraktion von Leuten, mit denen ich ein bisschen schwer zurechtkomme. Es sind Leute, die eine Literatur schreiben, die, thematisch sowie sprachlich, leicht eingängig, locker und flockig ist. Sie sind dann für eine kurze Zeiten vogue und schnell wieder vergessen. Von diesen Schriftstellern würde ich schon sagen, dass sie aus dem, was sie können, das Maximale rausholen. Sie verdienen mit ihrem Schreiben ordentlich Geld, aber so richtig ernst nehmen kann ich ihr Schreiben nicht. Ich nehme es zwar ernst als ihre Art, sich eine Lebensgrundlage zu schaffen, ich habe auch nichts dran herumzukritisieren. Aber Schriftsteller, die ich ernst nehme oder von denen ich was halte, haben etwas Existenzielles erfahren, das thematisch auf einen größeren Kampf verweist. Sie haben nicht dieses Seichte. Was die anderen aber angeht, möchte ich ihnen nichts wegnehmen. Wenn man sich schon der Marktwirtschaft aussetzt – und es gibt dafür einen Markt –, sollten sie das von mir aus machen. Das ist aber nicht das, was ich unter Literatur verstehe.
Goepper: Haben Sie heute in der Literaturszene Gleichgesinnte oder einfach Autoren, für die Sie sich interessieren?
Schmidt: Ja, natürlich. Das ist ganz unterschiedlich und das wechselt ständig. Ich war zum Beispiel vor ein paar Jahren in einer Jury und habe Tilman Rammstedt kennengelernt und er ist mir auch als Autor wichtig geworden, weil ich seine Art zu schreiben auf den ersten Blick witzig und lustig finde und auf den zweiten Blick immer wieder feststelle, es steckt sehr viel mehr dahinter. Das gefällt mir an ihm sehr gut. Als Lyriker finde ich Uljana Wolf oder Anja Utler ganz gut oder auch Ulf Stolterfoht und Lutz Seiler. Es gibt schon eine ganze Truppe, die meistens auch eher meinem Alter angemessen ist als die ganz Jungen. Zu denen muss ich mich hinbewegen, aber ich schaue mir auch ganz junge Sachen an, um zu sehen, wie das nachwächst. Ich kann mich gut daran freuen. Es gibt auch Dinge, die ich auf den ersten Blick überhaupt nicht verstehe, wie zum Beispiel Daniel Falb. Ich lese ihn immer wieder und versuche einzusteigen. Ähnlich ist es mir, nach dem geplatzten Aneurysma, mit Ron Winkler gegangen, obwohl er gar nicht so schwer zu verstehen ist. Damals hatte ich das Gefühl, ihn überhaupt nicht zu entziffern. Das hat mich aber so gereizt, ihm auf die Schliche zu kommen, dass ich mir jedes Buch von ihm gekauft habe und richtig eingestiegen bin. Bis ich eines Tages das Gefühl hatte, ihn geknackt zu haben und damit auch die Methode, wie er Gedichte überhaupt verfertigt. An diesem Punkt ging mein eigenes Schreiben wieder los. Ich habe ihm ganz viel zu verdanken, obwohl er davon gar nichts weiß. Weil es mir mit ihm so erging, habe ich für Daniel Falb noch Hoffnung.
Goepper: Stellen Sie sich beim Schreiben einen Leser vor?
Schmidt: Ich schreibe so versunken in mich, dass ich mir wirklich keinen Leser dabei vorstelle. Ich kann Ihnen gar nichts Weiteres dazu sagen. Ich denke einfach nicht daran.
Goepper: Warum schreiben Sie eigentlich?
Schmidt: Weil es eben mein Beruf ist. Ich finde mich inzwischen sicherer auf diesem Terrain. Es gibt schon so was wie eine Szene, ich kenne ein paar Leute und weiß auch genau, womit ich zu rechnen habe und womit nicht. Andererseits gibt es immer wieder Unwägbarkeiten. Wenn man zu einer Lesung fährt, kann man sehr überrascht werden. Das gefällt mir einfach. Vorgestern habe ich zum Beispiel in Fulda gelesen und bin erstmals ein bisschen zurückgeschreckt, als ich in den Saal kam. Er war nämlich bis auf den letzten Platz besetzt, es waren mehr als 400 Leute da, was eigentlich sehr unüblich ist. Am Sonntag habe ich in Dresden eine Rede gehalten, dort waren über 800 Leute anwesend. Es ist einfach eine völlig andere Größenordnung als früher. Bei meinem ersten Roman 1998 hatte ich in der Kulturbrauerei gelesen, damals waren zwei Leute da, und die kannte ich auch noch. Anfangs bin ich darüber ein bisschen irritiert, aber inzwischen werde ich nicht mal mehr rotfleckig beim Lesen. Wenn das Mikrofon stimmt, ist das sehr schön.
Goepper: Spielt die Vorstellung, dass Sie einmal den Text vorlesen werden, eine Rolle beim Schreiben?
Schmidt: Ja, das spielt schon eine Rolle. Ich spreche ihn oft, aber das ist eher ein Prozess der Selbstvergewisserung und hat eigentlich wenig mit dem zu tun, wem ich ihn vorlese. Einfach als innere Sprache, die einem im Mund abrollt. Die lautliche Gestalt eines Gedichts ist mir sehr wichtig. Früher, als ich sie noch bei anderen Gelegenheiten einfach so im Kopf verfertigt habe, kamen die Gedichte bei mir sehr intuitiv. Wenn ich sie aufschrieb, waren sie schon fertig und ich habe auch kaum noch etwas geändert. Diese Art von Schreiben gibt es bei mir heute nicht mehr, bis auf ganz, ganz kurze Texte, die einem gerade so in den Sinn schießen. Jetzt ist es eine richtige Arbeit geworden, und ich bin froh darüber, dass ich diese Art des Arbeitens noch kennengelernt habe. Jetzt passiert es, dass ich in einer Art und Weise oder in einer bestimmten Manier – Manier jetzt nur bildlich gesprochen –, eine Reihe von Texten immer nach demselben intuitiven Muster verfertige. Früher war das nicht der Fall. Heute mache ich es auch so aus Übungszwecken, um zu erfahren, wie weit ich damit komme oder welcher Text der Beste ist. Dieser Prozess ist viel genauer als der frühere, und im Laufe des Schreibens ergeben sich auch dadurch bestimmte Wirkmechanismen. Ich versuche, eine Methode im Gedicht zu definieren und führe sie dann in verschiedenen Varianten durch. Bei den Gedichten, die zum Beispiel Ron Winkler schrieb und die ich für mich „geknackt“ habe, sah ich, dass er immer zwei völlig gegenläufige Bewegungen miteinander verbunden hat oder jedenfalls zwei Dinge, die sich auf einem Kontinuum einmal hier und einmal da befinden, zusammengebracht hat. Er hat sie dann auch immer in überraschender Weise wieder auseinandergehen lassen. Vielleicht kann man das so beschreiben. Als ich das verstanden hatte, habe ich auch versucht, solche Gedichte zu schreiben. Im nächsten Band sind zwei oder drei dieser Gedichte enthalten.
Goepper: Als ich zu Ihnen kam, hatte ich vor, Sie zu fragen, ob sich jetzt bei Ihnen Prosa als Gattung endgültig durchgesetzt hat. Jetzt erfahre ich aber, dass Sie weiter Lyrik schreiben. 1994 erwähnten Sie ein „Misstrauen der Metapher gegenüber“. Heißt es, dass dieses Misstrauen inzwischen überwunden ist?
Schmidt: Das hat sich eigentlich fortgesetzt. Was ich damals mit „Misstrauen der Metapher gegenüber“ meinte, war ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der bis dahin vorherrschenden „Methode“, etwas durch Sprache sagen oder ausdrücken zu wollen, also einen Inhalt durch eine bestimmte Form zu transportieren. Ich habe schon damals dieses Misstrauen empfunden. Wenn ich solche Texte lese, die etwas mit Sprache transportieren wollen, das berührt mich meistens überhaupt nicht, auch wenn es gar keine so schlechten Gedichte sind. Ich gehe eher nicht mehr mit einem Gedanken oder einer Idee an ein Gedicht ran, sondern nehme die Sprache als Material und knete sie richtig durch. Dann sehe ich, während des Schreibens, was dabei herauskommt. Das ist viel überraschender, viel witziger und eigentlich auch viel erfüllender für mich. Ich stelle mir Wörter als Blasen vor, und jede Blase kann noch eine Schnittmenge mit einer anderen Blase haben. Wenn zwei Blasen sich überschneiden, entsteht ein dritter Raum dazwischen, in dem irgendetwas Neues ist, was schon beide Blasen zum Inhalt hat. So stelle ich mir das vor und gehe von einem Wort ins nächste und gucke, was aus der Überschneidung dieser beiden Wörter entstehen kann. Die Themen kommen hinterrücks in die Gedichte wieder rein. Das ist ja nicht so, dass ich über nichts schreibe, aber während des Schreibens sind Inhalte nicht in meinem Bewusstsein. Es gibt Gedichte, die ich in der letzten Zeit geschrieben habe, von denen man schon sagen kann, dass sie ein bestimmtes Thema haben. Aber während des Schreibens war es mir überhaupt nicht klar, worauf es hinauslaufen wird. Der neue Band enthält eine Reihe von Naturgedichten und eine andere Reihe von Gedichten, die sich mit „Paarbeziehungen“ beschäftigen – ich würde sie nicht als Liebesgedichte bezeichnen. Und es sind auch welche dabei, die ich sogar politisch nennen würde. Diese Dimension ist mir aber nicht mehr so präsent, wie zum Beispiel in meinem ersten Gedichtband Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik 15 oder auch im zweiten Flußbild mit Engel 16. Letzterer war schon viel politischer als der jüngste Band. Das hing damit zusammen, dass ich damals noch anders an das Schreiben von Gedichten herangegangen bin, nämlich mehr mit einem Gedanken, den ich übersetzen wollte.
Goepper: Vielleicht hatten Sie das Bedürfnis, sich in der Lyrik politisch zu artikulieren, weil Sie damals noch keine Prosa geschrieben haben? Kann es sein, dass die von Ihnen gerade beschriebene Entwicklung stattgefunden hat, weil Sie sich jetzt auch über Romane ausdrücken?
Schmidt: Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, aber es kann durchaus möglich sein. Wenn man an der Prosa sitzt, denkt man völlig anders als bei der Lyrik. Man denkt wirklich in großen inhaltlichen Bögen. Man denkt daran, was als Nächstes passiert und was als Nächstes passiert, usw., usf. Ein ganz anderes Denken und auch ein ganz anderes Sprechen als bei der Lyrik. Man hält sich auch nicht bei einzelnen Wörtern auf, oder doch nur seltener. Bei der Prosa ist das Schreiben einfach ein Fluss. Dank dieser Gattung kann ich einfach ein Thema, das mich interessiert, durchkneten und muss das nicht mehr in der Lyrik machen. Das finde ich schon sehr erholsam. Die Trennung zwischen diesen beiden Genres gefällt mir ausnehmend gut, weil man sich völlig unterschiedlich ausdrücken kann. Die Unsicherheit der ersten Jahre, die darin bestand, dass ich nicht sicher war, ob das, was ich in der Prosa schreibe, überhaupt etwas taugt im Vergleich zu dem, was ich in der Lyrik mache, ist inzwischen nicht mehr so präsent. Ich bin zwar noch ein naiver Leser, habe aber schon ein Gefühl dafür, ob ein Text funktionieren könnte oder nicht. Und dass es so auf unterschiedliche Weise geht, finde ich sehr schön. Ich könnte über die Haftzeit meines Vaters in Bautzen kein Gedicht schreiben, es ginge nicht.
Goepper: Als Sie über Haft in Bautzen in Koenigs Kinder oder Stasi in Seebachs schwarze Katzen schrieben, dachten Sie daran, Tabus zu brechen? Wollten Sie auf diese Weise die dunklen Seiten der DDR-Vergangenheit erhellen?
Schmidt: Nein, erhellen kann man nicht sagen, weil ich an solche Ziele nicht glaube. Außerdem war die Stasi kein Tabu mehr, als ich 2005 Seebachs schwarze Katzen schrieb. Natürlich gibt es noch viele Tabus über die DDR, aber die gibt es nur in bestimmten Schichten, also zum Beispiel bei ewig Gestrigen, die immer noch dem System der DDR verhaftet sind. Dort werden Sie bestimmte Dinge immer tabuisiert finden. In anderen Gesellschaften ist es aber genauso. Es gibt heute noch uralte Nazis, für die es ein Tabu ist, etwas Schlechtes über Hitler zu sagen. Ich habe bei allen Büchern einen bestimmten biografischen Reflex und bei Seebachs schwarze Katzen war es so, dass ich einen Mann geliebt habe, der bei der Stasi war, was ich nicht wusste. 1987 hat er sich mir gegenüber dekonspiriert, obwohl wir seit ewig nicht mehr zusammen waren. Seitdem war dieser Punkt klar zwischen uns. Trotzdem war es mir wichtig, das aufzuarbeiten und so habe ich mich noch einmal in ihn hineinversetzt. Es erschien mir einfach lohnend, von der Seite der Banalität in dieses Thema einzusteigen, es nicht zu verteufeln, sondern es in der Alltäglichkeit des Bösen zu sehen. Damit wollte ich zeigen, dass diese Menschen richtige, mittelmäßige Durchschnittstypen waren, die einfach irgendetwas gemacht haben, was ihnen ein anderer halt aufgedrückt hat. Sie haben das gar nicht weiter hinterfragt, sondern einfach gemacht. Ich wollte damit vielleicht auch zeigen, dass es heute so was natürlich auch noch geben kann, solche Karrieristen oder Opportunisten. Das, denke ich, war auch ein Beweggrund dafür, das zu versuchen. Bei der Prosa habe ich schon etwas vor.
Goepper: Kann man heute im vereinigten Deutschland über alles sprechen und schreiben?
Schmidt: Es gibt zum Beispiel ein großes Tabu über alleinerziehende Unterschichtsfrauen, die ein Kind nach dem anderen bekommen und mit den Kindern dann nichts anfangen können. Darüber zu sprechen ist ein gesellschaftliches Tabu. Man wird gleich als political uncorrect in die falsche Ecke gestellt und kriegt eins drüber, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es ist auch schwer, das zu artikulieren und gerecht auszusprechen, aber ich finde, es muss einfach mal ausgesprochen werden. Das ist eben, was zu DDR-Zeiten nicht gegangen wäre. Früher hätte man es gar nicht aussprechen können, ohne sofort Schwierigkeiten zu bekommen.
Goepper: Sehen Sie das als einen Gewinn der Wende, unbequeme Dinge aussprechen zu dürfen? Denn manche Autoren beklagen sich darüber, dass Sie mit dieser Freiheit den Feind von früher verloren hätten. Ihrer Ansicht nach seien die Konturen der Fronten in unserer Gesellschaft endgültig verschwommen.
Schmidt: Natürlich erlebe ich das als großen Gewinn. Obwohl es natürlich auch stimmt, dass richtige Eltern-Kind-Konflikte heute gar nicht mehr stattfinden. Ich habe mit meinen Eltern viel mehr gezankt als meine Kinder mit uns. Vielleicht werden die Konflikte auch weniger nach außen ausgetragen… Dass viele ihren Feind verloren haben, stimmt natürlich. Das hat man ja schon gesehen, als es die DDR noch gab und ihre Dichter in den Westen gingen. Drüben hatten manche plötzlich keinen Feind mehr, und ihre Gedichte wurden weder gelesen noch verstanden von irgendjemandem, weil sich mit dem Weggehen die politische Reibungsfläche, die sie auch in ihrem Schreiben hatten, erledigt hatte. Wenn sie nicht ganz flexibel waren und umsteigen konnten, kamen gerade diese Dichter, die bestimmte Sachen transportieren wollten, die Botschaften hatten und Botschaften ausdrücken wollten, nicht weiter, als sie im Westen waren. Ich denke an schwierige Zeiten bei Reiner Kunze oder auch Sarah Kirsch. Diese Dichter waren einfach nicht mehr so präsent im Westen, wie sie bei uns präsent gewesen waren. Denn damals waren sie uns tatsächlich sehr präsent, auch in viel breiteren Schichten, als Sie sich das heute überhaupt vorstellen können. Vielmehr Leute wussten einfach, wer Sarah Kirsch ist.
Goepper: Dass Sarah Kirschs Texte in vieler Hinsicht „politisch“ gelesen wurden, war doch ein bisschen verkehrt, oder?
Schmidt: Man hat sie natürlich auch für ihren politischen Protest gelesen. Ich glaube aber nicht, dass es verkehrt war, weil es in dem Moment ganz wichtig war, dass man Identifikationsfiguren hatte. Das brauchte man. Für Literatur ist es vielleicht nicht so gut, aber für den Prozess der Selbstvergewisserung in einem solchen System, ist es schon wichtig. Dennoch habe ich es allen diesen Autoren abgenommen, dass es ihnen in der DDR schlecht gegangen ist und dass sie raus mussten. Seit 1982 war ich selber Kandidatin des DDR-Schriftstellerverbandes, was für meine Verhältnisse ziemlich früh gewesen ist. Die Auseinandersetzungen, die dort stattfanden, habe ich hautnah mitgekriegt. Das war einfach furchtbar. Es war immer zweischneidig: Es gab schlechte und dann wieder gute Momente. Ich erinnere mich daran, dass man Elke Erb ausschließen wollte, wegen ihrer Parteinahme für Roland Jahn. Der Vorstand und Hermann Kant haben es versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen, das im Berliner Bezirksverband durchzusetzen. So was gab es auch. Ich selbst hätte trotzdem (noch?) nicht weggehen wollen, weil ich mich durch meine Kinder und meine Familie verankert fühlte. Außerdem hätte ich, der es nicht wirklich schlecht ging in der DDR, es ein bisschen als Verrat an den Leuten empfunden, die in der DDR bleiben müssen, das gebe ich zu.
Goepper: Leisten Sie wie die Kollegen aus der älteren Generation, die Sie gerade erwähnt haben, eine „aufklärerische“ Arbeit mit Ihren Texten? Glauben Sie z.B., dass Sie als Schriftstellerin zu einer gesamtdeutschen Identität beitragen sollten? Oder sind es Konzepte, die für Sie überhaupt nichts bedeuten?
Schmidt: Sie bedeuten mir in der Tat überhaupt nichts. Ich denke eher, dass das durch andere Leute behauptet werden kann, Kritiker oder Literaturwissenschaftler, die vielleicht etwas sehen können, was in diese Richtung geht. Von mir aus, ist es aber überhaupt nicht intendiert, ich denke nicht daran.
Goepper: Wo waren Sie am Abend des 9. Novembers?
Schmidt: Zu Hause. Ich bin immer zwiespältig, wenn ich diese Art der Erinnerung sehe, die auf den Mauerfall hinausläuft, weil er uns damals am Anfang des Prozesses 1989 eigentlich noch vollkommen unvorstellbar war. Der wäre zwar wünschenswert gewesen, also er war zwar etwas, was man wie auf einer großen Fahne vor sich hertragen konnte. Aber in dem Moment, da die Mauer tatsächlich fiel, war dieser Wunsch nicht das Entscheidende, weil uns das Kräftegleichgewicht zwischen USA und Sowjetunion noch tief in Kopf und Knochen steckte als etwas, woran nicht einfach zu rütteln war. In diesem Kontext wäre es uns nicht darauf angekommen, zu sagen:
Die Mauer muss weg.
Wir wollten einfach die DDR anders haben. Wenn ich die heutigen Feierlichkeiten sehe, denke ich immer; das wird überhaupt nicht mehr bedacht, sondern es wird jungen Leuten den Eindruck vermittelt, als sei die Beseitigung aller Grenzen das gewesen, was wir von Anfang an gewollt hätten. Das andere, das emanzipatorische Moment war aber eigentlich, dass man innerhalb der DDR etwas Eigenes wollte und vielleicht auch etwas anderes als das, was man in der Bundesrepublik nur vermutete. Man kannte sie ja überhaupt nicht. Dass das nicht mehr so richtig in der Erinnerung vorkommt, finde ich schade. Ich war auch zwiespältig bei dieser Dominoaktion: Einerseits fand ich die Kinder, die an diesen Dominosteinen unermüdlich gebastelt haben, rührend, andererseits fand ich das sehr aufgesetzt und doch etwas verfehlt.17
Goepper: Weil man die Arbeit und die Unschuld dieser Kinder instrumentalisiert hat?
Schmidt: Wenn man’s ganz hart sagen will, kann man das so sagen.
Goepper: Glauben Sie in der Tat, dass die DDR-Bevölkerung den Sozialismus reformieren wollte? Ich denke eher, sie wollte reisen.
Schmidt: Vielleicht gehe ich mehr von mir aus oder von den Kreisen, in denen ich mich bewegt habe. Es hätte einem am Anfang so vorkommen können, wenn man die Montagsdemos in Leipzig gesehen hat und gehört hat, wie sie gerufen haben:
Wir sind das Volk.
Das kippte erst an dem Tag, an dem sie geschrien haben:
Wir sind ein Volk.
Von da an war mir schnell klar, dass das Ganze kippt. Ich habe gedacht: „Wenn es anders kommt, kommt es eben anders, wir müssen einfach sehen, wie es weitergeht“ und mich dann schnell den Verhältnissen ergeben. Alles unter dem Zeichnen der großen Überraschung, die bevorsteht. Das war eigentlich eine unheimlich aufbrechende Zeit.
Goepper: Gibt es Dinge, die Sie heute wirklich wütend machen? Kann man übrigens aus Wut oder aus Hass schreiben?
Schmidt: Wut ist bei mir noch nie ein Anlass zum Schreiben gewesen. Das ist eher ein Aufsammeln einer bestimmten Thematik, die sich schon lange in einem rumwälzt, und wenn sich genug angesammelt hat, bricht sie durch. So stelle ich es mir vor. Solche bestimmte Verquickungen historischer Seiten, die man sich vorstellen kann, oder denkbare Ereignisse, die nicht stattgefunden haben, wie zum Beispiel im Roman Gunnar-Lennefsen-Expedition, das macht viel Spaß. Solche Gedankenexperimente wie: „Was wäre wenn?“ oder „Wenn das passiert wäre, was hätte dann passieren können?“, so was gefällt mir. In Koenigs Kinder sind unmögliche Konstellationen zusammengefügt worden, obwohl ich gar nicht sicher war, ob das geht. Ich hatte auch ein ganz komisches geometrisches Modell im Kopf. Ich wollte eine Geschichte aus drei Punkten erzählen, die drei Linien entwerfen, die an einen Punkt zusammenkommen und dann auch wieder auseinandergehen. Dieses Modell hatte ich während des Schreibens im Kopf
Goepper: Sie empfinden anscheinend ein großes Vergnügen am Erzählen. Ist das Vergnügen genauso stark beim Dichten?
Schmidt: Ja. Heute bin ich sehr glücklich, dass dieser Gedichtband erscheint. Er macht mir die größte Freude, egal wie er von der Kritik aufgenommen wird. Ich dachte wirklich bei dem Versuch über Jahre hinweg, ich werde nicht mehr Lyrik schreiben können. Und es ist eben schön, dass es jetzt wieder geht.
Aus Sibylle Goepper und Cécile Millot (Hrsg.): Lyrik nach 1989 – Gewendete Lyrik? Gespräche mit deutschen Dichtern aus der DDR, Mitteldeutscher Verlag, 2016
DIE FÜNF. Fragen an Kathrin Schmidt gestellt von Volker Sielaff.
René Schlott: Schratin mit Schreibblockade
Kathrin Schmidt in der Sendung „typisch deutsch“.
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