Kito Lorenc: Zu Paul Flemings Gedicht „Grab=schrifft Eines jungen Bähren / der gehetztet worden war.“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Flemings Gedicht „Grab=schrifft Eines jungen Bähren / der gehetztet
worden war.“ aus dem Band Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. –

 

 

 

 

PAUL FLEMING

Grab=schrifft
Eines jungen Bähren / der gehetztet
worden war.

Ich / der ich klein und jung von meiner Mutter kahm /
Von welcher mich die Macht des strengen Bauren nahm /
Ward in der Stadt verkaufft; daselbsten mich zu üben /
was in der Dienstbarkeit für Freyheit wird getrieben.
Für wilde ward ich zahm. Begriffe manche Kunst:
doch thäte mir die Welt darfür gar kleine Gunst.
Ich weiß von keiner Schuld / als daß ich allzukühner
erhascht hab / und verzehrt so manche schöne Hüner.
Mein gantzes Leben war ein steter langer Tantz.
Zuletzt kriegt’ ich noch darvon den Märtrer Krantz.
Sol euch nicht seyn / wie mir / ihr Brüder und ihr Schwestern
So bleibet / wie ihr sollt / in euren wilden Nestern.

 

Gedicht-Geschichten

Dieses Gedicht rührt mich an, und ich will versuchen herauszufinden, warum. Daß es von Paul Fleming verfaßt wurde, muß ich dazu nicht wissen, auch nicht, daß ich es in einer Anthologie gefunden habe, unter wenigen anderen Gedichten von ihm. Man merkt beim Lesen, die Sprache ist z.B. in bestimmten Vergangenheitsformen – älter; noch ist sie uns aber verständlich, und das genügt. Man muß bei diesem Gedicht auch nicht die Entstehungszeit oder ähnliche Umstände kennen oder verstehen, etwa die zeitgebundene Bedeutung von Dienstbarkeit im Sinne von Untertänigkeit, Leibeigenschaft. Jedenfalls muß ich das auch nicht wissen, um angerührt zu sein. Und es widerstrebt mir, käme mir gar ungehörig vor, mich dem Gedicht jetzt zu nähern etwa durch die Beschreibung der Versform, also dass es in den herkömmlichen Alexandrinern verfaßt ist usw.. Ich wäre gleichsam in die Lage des Medizinstudenten versetzt, der beim Anatomiekurs im Seziersaal plötzlich den Leichnam seines tödlich verunglückten Freundes auf dem Tisch vorfindet, und am Vorabend waren sie noch zusammen aus… Diese krasse Vorstellung erscheint mir hier nicht willkürlich, denn ähnlich überraschend fallen mir zu dem Gedicht bestimmte Geschichten oder Erlebnisse ein, steigen als Erinnerungsbilder jetzt eben in mir auf und stimmen mich wehmütig; das Gedicht ,stimmt‘ mich wie eine Stimmgabel Saiten meiner Seele anrührt und mitschwingen läßt. Es beginnt schon bei der ersten Zeile, da steigt eine Melodie, ein trauriger Singsang in mir auf, den ich oft hörte vor vielen Jahren, von einer jungen Mutter und ihrem kleinen pummeligen Sohn, der noch kaum sprechen konnte, jedenfalls keine ganzen Sätze. Die Mutter sang leise und liebevoll für ihn:

Ich bin ein dicker Tanzbär
und komme aus dem Wald.
Ich such mir eine Frau aus
Und finde sie auch bald.
O wir tanzen leicht und fein
Von einem auf das andre Bein…

Und der kleine Junge sang nur hier und da ein Wort mit, das er behalten hatte oder beinahe aussprechen konnte, meist aus dem Endreim, aber dann mit viel Nachdruck, als wollte er das Versäumte noch schnell nachholen, vielleicht auch vergessen machen. Ich glaube sogar, dieser kleine Junge war musikalisch nicht allzu begabt, doch dieses Lied hatte er sehr, sehr gern. Jetzt ist er längst ein erwachsener Mann, und dennoch, wenn mir jener Singsang mit seiner Mutter einfällt wie eben bei Flemings Gedicht, dann wird mir warm und wehe ums Herz und ich beginne, diesen jungen Tanzbären des Gedichts zu lieben wie einen Sohn. Hoffentlich, denke ich dann vielleicht mit Flemings Verszeile, muß er nicht am Ende auch sagen:

Mein ganzes Leben war ein steter, langer Tanz.

Hier kommt mir eine andere, die Erinnerung an einen ausländischen Tänzer in den Sinn, der in einem heimischen Folkloreensemble mitwirkte, wie es sie nach sowjetischem Estradenvorbild in der DDR gab. Er hat auch so ,manche schöne Hühner‘ allzukühn erhascht unter den Elevinnen des Ensembles und musste dafür zwar nicht mit dem ,Märtrerkranz‘ büßen, doch die Entlassung in seine Heimat kam einer harten Strafe, dem sozialen Abstieg gleich. Sollte er da wohl von vornherein in jenen ,wilden Nestern‘ seiner slowakischen Berge hocken bleiben? Und jetzt ist der Fortgang solcher Assoziationen kaum mehr aufzuhalten. Eine Jugendliebe fällt mir ein. Das Mädchen erzählte mir, sie sei von zu Hause weggelaufen, ,durchgebrannt‘, einem Wanderzirkus nach, der in ihrem Dorf gastiert hatte. Eigentlich einem hübschen braunen Kerl… Und ich sehe den ,Erbsstrohbären‘ vor mir, eine Figur aus den Fastnachtsumzügen meines Heimatdorfes, denen wir als Kinder begeistert nachliefen, dörferweit.
Um nicht ganz abzuschweifen, lese ich mich wieder in Flemings Text zurück und bleibe schon in der zweiten Zeile hängen bei der ,Macht der der strengen Bauern‘, die dem Bären so übel mitspielten. Härte im Umgang mit Tieren gar noch mit wilden, habe ich als Kind an manchen Bauern beobachtet, ohne dabei ihr eigenes hartes Dasein zu bedenken. (Einem solchen, der in unsrer Nachbarschaft seine Stute grausam schlug, weil sie eine zu schwere Last nicht fortbrachte, entriß mein Vater die Peitsche und zog ihm damit zu meiner großen Genugtuung selber ,eins über‘.) Hühnerhalter reagieren, wie Flemings junger Bär erfahren musste, besonders empfindlich auf die Gefährdung ihres Bestandes. Davon kann ich ein Lied singen, oder doch ein Gedicht anbringen. Warum soll ich, wenn ich ein fremdes Gedicht lese, als Gedichteschreiber nicht auch an ein eigenes denken dürfen? Es geht so:

GROSSVÄTERCHEN IN KROATIEN AM MEER

hat seinen Hund erschlagen
weil der nachts bellte
unten vor der Hütte
Jetzt schlafen die Sommergäste
durch oben im neuen Haus
Nur heut Nacht nicht
da hat der Marder
alle Hühner geholt
weil der Hund nicht bellte
weil die Hühner nicht kreischten
als sie der Marder holte
Drum poltert Großväterchen
Unten vorm Hühnerstall
In aller Herrgottsfrühe
zetert er: Touristen verfluchte!
Verfluchtes Kroatien am Meer!

Hier sollte ich nicht abbrechen, und muß es dennoch tun, sonst hat es kein Ende mit den Gedicht-Geschichten. Nein, wir haben dich nicht gehetzt, junger Bär, auch nicht nach Kroatien am Meer…

Kito Lorenc, aus Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. Die Lebensreise des Paul Fleming in seinen schönsten Gedichten. Herausgegeben von Richard Pietraß unter Mitarbeit von Peter Gosse, Projekte-Verlag Cornelius, 2009

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