Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Blick über die Grenzen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Blick über die Grenzen

Jordan, Marquardt-Woesler-Lyrik – Blick über die Grenzen

VON VORBILDERN UND POETISCHEN REVERENZEN

– DDR-Autoren im lyrischen Gespräch mit sowjetischen Dichtern. –

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Die Frage, welche Wirkungen die sowjetische Lyrik auf die Dichtung der DDR hatte und inwieweit diese Elemente aus der russischen Tradition übernommen wurden oder an sowjetischen Vorbildern sich orientiert haben, fand bisher keine ausreichende Beantwortung, ja sie wurde (sieht man einmal von den Arbeiten Fritz Mieraus und einigen wenigen anderen Untersuchungen ab) nicht einmal in genügender Deutlichkeit gestellt. Zwar fehlt es in der einschlägigen Forschungsliteratur nicht an Hinweisen auf den Majakovskij-Einfluß etwa im Werk Kubas, Volker Brauns oder Paul Wiens’. Auch wird man in der DDR nicht müde, den Internationalismus der sozialistischen Poesie und die Schrittmacherrolle der sowjetischen Literatur zu betonen, doch bleibt es in der Regel bei solch pauschalisierenden Aussagen. Und dies nicht ohne Grund; denn literarische Paten- und Nachfolgeschaften lassen sich, speziell wenn ein Transfer von einer Sprache und Kultur in eine andere „dazwischengeschaltet“ ist, nur höchst schwer nachweisen und – da meist gleich mehrere im Spiel sind – nur höchst schwer auseinanderhalten. „Auf sehr schwierige Weise kreuzen sich die Einflüsse im Werk der Dichter“, bemerkte Sergej Tret’jakov auf einem Lyrik-Plenum des Sowjetischen Schriftstellerverbandes 1936:

Man sehe nur, wie sich bei Puschkin die Märchen der Kinderfrau Arina Rodionowna, französischer Einfluß, Shakespeare begegnen; und wenn man nur einen flüchtigen Blick auf Majakowski wirft, dann zeigt sich: Nekrassowsche Noten, rhetorische Rede, die Schärfe des Witzes, Einfluß Rimbauds plus die Grundlage – Majakowski selber, denn der Dichter ist kein Cocktail, gemixt aus verschiedenen Alkoholen, sondern ein Tiegel, in dem eine komplizierte Legierung geschmolzen wird, in die auch der Tiegel mit hineinkommt.1

Angesichts der Vielfalt wirksam werdender Komponenten und der Gebrochenheit der Übergänge müssen Theorien über glatte, gerade Erbe-„Linien“ versagen2 und bedarf es einer schwierigen Spurensicherung und mühsamen Indiziensuche. Die folgenden Ausführungen lassen sich nur am Rande auf dieses komplizierte Unternehmen ein und beschränken sich bei der Frage nach den lyrischen Traditionsbezügen Sowjetunion-DDR in erster Linie auf den besonders prägnanten Ausschnitt der poetischen Reverenzen, die DDR-Lyriker ihren sowjetischen Kollegen in Widmungs- und Porträtgedichten erweisen. Um deren Besonderheiten erfassen zu können, gilt es zunächst, einige Grundzüge der Rezeptionsgeschichte sowjetischer Lyrik in der DDR nachzuzeichnen.

In den fünfziger Jahren erschien den westdeutschen Literaturwissenschaftlern und -kritikern der enge Bezug der DDR-Literatur zur sowjetischen nicht nur als fraglose Gegebenheit, er wurde oftmals sogar als direktes Abhängigkeitsverhältnis bewertet, was bis hin zu Äußerungen wie der folgenden reichte:

Diese ganze, so seltsam aufgezäumte Lesestoff-Fabrikation ist ja nicht deutsche Literatur, sondern eine deutschsprachige Abteilung der sowjetischen Literatur, eine besonders scheinheilig auftretende Unterabteilung der auswärtigen Kreml-Politik.3

Die das westliche Bild von der DDR-Lyrik bis weit in die sechziger und teilweise noch bis in die siebziger Jahre prägende These von der durch die Institutionalisierung des sozialistischen Realismus vollzogenen „Sowjetisierung der DDR-Literatur“ hat jedoch wörtlich genommen gerade für die fünfziger Jahre keinerlei Berechtigung. Zwar entsprachen die damaligen kulturpolitischen Maßnahmen und literaturtheoretischen Postulate zu weiten Teilen einer Literaturauffassung, deren Zdanovsche Herkunft nicht zu leugnen ist. Doch konnte zu jener Zeit von einer tiefergehenden Aufarbeitung sowjetischer Literatur in der DDR – gerade aufgrund dieser Prämissen – nicht die Rede sein.
Dies gilt auch für die Rezeption Majakovskijs, dessen Name lange Zeit nahezu synonym für Sowjetlyrik überhaupt stand. Man stilisierte ihn zum titanischen Sänger der Revolution und zum Schrittmacher des sozialistischen Realismus, eine Stilisierung, die jegliche kritisch-produktive Auseinandersetzung mit seinem Werk sehr erschwerte. Bei den jüngeren DDR-Lyrikern reduzierte sich die Rezeption Majakovskijs dann im wesentlichen darauf, seine Schreibweise zu kopieren. Ein 1959 in der Anthologie Sputnik contra Bombe veröffentlichtes Gedicht Rudolf Bahros ist bezeichnenderweise programmatisch „Verse vom Roten Stern in Majakowskis Manier“4 betitelt. Eklektizismus und Imitation bestimmten die literarischen Erbeverhältnisse jener Zeit, nicht der souveräne Umgang mit der Tradition, was sich auch in der lange Jahre hindurch negativen Bilanz der Übersetzungen widerspiegelt. Als Grund dafür nennt Fritz Mierau in einem 1966 erschienenen Aufsatz die „Inkongruenz der deutschen und russischen nationalen Entwicklung“:

Wenn wir danach fragen, warum eigentlich in den fünfzehn Jahren der Weimarer Republik und im Grunde auch noch lange Jahre nach 1945 bis weit herein in unsere Tage die sowjetische Lyrik nicht ihrer revolutionären Größe gemäß begriffen und übersetzt worden ist, wenn wir also nach den Null-Vorgängen fragen, so stoßen wir auf eine lange Reihe von Mißverständnissen, die alle darauf zurückgehen, daß die sowjetische Poesie eine gewaltige Antizipation vollbrachte, deren Erkundung heute noch andauert. Diese Poesie ist… auf die verschiedenste Weise, meist unbewußt, korrigiert oder ,zurückgenommen‘ worden – formalistisch, pseudovolkstümlich oder modernistisch. Heute erst steht endlich eine umfassende deutsche Majakovskij-Ausgabe bevor. Heute erst wird Sergej Esenin deutsch wirklich begriffen… Heute erst ist an eine wirkliche Blok-Ausgabe zu denken. Pasternak, Bagrickij, Achmatova, Cvetaeva, Lugovskoj, Mandel’štam, Tichonov, Chlebnikov und Gumilev stehen aus.5

Von auslösender Bedeutung für die Popularisierung sowjetischer Poesie in der DDR war die 1965 von Fritz Mierau besorgte Herausgabe des Mitternachtstrolleybus6, einer Anthologie neuer sowjetischer Lyrik, an deren Nachdichtung praktisch alle namhaften DDR-Lyriker beteiligt waren. Der Mitternachtstrolleybus – so benannt nach einem Lied Bulat Okudžavas – bewirkte zusammen mit einigen weiteren Anthologie-Editionen7 eine rege Übersetzungs- und Nachdichtungstätigkeit von Autoren wie Sarah und Rainer Kirsch, Adolf Endler, Paul Wiens, Karl Mickel, Heinz Czechowski, Elke Erb und Jens Gerlach. Mit der „Weißen Reihe“ („Reihe Internationale Lyrik“) des Verlags Volk und Welt, dem von Bernd Jentzsch 1967 begründeten Poesiealbum und den Lyrikpublikationen des Reclam Verlags wurde versucht, Versäumnisse auf dem Gebiet der Veröffentlichung internationaler Lyrik wettzumachen. Hier tauchen auch erstmals wieder Namen auf, die über lange Jahre tabuisiert waren. Es begann, wie Adolf Endler hervorhebt, „die Wiederentdeckung von Dichtern und Stilen, die man ,überwunden‘ zu haben glaubte, die Wiederherstellung eines poetischen Spannungsfeldes, in dem Majakowski, aber auch seine künstlerischen Antipoden wie Anna Achmatowa und Sergej Jessenin zu ihrem Recht kommen… Auseinandersetzungen wurden wieder aufgenommen, die zum Schaden der Poesie vorzeitig abgebrochen worden waren.“8
Für die plötzliche „Entdeckung“ der sowjetischen Lyrik in der DDR um das Jahr 1965 können verschiedene Gründe geltend gemacht werden. War man in der DDR in den fünfziger Jahren weder in politischer noch in literarischer Hinsicht dazu in der Lage gewesen, die von der frühen Sowjetkunst angebotenen Modelle wirklich zu nutzen (zumal angesichts der Tatsache, daß Deutschland vom Faschismus befreit wurde, ein revolutionäres Bewußtsein und eine nationale Identität nur schwer zu entwickeln waren), änderte sich dies in gewisser Weise in den sechziger Jahren. Die neue Generation von DDR-Lyrikern, die sich nun zu Wort meldete, forderte selbstbewußt und mit provokativer Ungeduld die Einlösung des Versprechens auf eine sozialistische Gesellschaft und attackierte das selbstzufriedene Sich-Begnügen mit dem Erreichten. Damit erhielt die frühe Sowjetliteratur – das Konzept sozialistische Gesellschaftsveränderung und revolutionäre Literatur – neue Aktualität. Um von der einseitigen Interpretation dieses Konzepts in der Ästhetik des sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung freizukommen, war die Rekonstruktion des gesamten kulturellen Kontextes der damaligen Epoche, der literarischen Debatten sowie der je unterschiedlichen poetischen Umsetzungs- und Verarbeitungsmodelle jener Zeit von elementarer Bedeutung. Diese Rekonstruktion wurde indessen erst durch die mit dem XX. und XXII. Parteitag der KPdSU (1956 und 1961) eingeleitete Rehabilitierung von in der Stalinära verfemten Autoren ermöglicht. Von daher erklärt sich die Renaissance solcher Namen wie Anna Achmatova, Boris Pasternak und Osip Mandel’štam. Sie wurde ergänzt durch die aufsehenerregende Wirkung junger Dichter wie Evgenij Evtušenko (Jewtuschenko) und Andrej Voznesenskij, deren Werk dem politischen Impetus und dem literarischen Gestus nach ohne die literarischen Experimente der zwanziger Jahre ebenso undenkbar wäre wie außerhalb des Zusammenhangs Entstalinisierung – Chruščevära: erinnert sei hier nur an die Gedichte „Die Erben Stalins“ und „Babij Jar“ (eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Sowjetunion) von Evtušenko.
Mit der schrittweisen Differenzierung des Erscheinungsbilds der Sowjetliteratur bot sich den DDR-Lyrikern nun auch ein gegenüber den fünfziger Jahren stark erweitertes Spektrum literarischer Muster und poetischer Sprechweisen, an die man anknüpfen, die man für das eigene literarische und gesellschaftliche Anliegen funktionalisieren und produktiv nutzbar machen konnte. Nicht zuletzt daraus erklärt sich, warum man die Übertragungen nicht professionellen Übersetzern überließ, sondern profilierte DDR-Lyriker, von denen einige über gute Russischkenntnisse verfügen, sich selbst dieser Aufgabe annahmen.

2
Die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Lyrik hat sehr verschiedene Formen angenommen, von denen im folgenden zumindest einige knapp beschrieben werden sollen.
Wo direkte Anlehnungen vorkommen, ist zu beobachten, daß von den DDR-Lyrikern wohl die Thematik, die Art, in der ein bestimmtes Thema diskutiert wird und der sprachliche Gestus etwa Majakovskijs, Evtušenkos oder Voznesenkijs übernommen wird, die Verstechnik und Lautgestalt dem russischen Vorbild in der Regel jedoch nicht entspricht. Dies hängt ursächlich mit den unterschiedlichen Struktureigenschaften der russischen und deutschen Verssprache zusammen. Der fremdartige Charakter der russischen Lyrik beruht in erster Linie darauf, daß der Klang, der in der westlichen Lyrik des 20. Jahrhunderts weitgehend aufgegeben wurde, in der russischen Moderne geradezu als Vehikel der Formsprengung diente. Die „lautliche Instrumentierung“ spielt dabei besonders in Form von Alliterationen und Binnenreimen bis heute eine sehr gewichtige Rolle in der sowjetischen Lyrik, die weiterhin geprägt ist durch die Verstechnik der Assonanz, welche – von Majakovskij und Pasternak durchgesetzt – auch in der neuesten Lyrik noch ein sehr verbreitetes Verfahren ist.
Zur Verdeutlichung werden im folgenden die Anfangszeilen von Evtušenkos „Ljubimaja, spi…“ (Freundin, schlaf…) und Mickels Nachdichtung dieses Gedichts zitiert:

Solenye bryzgi blestjat na zabore.
Kalitka uže na zapore.
I more,
dymjas’ i vzdymajas’ i damby dolbja,
solenoe solnce vsosalo v sebja.9

Die auffälligen Reime (zabore, zapore, more / dolbja, sebja) und die gekonnt eingesetzten lautmalerischen Effekte wurden in der Übertragung aufgegeben wie auch notwendigerweise die Syntax verändert und die zweite Zeile des Originals sogar ersatzlos gestrichen wurde. Bewahrt wurden dagegen in nahezu wörtlicher Übersetzung die expressiven Bilder:

Am Zaun der salznen Spritzer Glanz. Das Meer
Verschluckt hat es die Sonne, hebt sich, dampft
Und unterwühlt die Dämme. Freundin, schlaf:

Die Tatsache, daß Karl Mickel die 1965 für die Anthologie Zwei und ein Apfel geschriebene Übertragung von Evgenij Evtušenkos „Ljubimaja, spi…“ in Vita nova mea (1966) und noch 1976 in einen Auswahlband seiner Gedichte aufnahm10, zeigt, wie er die in die Nachdichtung einfließende interpretatorische Neuformulierung des Originals als selbständige dichterische Leistung wertet.
Dem von Mickel gewählten Verfahren der Adaption sei ein anderes Verarbeitungsmuster an die Seite gestellt, das Jens Gerlach in seiner Auseinandersetzung mit Andrej Voznesenskij bevorzugt: die Methode des Dialogs. Parallel zur Tätigkeit des Nachdichtens – 1967 erschien Gerlachs Übertragung von Voznesenskijs „Antimiry“ (Antiwelten) – entstand der Gedichtzyklus „Briefe an Andrej Wosnessenski“, welcher der poetologischen Selbstfindung und Rechenschaftsablegung des DDR-Dichters gegenüber dem sowjetischen Kollegen dient. Der sechste dieser Briefe trägt in deutlicher Anspielung auf Voznesenkijs Verfahren der „lyrischen Abschweifung“ den Titel „Elegischer Seitensprung“. Wenn es dort eingangs heißt: „Heute komm ich zu dir mit Zweifeln und Sorgen“11, so zeigt diese sehr persönliche Anrede wie überhaupt die Briefform, daß hier ein direktes poetologisches Zwiegespräch beabsichtigt wird.
Generell läßt sich beobachten, daß bei der Rezeption sowjetischer Lyrik in der DDR die poetische Affinität das verdeckte Leitmotiv ist. Übernahmen und Beeinflussungen sind stets nur dort zu beobachten, wo das eigene Werk dem jeweiligen sowjetischen Vorbild als in der einen oder anderen Weise verwandt betrachtet wird. Den genannten Beispielen Voznesenskij – Gerlach. Evtušenko – Mickel ließen sich zahlreiche weitere hinzufügen.
Zu erwähnen ist, daß keineswegs nur Lyriker als literarisches Gegenüber akzeptiert werden. In Wulf Kirstens Gedicht über Konstantin Paustovskij wird die Manier des berühmten Erzählers, Landschaften und das in ihnen verwurzelte Leben der Menschen zu schildern, von dem Lyriker Kirsten als wegweisend für die eigene Arbeit vorgestellt:

tief heraufgeholt von der fischweide.
aus den sumpfseen, die von grindwurz bestanden –
erinnerungen an zerredete werte,
erinnerungen an vieler dinge überlebensdauer.
kein wort von sterblichkeit!
aufzählen wollt er noch einmal am fließ
jedes kraut, jeden halm.
erde, von deinem antlitz
ging des poeten rede
.12

Das Abstecken von poetischen Verwandtschaftsverhältnissen mittels Nachdichtung und Rezeption hat auch zu einem höchst interessanten deutsch-russischen Dialog der Lyrikerinnen geführt. So erhält z.B. Bella Achmadulinas Lyrik durch ihre Vermischung von Realität und kühnen, traumhaften Bildern für Eva Strittmatter wegweisende Bedeutung:

Ich grüße Achmadulina,
Die schöne schwarze Schwalbe.
Die Schwalben machen sehnsuchtskrank.
Wie leicht möchte man flüchten
Ins Bella Achmadulinland.
Da muß es sich gut dichten.
13

In ähnlicher Weise sind sich Novella Matveeva und Sarah Kirsch in der „spielerische[n] Relativierung der Verhältnisse“14, in der phantastischen Verfremdung von Dingen und Vorgängen verwandt. 1968 erschien in der Reihe Poesiealbum ein Bändchen mit Gedichten Matveevas, von Sarah Kirsch übersetzt. Von noch zentralerer Bedeutung war für sie jedoch die Auseinandersetzung mit Anna Achmatova, über die Adolf Endler schrieb:

Sicher ist Sarah Kirsch auf den Ernst der wesentlichen Poesie u.a. verwiesen worden von Anna Achmatova, der sie als Nachdichterin gedient hat und von deren Werk sie schroff vor die Frage der poetischen Wahrhaftigkeit gestellt wurde.15

Solche Verbindungen manifestieren sich indes nicht in direkten Anlehnungen und augenfälligen Bezügen, sie hinterlassen vielmehr in kaum sichtbarer, nichtsdestoweniger jedoch wirksamer Form ihre Spuren in der Werkstruktur, der Haltung und dem Tonfall.
Ein Spezialfall des Widmungsgedichts, um zu diesem Themenkomplex zurückzukehren, liegt dort vor, wo mittels des literarischen Zitats ein knapper Verweis auf ein bestimmtes Werk gegeben und dieses dadurch in das Gedicht einbezogen wird. So erinnert Johannes Bobrowski in „Holunderblüte“ an Isaak Babels autobiographisch gefärbte Kurzgeschichte „Die Geschichte meines Taubenschlags“:

Es kommt
Babel, Isaak.
Er sagt: Bei dem Pogrom,
als ich Kind war,
meiner Taube
riß man den Kopf ab.
16

Auf mehreren Ebenen wird hier Kritik am Vergessen geübt, indem Bobrowski auf eine von Unrecht und Gewalt berichtende Erzählung des russischen Autors hinweist, der 1905 Zeuge der Judenpogrome in Odessa war und 1941 in der Haft starb, wodurch gleichzeitig auch die spätere Zeit der Verfolgungen ins Gedächtnis gerufen wird. Dem entspricht der anklagende Ausruf in den Schlußzeilen:

Leute, es möcht der Holunder
sterben
an eurer Vergeßlichkeit.

In sehr versteckter Manier handhabt Sarah Kirsch das Verfahren des literarischen Zitats in ihrem Reisegedicht „Kleine Adresse“17:

Aufstehn möcht ich, fortgehn und sehn,
ach, wär ich Vogel, Fluß oder Eisenbahn,
besichtigen möcht ich den Umbruch der Welt.
Wo ist die Praxis hinter der Grenze? Wo
Steppenkombinate ? Slums? Streiks?
Weizen im Meer? Segen und Fluch
der Zivilisation? Warum nicht New York?
Durch alle Straßen muß ich in Stöckelschuhn,
dreieckige Birnen suchen im U-Bahn-Schacht,
gehn, alles sehn, was ich
früh aus spreutrockenen Zeitungen klaube.

Die „dreieckigen Birnen“ – die Beleuchtungskörper in der New Yorker U-Bahn – verweisen auf Andrej Voznesenskijs 1962 erschienenen Band Vierzig lyrische Abschweifungen aus dem Poem „Die dreieckige Birne“, in welchem ein USA-Aufenthalt von 1961 seinen Niederschlag fand. In dem Eingangsgedicht18 heißt es:

Ich reiß dem Planeten die Schale ab.
Hopp, jetzt wird saubergemacht!
Ich steig in die Tiefe des Gegenstands
Wie in den U-Bahn-Schacht.

Dort hängen Birnen mit drei Ecken.
Ich will die nackte Seele entdecken.

Durch den stichwortartigen Verweis auf Voznesenskijs Amerikadichtung bekommt die in der „Kleinen Adresse“ mitschwingende Kritik an den Reisebeschränkungen Tiefenschärfe: Evoziert wird das Amerikaerlebnis. das dem sowjetischen Lyriker gestattet war, Sarah Kirsch selbst jedoch damals noch verwehrt blieb.

3
Im Anschluß an die bisher gegebenen Hinweise auf verschiedene Formen der Aufnahme und Verarbeitung sowjetischer Lyrik soll im folgenden anhand einiger exemplarischer Beispiele, und zwar der „Fälle“ Majakovskij und Esenin (Jessenin) sowie des Themas Stalinismuskritik, gezeigt werden, wie die DDR-Lyriker zu den russischen Vorbildern in Widmungsgedichten Stellung beziehen und sich mit der politischen Vergangenheit der Sowjetunion in Form von lyrischen Solidaritätsadressen kritisch auseinandersetzen.
Eine reflektierte Majakovskij-Rezeption war, wie schon eingangs erwähnt, lange Zeit durch dessen Kanonisierung zum Klassiker sozialistischer Lyrik blockiert. An dieser Kanonisierung hatte die berühmte Formel Stalins vom Dezember 1935 – „Majakovskij war und bleibt der beste, talentierteste Dichter der Sowjetepoche“19 – maßgeblichen Anteil. Eine solche Vereinnahmung des russischen Lyrikers als Symbolfigur revolutionärer Kunst wurde etwa auch durch Johannes R. Becher gefördert, der Majakovskij in einem Gedicht seiner 1938 erschienenen Sammlung Der Glücksucher und die sieben Lasten in die Rolle des den gewöhnlichen Menschen entrückten Giganten und Klassikers wies20 und ihn in einem Aufsatz von 1940 als „Weltentdecker“ und „Dichter der Epoche“21 feierte. Obwohl sich bereits 1948 und 1955 Stephan Hermlin22 und Georg Maurer23 darum bemühten, den Dichter „unverbindlicher Emphase“24 zu entreißen und zu einer Revision des traditionellen Majakovskij-Bildes zu gelangen, erfuhr dieses seine entscheidenden Korrekturen erst in den sechziger und siebziger Jahren.
Die Lyriker, die bei der „Entkanonisierung“ Majakovskijs eine nicht unwesentliche Rolle spielten, setzten bei der Auseinandersetzung mit seinem Werk an verschiedenen Punkten an. Diejenigen Autoren, die an Majakovskijs Revolutionsdichtung anknüpften, beschränkten sich nicht mehr auf eine bloß rückwärtsgewandte Revolutionsheroik, sondern werteten sein revolutionäres Engagement als Verpflichtung für die eigene Arbeit. Man versuchte, den „poetischen Drehpunkt“ zu finden, von dem aus Majakovskijs Werk für die Gegenwart, für die Anwendung auf die eigene Wirklichkeit fruchtbar zu machen ist. Überall dort, wo man mit Unduldsamkeit auf die Rechte des Neuen pochte, wurde Majakovskij gern als Kronzeuge genannt. In Werner Lindemanns „Begegnung mit Majakowski“25 wird dieser gar selbst für die Gesellschaftsveränderung in Deutschland aktiv. Er steigt von seinem Sockel und fliegt vom Moskauer Flughafen Šeremetevo nach Berlin:

Den Baustellenstaub auf den Lippen,
stampfen wir Unter den Linden entlang.
… Bettelarmes Deutschland,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavernimm –
ich leih
aaaaaawie ein Deutscher,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie dein eigenster Sohn
deinem Schmerz meine Stimme…

Die letzten Zeilen sind ein wörtliches Zitat aus Majakovskijs unter dem Eindruck seiner Deutschlandreise im Herbst 1922 entstandenen Gedicht „Deutschland“26, in dem er sich mit dem vom Krieg und den Kapitalherren erschöpften Land solidarisch erklärt und – auf das „bessere Deutschland“ vertrauend – Hoffnung auf „rote Rache“ zum Ausdruck bringt.
Nicht an dem Agitator des „Roten Oktober“, dem Verfasser von „Gut und schön“, „Wladimir Iljitsch Lenin“ usw., „sondern an den frühen ,privaten‘ Poemen Majaks, der in die Öffentlichkeit überführten Inszenierung exzentrisch-wütender Selbstauseinanderserzung“27, orientierte sich Inge Müller in ihrem Gedicht „Majakowski“28:

Überall
Auf dem Moorpfad
Auf steinerner Straße
Mit Blut und Hirnen
Tränken wir
Den Leib des Planeten
Und stampfen
Im Gleichschritt
Vergeßt nicht! für uns!
(Unter Pontius Pilatus
Der Wind der Granaten
Zerreißt die Kutte
Das Fleisch.)
Kein Deutscher
Kein Russe
China nicht
Kein Schwarzer
Es war Majakowski
Der Lebendes häutet.
Die Beine heben sich wieder
Rennen.

Der Untertitel von Inge Müllers Gedicht „Nach Wolke in Hosen“, der nahelegt, daß es sich hier um eine Nachdichtung dieses Poems handele, ist irreführend, werden doch bei I. Müller Stichworte und Motive aus verschiedenen Texten Majakovskijs verarbeitet; außer auf „Wolke in Hosen“ (1914–1915) wird auch auf die Poeme „Wirbelsäulenflöte“ (1915) und „Krieg und Welt“ (1915–1916) Bezug genommen. Dabei handelt es sich nicht um eine konventionelle Adaption, sondern um die collagenartige Umsetzung der drei Poeme, die zusammen ca. 70 Druckseiten ausmachen, „in die eine Seite poetischer Stenographie, die der Text Inge Müllers lang ist“29. Wenn es bei Majakovskij (in „Krieg und Welt“) heißt: „Siehe, – / der Schädel / behaart sich wieder, / die Beine kommen herangelaufen / und machen den Mann zum quickmunteren Passanten“30, so steht bei Inge Müller als Reduktionsform für diese und vergleichbare Passagen:

Die Beine heben sich wieder
Rennen.

Die Auseinandersetzung mit dem Kriegsthema bei Majakovskij wird in Inge Müllers Gedicht mit der Frage nach dem Grund für Majakovskijs Selbstmord verknüpft:

Warum
Der bleierne Schlußpunkt? Herzweh, Wladimir?31

Damit ist angesprochen, was viele Majakovskij-Gedichte in spezifischer Weise einfärbt. Werk und Biographie werden in Zusammenhang gebracht und an ihrem geschichtlichen Platz verortet. Ohne daß man als Erklärung für Majakovskijs Freitod fertige Antworten anbietet, wird doch immer wieder ausdrücklich oder implizit auf den Konflikt verwiesen, in dem sich Majakovskij mit seinem politischen und literarischen Programm befand, als in der Sowjetunion mit Beginn des ersten Fünfjahrplans wesentliche Bedingungen der geschichtlichen Phase der Oktoberrevolution außer Kraft gesetzt wurden. Adolf Endler:

Mit seiner Faust schlug er als Gong die Sonne,
dem linken Marsch voraus – etwas zu schnell?
Wo ist das Maß, um seinen Schritt zu messen?
(Etwas zu schnell? Deshalb auch schneller Schluß?)
Noch heute fehlts nach hundertzwölf Kongressen!
Nicht nur den Strophenschritt, die Welt hört auch den Schuß…
32

Der Selbstmord Majakovskijs bedeute nicht, daß seine Vorstellungen durch die geschichtliche Entwicklung überholt worden wären und damit ungültig geworden seien; vielmehr dränge die antizipatorische Dynamik von Majakovskijs Werk dazu, daß sein Programm endlich realisiert wird. Bei Paul Wiens heißt es hierzu:

Wladimir
kam zu mir,
einst ein besessener weltverwalter,
und erklärte:
– Auch unter selbstmördern gibt es
ungeduldige statthalter,
antreiber, trainer.
Einer wie ich liebt es,
regeln zu setzen der neuen mannschaft
postum
.33

Dergleichen von Vertrauen auf historischen Fortschritt und gesellschaftliche Veränderung getragenen Majakovskij-Porträts werden gerade in letzter Zeit vermehrt solche entgegengesetzt, in denen ein sehr viel skeptischeres und distanzierteres Bild gezeichnet wird. So konfrontiert Hans Brinkmann den Enthusiasmus des Dichters Majakovskij mit der rauhen, von Hunger und Entbehrungen bestimmten Wirklichkeit der frühen Sowjetzeit:

Denn der weiß, daß Enthusiasmus
überhaupt nicht ausreicht, redet
vom Sozialismus, dem Mond knurrt der Bauch
und den Soldaten erfrieren die Füße.
Wär er Schuster oder Jesus –
drei Laib Brot! Aber er schustert Verse.
34

Dem literarischen Engagement Majakovskijs wird die Berechtigung nicht abgesprochen, sondern angeklagt wird die politische Entwicklung, durch die seine Zukunftsbegeisterung desavouiert wurde:

Ach, alles darf die Revolution
nur nicht danebengehen.

Noch massivere Kritik hat bereits relativ früh Günter Kunert in seinem Gedicht „Jessenin und Majakowski“35 geübt, wo er diese bis zur völligen Demontage des „heroischen Sängers der Revolution“ radikalisiert:

Schreckszene von der Intensität
alter Bromsilberplatten.
Wachsfigurenstarr.
Selbst die Wunden ergraut
und schon Tradition: die aufgeschlitzten Pulse
des dorfbürtigen Dichters,
darein die Feder getunkt, damit geschrieben
den letzten Vers,
dabei hinterrücks, obwohl bereits verstorben,
verbal niedergemacht
von einem Kollegen, der hält Symptome
für widerleglich
bis zum eigenen eigenhändigen Tod, verblutend
an allzu viel Optimismus gewiß,
verstaubtes Schaubild nun
hinter dem Gegitter kyrillischer Lettern:
eine „historische Lehre“
von höchst verblichenem Purpur.

Hier wird Bezug genommen auf die Polemik, die Majakovskij nach dem Tod Esenins gegen dessen Selbstmord und sein berühmt gewordenes Abschiedsgedicht entfacht hatte. Die von Kunert angesprochenen Schlußzeilen dieses Gedichts lauten:

Sterben ist in diesem Leben nicht neu,
doch auch leben, natürlich, ist nicht neuer.
36

„Nach diesen Versen war Jessenins Tod zu einer Tatsache der Literatur geworden“, kommentierte Majakovskij jene Zeilen:

Sogleich mußte einleuchten, daß dieses starke Gedicht, eben als Gedicht, eine gewisse Anzahl schwankender Menschen zum Strick und zum Revolver greifen lassen würde. Und keinerlei, aber auch wirklich keinerlei Pressekommentare waren imstande, dieses Gedicht zu entkräften. Gegen dieses Gedicht konnte und mußte mit einem Gedicht vorgegangen werden, nur mit einem Gedicht.37

Majakovskij schrieb dieses Gedicht. Es erschien 1926 unter dem Titel „An Sergej Jessenin“38 und endet:

Sterben
aaaaaaaist hienieden
aaaaaaaaaaaaaaaaaakeine Kunst.
Schwerer ists:
aaaaaaaaaaaadas Leben baun auf Erden.

Die Kritik Kunerts an Majakovskijs Reaktion und dessen „Zuviel“ an Optimismus macht deutlich, daß Kunerts Sympathien auf seiten Esenins liegen, dem in der neueren DDR-Lyrik überraschend häufig Porträtgedichte gewidmet werden.39 Kunerts Distanzierung vom Fortschrittsglauben und sein Votum für Esenin können als symptomatisch für die Ablösung der engagiert-operativen durch eine mehr skeptisch-zweiflerische Lyrik gelten, wie sie bei vielen DDR-Autoren seit dem Ende der sechziger Jahre zu beobachten ist.
Esenins Existenz war durch einen tiefen Bruch gekennzeichnet: Als Außenseiter in der Großstadt wurde er, der „letzte Dichter des Dorfes“, wie er sich selbst bezeichnete, auch seiner Rjazaner Heimat entfremdet; die Revolution als metaphysisches Ereignis enthusiastisch begrüßend war er von ihren realen Folgen, wie z.B. der Industrialisierung auf dem Lande, zutiefst enttäuscht. Die erbarmungslosen poetischen Selbstanalysen Esenins, in denen er die Bedingungen seines Scheiterns bloßlegte, reizten immer wieder andere Autoren zur Auseinandersetzung, wie etwa auch in folgender Bemerkung Rainer Kirschs zum Ausdruck kommt:

Mich hat das Ringen um einen Standpunkt bei ihm sehr erregt, voraussetzungslos anzufangen und dabei die Ehrlichkeit in der Selbsterkenntnis, das ungebrochene Reflektieren über ein gebrochenes Verhältnis, dies Bedürfnis, alles zu sagen, auch wenn es hart ist. Diese rückhaltlose Aufrichtigkeit, die aber doch nicht zur Selbstzerfleischung führt. Ja, und dann die Tragik seines Schicksals… All das hat mich bewogen, ihn zu übersetzen.40

Ein in der ersten Person geschriebenes Esenin-Gedicht Heinz Czechowskis liest sich wie eine geraffte Zusammenfassung des pessimistischen Spätwerks Esenins. Die Anfangszeilen: „Nicht genug gelernt, um zu bestehen, / Seh ich mich im Spiegel…“41 verweisen auf eins der letzten Gedichte des russischen Lyrikers. Im Gespräch mit einem als „schwarzer Mann“ apostrophierten Gegenüber zieht der Dichter die Bilanz seines Lebens. Die Schlußwendung: „Ich bin allein … / Und der zerbrochene Spiegel…“42 enthüllt, daß das eigene Spiegelbild als Dialogpartner diente.

Wird in den Majakovskij- und Eseningedichten bereits offizielle Literaturgeschichtsschreibung „gegen den Strich gebürstet“, so ist dies in noch weit deutlicherem Maße in solchen Solidaritätsbekundungen der Fall, in denen das düstere Kapitel stalinistischer Kulturpolitik angesprochen wird.
In eindringlichen Bildern gedenkt Erich Arendt der lange verfemten Marina Cvetaeva. Detailliert wird der Lebensweg der von Autoren wie Achmatova, Belyj, Maršak, Pasternak, Mandel’stam und Vološin hochgeschätzten Dichterin nachgezeichnet: die Jahre der Emigration, in die sie 1922 ihrem Mann, der auf der Seite der Weißen gekämpft hatte, gefolgt war; die Armut, Einsamkeit und Sehnsucht nach dem Land ihrer Sprache, die sie 1939 zur Rückkehr in die Sowjetunion veranlaßten, die Atmosphäre der Stalinschen Säuberungen, denen ihr Mann und ihre Tochter zum Opfer fielen und schließlich der Freitod der Dichterin 1941. Auszugsweise sei hier der zweite Teil des Gedichts zitiert:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaSpäter, vor des
aaaaaaaaaaaaaaaaaaVerfinsterten Braue,
der ungeheuer der
aaagebot,
aaaaaaaaaaaaaaaSchweigen, licht-
aaaaaaaaaaaaaaaverwehrt, das
Signal der Stille einst
zwischen den haß-
verbissenen Fronten.
aaaaaaaaaaaaaaaaaa(Beim Knarren, nachts,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaderTreppen Rußlands, sie hört,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaflügellos, flußauf
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaflußab
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaflatternd Angst).
Im Mantel der eigenen Zartheit
ein vergehendes Licht (keine Zeile
aaaaaaaaaaaaaaaaaain zwanzig Jahren
aaaaaaaaaaaaaaaaaavor die Augen ihres Lands).
Ausgerissen dem Wort
die un-
gespaltene Zunge,
aaaaaaaaaaaaaaasie haben gesprochen
aaaaaaaaaaaaaaaheilig
aaaaaaaaaaaaaaadie Verdrehung, machtliebe-
aaaaaaaaaaaaaaadienerisch, zitternd,
aaaaaaaaaaaaaaaGesichtslose, kellerstumm,
aaaaaaaaaaaaaaahenken.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaVon weit auch gegen sie
führen die eigene Hand:
(Wie lange schon leer-
geschossen
die letzte Umarmung!)
43

Die Rehabilitierung der Marina Cvetaeva setzte erst 1956, mit dem XX. Parteitag der KPdSU allmählich ein. Es dauerte bis 1974, daß in der DDR ein Auswahlbändchen ihrer Werke in deutscher Übersetzung publiziert wurde.44
Lange Zeit zum Schweigen verurteilt und ebenfalls erst nach dem XX. Parteitag rehabilitiert war auch Anna Achmatova, was Adolf Endler in dem lakonischen Gedicht „Nach der Achmatowa fragen oder Besuch aus Moskau 1954“footnote]Goethe eines Nachmittags, a.a.O., S. 87[/footnote] ins Gedächtnis zurückruft:

Fadejew! – Paustowski! – Korneitschuk!
Issakowski! – Bashan! – Schtipatschtow!
Ketlinskaja! – Kassyl! – Katajew!

aaaaa„Ach, lebt die Achmatowa noch?“

Bek! – Lebedew-Kumatsch! – Sjomuschkin!
Scholochow! – Polewoi! – Lugowskoi!
Surkow! – Schaginjan! – Libedinski!

aaaaa„Und lebt die Achmatowa noch?“

Perwomaiski! – Fedin! – Lukonin!
Ja, sie lebt, nun hören Sie doch!
Assejew! – Ashajew! – Fadejew!
aaaaa„Sie lebt, die Achmatowa, noch?“

Die meisten der hier genannten Autoren sind heute weitgehend vergessene, damals aber mit Stalinpreisen ausgezeichnete Schriftsteller. Die Reihe wird ergänzt durch so bekannte Autoren wie Šolochov, Paustovskij, Fedin, Aseev und Kataev, die teils durch Anpassung, teils durch weitgehenden Publikationsverzicht die Stalinzeit überlebten. Der imaginäre Besucher aus Moskau versucht mit der Auflistung all dieser Schriftsteller von der Lebendigkeit und dem Reichtum der Sowjetliteratur zu überzeugen. Erst zum Schluß geht er widerwillig auf die beharrlichen Fragen nach der Achmatova ein: „Ja, sie lebt, nun hören Sie doch!“ In der Schlußzeile: „Sie lebt, die Achmatowa, noch?“ sind Erstaunen, Befriedigung und das Gefühl ängstlicher Sorge um die russische Dichterin eng vermischt. Das syntaktisch besonders betonte „noch“ und das Fragezeichen am Ende zeigen an, daß hier vom Besucher eine Tatsache mitgeteilt wurde, die dem Fragesteller kaum glaubhaft erscheint. Gleichermaßen kommt hier Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß Anna Achmatovas Name, obwohl sie noch lebt, in der Liste übergangen wurde.
Dafür wird der Name Aleksandr Fadeevs – in pointierter Stellung am Anfang und am Ende der Aufzählung – zweimal genannt. Fadeevs Aufstieg zum Generalsekretär des sowjetischen Schriftstellerverbandes 1946 erfolgte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ächtung der Achmatova, die im Zuge einer groß angelegten Kampagne gegen die beiden Leningrader Zeitschriften Leningrad und Zvezda als „typische Vertreterin einer unserem Volk wesensfremden, leeren, ideenlosen Poesie“ beschimpft wurde. Ihre Gedichte, so heißt es in einem Parteibeschluß, seien „vom Geist des Pessimismus und der Depression“ durchdrungen; sie „fügen der Erziehung unserer Jugend Schaden zu und können in der Sowjetliteratur nicht geduldet werden“.45 Mit dieser Resolution wurde eine Phase sowjetischer Kulturpolitik eingeleitet, die unter der Bezeichnung „Ždanovära“ traurige Berühmtheit erlangte und in der Fadeev, der maßgeblich an der Verhaftung und dem Tod zahlreicher Schriftsteller mitschuldig war, eine wichtige Rolle spielte. 1954 indes, nach dem Tod Stalins, war seine Zeit vorüber46 und war es wieder möglich, Besuch aus Moskau nach der Achmatova zu fragen.
Daß sich die Zeiten heute zwar wesentlich, aber nicht völlig geändert haben, wird deutlich, wenn Wolf Biermann „Berichte aus dem sozialistischen Lager von Julij Daniel“ ins Deutsche bringt.47 Die Formel „sozialistisches Lager“ ist dabei durchaus doppeldeutig zu verstehen, denn Julij Daniel, auch bekannt unter dem Pseudonym Nikolaj Aržak, war 1965 zusammen mit Andrej Sinjavskij wegen der Veröffentlichung „antisowjetischer Erzählungen“ im Ausland verhaftet worden und verbüßte fünf Jahre Lagerhaft bei Pot’ma.
Gerade die grundsätzliche Solidarität mit dem Sozialismus fordert die Kritik an seinen historischen Entartungen und seinen Fehlern heraus. Auch der DDR werden ihre Versäumnisse vorgerechnet. „Sozialistischer Biedermeier“48 hat, wie es Kurt Bartsch beschreibt, den revolutionären Elan verdrängt, oder – wie es in einem Il’ja Erenburg gewidmeten Gedicht von Paul Wiens heißt – dem Sturmvogel, Gor’kijs Symbol für die Revolution, sind die Flügel gestutzt:

Bei uns
sitzt der Sturmvogel artig gestutzt
auf dem grünen richtkranz der republik.
Zur feier hat er sich die brille geputzt.
Flieg, maikäfer, flieg…

Im sturm der zeit
der grüne richtkranz schwankt.
Bei uns
fühlt sich der vogel befreit
und – dankt.

Oft schlägt ihm das herz im hals,
oft in der windigen hose…
Doch verläßt er sich blindlings
– gegebenenfalls –
auf die amtliche wetterprognose.
49

Anneli Hartmann

 

 

 

Vorwort

Das Lyrikertreffen Münster führt seit 1979 zweijährlich etwa zwanzig deutschsprachige Lyriker und ebensoviele Literaturwissenschaftler und -kritiker zusammen. Die erste Veranstaltung haben wir in dem ebenfalls in der Collection S. Fischer erschienenen Band Lyrik – von allen Seiten dokumentiert. Mit dem hier vorgelegten Band Lyrik – Blick über die Grenzen präsentieren wir Gedichte und Referate des zweiten Lyrikertreffens, das vom 27.–31. Mai 1981 stattfand. Die öffentlichen Lesungen in großen und in kleinen Gruppen und die Lesungen in Schulen zogen insgesamt mehrere tausend Zuhörer an. Viel hat dazu gewiß beigetragen, daß die meist unambitiöse Tonlage der ,Neuen Subjektivität‘ Ende der siebziger Jahre der Lyrik viele neue, oft junge Leser erschlossen hat. Es wäre schön, wenn der erneute Wandel der Sprachformen dieses Publikum erhalten könnte.
Bei der Einladung der Autoren berücksichtigten wir diesmal zwei Gruppen: 1. jüngere Lyriker, die in den siebziger Jahren ein breiteres Publikum erschlossen hatten, hier seien stellvertretend genannt Jürgen Theobaldy und Christoph Derschau; und 2. Lyriker, die seit Jahrzehnten, weitgehend unabhängig vom Wechsel der Trends, ihren Weg gehen, etwa Wolfgang Bächler und Johannes Poethen.
Die hier abgedruckten Gedichte sind nicht in allen Fällen identisch mit den in Münster vorgetragenen. Gegenüber dem ersten Band ist der Anteil der Erstveröffentlichungen gestiegen.
Im zweiten Teil der Veranstaltung kamen die Literaturwissenschaftler in einem Symposion zu Wort. Ihre Beiträge konzentrierten sich auf den Aspekt, der diesem Band seinen Namen gab, auf einen Blick über die Grenzen. In zwei parallel tagenden Sektionen ging der Blick nach Westen und nach Osten. Dabei war es besonders reizvoll, Referate gegenüberzustellen und zu diskutieren, in denen Beziehungen zum einen zwischen der westdeutschen Lyrik und der Lyrik der USA (s. in diesem Band S. 139–158) und zum anderen zwischen der Lyrik aus der DDR und aus der Sowjetunion (s. S. 182–200) erörtert wurden.
Freilich kommt nicht alles seinerzeit Vorgetragene hier zum Abdruck. Dazu gehören z.B. Beiträge zur italienischen Lyrik (Lea Ritter-Santini) und zum Verhältnis zwischen französischer und amerikanischer Lyrik (Jacques Roubaud). Die Stellen der durch sie behandelten Literaturen bleiben hier auch deshalb offen, weil sich die Idee entwickelte, in einem späteren Lyrikertreffen auf die Poesien der näheren und weiteren europäischen, insbesondere der west- und südeuropäischen Nachbarschaft ausführlicher einzugehen.
Dem komparatistisch und international orientierten Kernteil der Aufsätze geht eine Gruppe von Essays voran, die sich mit grundsätzlichen literaturwissenschaftlichen und poetologischen Fragen befassen. Eine weitere, bereits in Bd. 1 eingeführte Rubrik mit Beiträgen zu einzelnen Autoren beschließt den Aufsatzteil.
Für den Anhang stellte Hansjürgen Bulkowski dankenswerterweise eine Bibliographie von 1978 bis 1982 erschienenen deutschsprachigen Gedichtbänden zusammen.
(Neben dem wissenschaftlichen Symposion fand auch ein didaktisches Colloquium statt, das 1983 im dritten Lyrikertreffen fortgesetzt wurde. Das haben wir in einem eigenen Band zusammengefaßt, der kürzlich erschienen ist: Zeitgenössische Lyrik in der Schule. Münster: Aschendorff 1984.
Das dritte Lyrikertreffen Münster, 1983, stand übrigens unter dem Thema „Werte und Wertung“ und soll möglichst bald dokumentiert werden.)
Zum Schluß gilt unser Dank den Autoren, Wissenschaftlern und Zuhörern des zweiten Lyrikertreffens, vor allem den Teilnehmern, aber auch denen, die kommen wollten, aber nicht kommen konnten. Er gilt der Stadt Münster und der Droste-Gesellschaft für die fortgesetzte Trägerschaft, insbesondere dem Kulturdezernenten, Stadtdirektor Hermann Janssen. Herzlich danken wir auch dem Herausgeber der Collection S. Fischer, Thomas Beckermann, für die fortgesetzte verlegerische Betreuung des Lyrikertreffens. Und, das Programmheft zitierend:

Dankbar werden wir allen für kritische Anregungen zur weiteren Fortsetzung sein.

Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler, Vorwort

 

Seit 1979

treffen sich in Münster alle zwei Jahre Lyriker, Literaturwissenschaftler und -kritiker zu Lesung, Vortrag und Diskussion. Das 1981 erschienene Buch Lyrik – von allen Seiten dokumentiert dieses erste Treffen. Dieser neue Band Lyrik – Blick über die Grenzen hält die wichtigsten Aspekte des zweiten Lyrikertreffens fest.
Während der Maitage 1981 lasen ältere Autoren, die seit langem ihren eigenständigen lyrischen Weg gehen, wie auch jüngere, die erst seit kurzem einem größeren Publikum bekannt sind. Diese Lyriker werden hier mit zum Teil noch unveröffentlichten Texten vorgestellt.
In wissenschaftlichen Beiträgen wurden grundsätzliche poetologische Fragen der Gattung Lyrik erörtert sowie das lyrische Werk einzelner Autoren analysiert. Das Schwergewicht dieser Tagung lag aber, und darauf verweist schon der Titel dieses Bandes, im komparatistischen Bereich. Hier wurde versucht, die deutschsprachige Lyrik in einen internationalen Zusammenhang zu stellen und die Besonderheiten und Entwicklungen der Lyrik in anderen Ländern bekanntzumachen.
Der Band wird beschlossen mit einer Bibliographie der von 1978 bis 1982 erschienenen deutschsprachigen Gedichtbände.

S. Fischer Verlag, Klappentext, 1984

 

Fakten und Vermutungen zu Lothar Jordan + Kalliope
Fakten und Vermutungen zu Axel Marquardt
Fakten und Vermutungen zu Winfried Woesler

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