Kurt Drawert: Zu Nicolas Borns Gedicht „Stilles Leben“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nicolas Borns Gedicht „Stilles Leben“ aus dem Band Nicolas Born: Gedichte 1967–1978. –

 

 

 

 

NICOLAS BORN

Stilles Leben

Versicherungsbeton wächst höher in den Zahlenhimmel.
Bitte eine Boulette, aber schön scharf!
Geschwollene Beine in der U-Bahn
schöner blauer Havelhimmel
Gift nach dem Gießkannenprinzip
gefrorene Eisprinzessinnen im Europacenter
dampfende Pappbecher
schöne Mundharmonika im Fernsehspiel
flaue Filmemacher
graue Senatoren
ratternde Flipper in den Spielhallen.

Fühlst du dich auch so großartig?
So großartig bevorzugt? Es ist das Gefühl
aaanoch Gefühle zu haben.
Hast du auch eine soziologische Freundin?
Mensch, du sitzt so gut wie in der Zelle,
hast dir auch nur ein Fenster an die Wand gemalt
aaaoder siehst du noch was?

Schon wieder ein Kugelschreiber verloren oder
aaalösen die Dinger sich auf.
Gib mir den andern Schlüssel zu deiner Wohnung.
Hier, faß mal an! Das ist wahr, was du hier fühlst,
endlich Realität die man wie Theorie
aaain den Mund nehmen kann.
Einmal nach dem Krieg ist mein Schuh in der Straße
aaasteckengeblieben; stundenlang hab ich
aaaden anderen im Arm beweint.
Vielleicht schreib ich mal was über die Traumwelt
aaader Millionenerben, die vollkommen ungegenständlich
aaaarbeiten: sie schieben bloß Metaphern herum.
Aber eines Tages werden alle Bilder wahr: eine
vollkommene Frau auf meinem Sofa, so eine Große,
aaaTraurige, mit makelloser Haut, eine Unmißverständliche
wie sie vorläufig in Illustrierten liegt
auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.

 

Nicolas Born: Stilles Leben

War das deutschsprachige Gedicht (die besondere Entwicklung, die es in der DDR genommen hatte, bleibt in diesem Zusammenhang unberücksichtigt) bis dahin zunehmend verschlossener, lakonischer, auch artistischer und – an den Rand des „tönernen Schweigens“ (Adorno) gedrängt – inkommensurabler geworden, so deutete sich 1968 mit Erscheinen des Bandes Alltägliche Gedichte von Karl Krolow (geb. 1915) ein Verständniswandel an. Nicht das hohe Experiment mit den Silben, die absolute Metapher oder das vollkommene Verschwinden des Subjektes im Text waren bestimmend für diese Gedichte, sondern die Zuwendung, wiewohl hier auch noch im leisen, unaufdringlichen Ton, zur Anwesenheit des einzelnen mit seinen täglichen Verrichtungen, seiner Hinfälligkeit, seiner profanen, physischen Existenz. Damit war eine Salontür geöffnet, die dem unvermittelten sinnlichen Reflex und dem authentischen Erlebnis des Augenblicks den Zutritt in den Raum des Gedichtes verwehrt hat. Eine jüngere Generation hebt sie dann aus den Angeln, ein ästhetischer Vorgang, der bald schon als Neue Subjektivität in die Geschichte der Literatur eingehen wird und den zuvörderst Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born (1937-1979) bestimmen. Sie entdecken in den Metropolen New York und San Francisco ein von allen europäischen Konventionen befreites lyrisches Sprechen, das die Enttäuschungen über die gescheiterte politische Entwicklung am Ende der sechziger Jahre aufzunehmen vermag und ein Lebensgefühl unverstellt mitteilt. Der unprätentiöse, direkte, bis zum Jargon gehende Ausdruck hatte eine selbstreferente Poesieauffassung ersetzt, wie sie gerade in der Nachfolge Gottfried Benns für das deutsche Gedicht vorherrschend war. Anlaß des Gedichtes war das Produktionsereignis, die Organisation des Stoffes blieb von sekundärer Bedeutung. Das so gedrosselte Selektionsniveau ließ das Gedicht durchlässiger, auch poröser und rhetorischer werden, Wertehierarchien wurden nivelliert, Normen zerschlagen. Darin sieht Brinkmann eine Demokratisierung des Gedichtes, das, den luftigen Höhen einer Elite enthoben, wieder Kontakt herzustellen vermag. Er übersetzt Frank O’Hara (1926-1966), gibt die erste Anthologie junger amerikanischer Lyrik heraus, macht die Beat generation für den deutschen Kulturbetrieb hoffähig. Nicolas Born schreibt zur selben Zeit:

Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; die rohe, unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie.

Das wirkte auf das enggewordene, reaktionsgehemmte deutsche Gedicht wie eine Offenbarung, und das verdrängte, verleugnete, halbvergessene Subjekt begann, sich zu feiern.
Im Unterschied aber zu jenem amerikanischen Fest, dem schon seit Walt Whitman ein Pathos und Optimismus beigegeben war, blieben der Feier des Subjektes im deutschen Gedicht die Gäste aus, bis es am Eingeständnis seines Nichtvorhandenseins ganz langsam entschlief. Die Neue Subjektivität blieb mehr Form, Geste und rhetorische Attacke, als daß sie hätte traditionsbildend werden können, denn allein der Hintergrund fehlte. Aber sie steckte auch Grenzen neu ab, erweiterte den Begriff und riß das Gedicht aus seinem konservativ werdenden Kokon.
Als für die Neue Subjektivität repräsentativ gilt Borns „Stilles Leben“. Das Gedicht ist in gewisser Weise eloquent und fügt assoziative Gedankensplitter mitunter auch willkürlich zusammen. In seiner Durchlässigkeit und Anhäufung von Stoffen, die eher auseinanderströmen und es zu zerreißen drohen, finden sich poetische Kontraktionen, die es gleichsam halten und ausbalancieren. Während die Zeilen 3 bis 11 recht beliebig dahingehen und spannungslos sind, zieht sich das Gedicht mit dem Beginn der zweiten Strophe geradezu zusammen, so als spürte es seine Gefährdung. Vorher hatte es uns nichts anderes geboten, als die Wahrnehmungsperspektive der Denkfigur – an einem Stehimbiß inmitten von Berlin – preiszugeben und ihr durchaus austauschbare Einzelheiten zuzuordnen. Nun aber verschwinden die Person und ihre Realwelt in die Wirklichkeit des imaginierten Textes, ein tatsächliches und dinghaftes Vorhandensein ist von Einbildungen nicht mehr zu trennen. So wird der Beginn der zweiten Strophe zu einer Quasi-Anrede, die eher den Leser meint als eine vorkommende zweite Person. Auch die direkte Aufforderung:

Hier, faß mal an! Das ist wahr, was du hier fühlst,
endlich Realität die man wie Theorie
in den Mund nehmen kann

ist an niemanden gerichtet und läßt den einsamen Vorsichhinsprecher an den Krieg denken, plötzlich und unvermittelt, an den Verlust eines Schuhes. Und natürlich illusioniert sich das lyrische Subjekt, setzt es sich über seine eigene Zellensituation, in der es gegen das gemalte Fenster an der Wand spricht, hinweg. Es erfindet sich Kontaktpersonen, wie es sich auch nicht scheute, auf dem Hintergrund „flaue(r)“, „graue(r)“ und „ratternde(r)“ Erscheinungen schöne Empfindungen zu haben. Und allein die eingebildete Anwesenheit, die das Subjekt im Gedicht zweifellos seiner „soziologische(n) Freundin“ von Zeile 15 verdankt und die das bittere Ergebnis jener Bevorzugung ist, die sich als „das Gefühl, / noch Gefühle zu haben“ darstellt, sie endet mit Zeile 20. Realität und Scheinbarkeit fallen untrennbar ineinander. Wie die Millionenerben nur Metaphern schieben, so sind Metaphern schließlich auch tauglich, die Materie zu übernehmen. Am Ende ist alles ein Bild, eine Erfindung, eine Illustriertenvorlage. Der naive Ausruf im Stile verstaubter UFA-Filme eine Minute vor Schluß, „Aber eines Tages werden alle Bilder wahr:“, wird nachträglich zur zynischen Bemerkung. Das Ende des Gedichtes, der „Höhepunkt der Karriere“ auf der Ebene des zum Abbild erstarrten, reproduzierten Lebens, macht alle Illusions- und Täuschungsversuche, die das Gedicht bis hierhin begleitet haben, zunichte. Es stellt rückwirkend sogar die den ganzen Textablauf beeinflussende Behauptung in Frage, daß das Gefühl, noch Gefühle zu haben (Zeilen 12 bis 14), zu den nennenswerten Bevorzugungen gehört. Denn in diesem ,Stillen Leben‘ bleibt jeder allein und spricht mit sich selber. Und schließlich wirft es seinen traurigen Schatten voraus auf ein Lebensgefühl, das der Vermitteltheit von Erfahrung nicht einmal mehr die Illusion zur Seite zu stellen vermag, sie sei nicht durch das vielfache Prisma der Medien und Agitationen gegangen.

Kurt Drawert, aus Peter Geist, Walfried Hartinger u.a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne, Volk und Wissen Verlag, 1992

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