ERINNERTE STRASSE
Als wäre die zeit abgereist
oder war es eher ein flüchten
war es den tag lang sonnenuntergang
bebte der schatten in den portalen
altes wasser in rostigen krügen
zu dunkel für den durst
Bis in die schallöcher gedemütigt strebt ein turm
noch leis blökend über den fahlen sand
zu den breiteren den himmlischen gewässern
dort wo über den gipfeln zetert
an schäumenden tischen des tanzes
der choreograph des ewigen morgens
Schimmeln läßt hier schmutziger schaum das trottoir
viele vergilbte gardinen lassen die fassaden geifern
während die ameise in der abgetretenen anlage
noch fettreste wegträgt aus der fußspur
des hüpfenden kindes das sich nicht mehr umsah
und auch für immer verschwand
Auch flickt hinter dem knarrenden fenster
diese giftige weib die witwe der zeit
immer wieder das gestreifte hemd der erinnerung
entsetzt starre ich auf das ein und einbiegen
ewig und immer eines schweren schwarzen autos
in die einzige straße von der noch kein foto
Um 1950 führte eine kleine Gruppe von Dichtern eine nahezu explosionsartige Umwälzung in der niederländischen Lyrik herbei. Die Gedichte der sogenannten Fünfziger oder Experimentellen bedeuteten einen radikalen Bruch mit der Tradition. Die Umwälzung wurde vor allem deshalb als so radikal empfunden, weil mit einem Schlag ein großer Rückstand an Entwicklungen im Ausland aufgeholt wurde. Viele „Modernistische“ Richtungen, so vor allem Dadaismus und Surrealismus, waren bis dahin fast spurlos an der niederländischen Lyrik vorbeigegangen. Statt diese Entwicklungen zu kopieren und zu imitieren, machten die Fünfziger sie in den Niederlanden zugänglich, bereicherten sie um neue Dimensionen und konnten so über sie hinausgelangen.
Die traditionelle niederländische Lyrik bot nur kurz krampfhaften Widerstand; der Kampf war schnell gewonnen. Eine andere neue Dichtung als die der Experimentellen gab es damals nur in Ansätzen. Und obwohl seither Dichter aufgetreten sind, die einzeln und als kleine Gruppen andere Entwicklungen durchgemacht haben und andere Wege gegangen sind, hat bis zum heutigen Tag keine andere Richtung so große Bedeutung und so weitreichenden Einfluß erlangt. Man übertreibt daher nicht mit der Behauptung, daß die niederländische Lyrik während der letzten dreißig Jahre überwiegend durch das Werk der Experimentellen bestimmt wurde.
Lucebert wurde seit je von Freund und Feind als der unangefochtene Meister dieser Strömung angesehen. Auch Gegner der ersten Stunde, die ihn gern als kulturlosen und kulturfeindlichen Barbar hinstellten, anerkannten ihn nichtsdestoweniger immer wieder als echten Dichter, der wie alle großen Dichter durch die treibende Kraft einer ganz und gar eigenen und selbständigen Sprache überzeugt. Der Ehrentitel „Kaiser der Fünfziger“, der ihm schon früh vom Kritiker einer Wochenzeitung verliehen wurde, blieb über die Jahre hin das Epitheton seines Namens. Auch die vielen Nachdrucke seiner Gedichtbände und -sammlungen zeugen von nahezu allgemeiner Anerkennung.
Gleichzeitig und fast ebenso unisono gilt Luceberts Dichtung als schwer zugänglich, um nicht zu sagen als hermetisch. Da die niederländische Literaturkritik wenig dazu beigetragen hat, seine Dichtung transparenter zu machen, muß die Wertschätzung auf Eigenschaften beruhen, die wenig zu tun haben mit Verständnis für oder Einsicht in das Ziel seiner Dichtung. Wir haben hier ein Schulbeispiel für T.S. Eliots These „A poem can communicate before it is understood“. Nicht daß die Eigenschaften, die dies bewirken, unwirklich oder irrational wären – es sind im Gegenteil die Eigenschaften, die stets und überall das Kennzeichen großer Dichtung sind; und nicht sie werfen Schwierigkeiten auf. Diese rühren daher, daß die Literaturwissenschaft kein Instrumentarium zur Verfügung hat, um sie halbwegs objektiv zu beschreiben.
Klangeffekt, Ton, Rhythmus, „Atem“, eine eindrucksvolle, aufs äußerste gespannte Sprache, eine alle Fesseln der Phantasie sprengende Metaphorik, die innerhalb eines Gedichts, ja bisweilen innerhalb einer Zeile die überraschendsten Kapriolen schlägt, all das ist im Übermaß in Luceberts Dichtung gegenwärtig. Es überrumpelt den Leser und hat auf ihn, losgelöst von jeder Bedeutung in einem mehr rationalen Sinn, eine fast hypnotisch-halluzinative Wirkung. Treffend charakterisiert der Dichter und Kritiker J. Bernlef diesen Aspekt in einem Rückblick auf seine erste Begegnung mit Luceberts Dichtung in den 50er Jahren: „Luceberts Gedichte waren keine Beschreibung von Gefühlen oder Ereignissen, wie ich das von Gedichten gewohnt war, sondern viel eher komplizierte und großenteils unverständliche alchimistische Reaktionen mit Geknister, Funken und gehöriger Rauchbildung, die jede Interpretation unmöglich und überflüssig machten.“
Luceberts Poesie besitzt teils durch Sprachmagie, teils unabhängig von ihr einen hohen Grad von Suggestionskraft. Der Leser hat das Gefühl, nein die Überzeugung, das Gedicht handele von diesem und jenem, vieles und Bedeutendes sei involviert, ohne daß er auch nur annähernd durchschaut, was. Merkwürdig ist, daß viele Leser dies zwar als eine Kommunikationsstörung empfinden, aber nur selten dazu tendieren, den Dichter dafür verantwortlich zu machen; sie suchen sehr lange die „Schuld“ bei sich und ihrer Insuffizienz.
Eine dritte Qualität neben Sprachmagie und Suggestionskraft sind die große Mannigfaltigkeit der Stimmungen und die Vielfalt der Themen in Luceberts Dichtung. Sie können wahrgenommen werden, ohne daß man sich über die genaue Zielsetzung dieses oder jenes Gedichtes Rechenschaft ablegt. Man vernimmt oft im selben Gedicht Wut und -Spott und hymnisch-erhabene Töne. Neben höchster Verwirrung und Verzweiflung trifft man klassische Ruhe (auch der Form), neben heftiger Auflehnung gegen Einengung von Mensch und Gesellschaft, verträumte Kontemplation; Ironie und Erbarmen, Fröhlichkeit und Verbitterung.
Lucebert scheut keines der großen Themen: Geburt, Liebe, Tod, Krieg, Zerstörung, Niedergang und Neubeginn; sie ziehen vorbei in „Erzählungen“ und imaginären Geschichten, die oft die Dimension von (selbstgeschaffenen) Mythen haben. Als dazugehörige Figuren erscheinen Götter und Teufel, Herrscher und Sklaven, Priester, Himmelskörper, Naturelemente, Tiere, Geister und Spione. In dieser Mannigfaltigkeit ist es schwierig, ein konsistentes Menschen- und Weltbild auszumachen; aber das steht im Augenblick auch noch nicht zur Debatte.
Bis hierhin kann gelangen, wer nichts anderes tut, als diese Gedichte spontan intuitiv zu erfassen und sich ihnen hinzugeben. Leider ist die niederländische Literaturkritik vorläufig noch nicht viel weiter gekommen. Auf Grund vieler Umstände, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann – schlichtes Unvermögen spielt sicher eine wichtige Rolle dabei −, ist bei ihr (und auch im Literaturunterricht und in der öffentlichen Meinung, soweit sie sich überhaupt auf Poesie einläßt) die Meinung weit verbreitet, daß an der experimentellen Lyrik nichts zu begreifen und nichts zu verstehen ist; daß man sie allein intuitiv erfassen und sich ihr hingeben muß (kann). So hat man aus der Not des schwierigen Verständnisses eine Scheintugend gemacht, und die Kritik ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, in impressionistischer Betrachtung stecken geblieben. Die genannten Qualitäten, die in der Tat allein durch intuitives Erfassen erfahren werden können, erhalten keine zu geringe Bewertung durch die Feststellung, daß ein ausschließlich intuitives Vorgehen einseitig und beschränkt ist, umso mehr wenn es ein mehr kritisch-analytisches Vorgehen nach dem Motto blockiert, daß dieses „dem Mysterium der Poesie“ Gewalt antue.
Versuche, Luceberts Dichtung analytisch anzugehen, fehlen nicht ganz, aber ihre Zahl steht zu dem Interesse an seinem Werk in keinem Verhältnis. Über ihre Ergebnisse kann nur mit vorsichtiger Zurückhaltung gesprochen werden, weil sie fragmentarisch und vorläufig sind. Sie machen vor allem klar, wieviel noch ungeklärt ist und untersucht werden muß.
Analyse und Interpretation einzelner Gedichte haben in erster Linie die bereits bestehenden Erkenntnisse vertieft und nuanciert: So erweist sich die vielgerühmte Spontaneität – wie zu erwarten – als ein Bild oder Eindruck von Spontaneität, die über eine höchst intelligente und raffinierte Anordnung assoziativer und suggestiver Mittel geschaffen wurde.
Der zweite Bereich, für den die kritische Analyse neue Erkenntnisse erbracht hat, umfaßt das Experiment mit der Sprache als Material. Der Begriff „Experiment“ und sein Inhalt entstammen der fast gleichzeitig (mit den Fünfzigern) entstandenen kongenialen Strömung in der Malerei, die unter dem Namen COBRA international bekannt wurde und der auch Lucebert angehörte. Für die Maler dieser Richtung bedeutete experimentieren vor allem spontanen Umgang mit dem Rohmaterial. Allzu leichtfertig hat man in der Vergangenheit diesen Rohmaterial-Begriff auch auf das Experiment des Dichters übertragen. Erst in der jüngsten Zeit beginnt die Einsicht an Boden zu gewinnen, daß Farbe und Sprache als Materialien sich so fundamental voneinander unterscheiden, daß das Experiment des Dichters ganz andere Implikationen hat als das des Malers. Auf jeden Fall scheint Experimentieren mit der Sprache als Material erheblich mehr zu beinhalten als Spielen mit Klang und Form. Das Experiment findet vor allem in der Schicht der Wortbedeutungen und syntaktischen Verbindungen statt. Es zielt auf die Zerstörung der erstarrten Codes und richtet sich gegen die Sprache als Kommunikationssystem. Mit Hilfe von Polysemie und Ambiguität werden Bedeutungen gegeneinander ausgespielt. Bestehende Bedeutungen werden systematisch unterhöhlt, um die Worte für neue Bedeutungen frei zu machen. Weil Zerstörung und Aufbau gleichzeitig stattfinden und weil sie im Sprachgebrauch stattfinden, sind die Gedichte, in denen das geschieht, höchst komplizierte Prozesse. Die Darstellung dieses Aspekts in Luceberts Dichtung steht noch fast gänzlich aus. Das gilt auch für die zunächst überraschende Entdeckung, daß das Werk des Dichters, den man so gerne als kulturlosen Barbar darstellte – zumindest als kindlichen Naiven −, stark in der Tradition verwurzelt zu sein scheint. Jedoch ist Tradition nicht oder nicht allein die der offiziellen westlichen Kultur; es handelt sich um viele alternative, „unterirdische“ Kulturtraditionen, Denkarten und Weltanschauungen, mit denen er eine enge Verbindung eingegangen ist. Nach und nach, aber noch unvollständig werden die Implikationen und Konsequenzen dessen sichtbar, was ein Kritiker einmal mit den Worten umschrieben hat „Luceberts höchst persönliche Irrfahrt durch das unendliche Jagdrevier der Weltkultur“.
So wurden – um einige Beispiele anzuführen – Verbindungen zu Gnosis und Alchimie nachgewiesen (letztere „gefiltert“ durch die psychologische Interpretation, die Jung von ihr gab), zu kabbalistischen und anderen Formen jüdischer Mystik, zu mystischen Strömungen überhaupt und zu Mythologien aller Himmelsrichtungen und Zeiten, zu östlichen Denkweisen wie Taoismus, Lao-Tse und modernem Zen-Buddhismus. Erstaunlich ist dabei, daß es Lucebert gelingt, all diese in Zeit und/oder Raum so weit entfernten Strömungen konkret auf die Gegenwart zu beziehen, auf die aktuelle „menschliche Situation“, auf die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da geographisch näher, soll besonders erwähnt werden die spezielle Beziehung, die Lucebert zu deutschen und zu deutschsprachigen Dichtern hatte: zunächst und vor allem zu Hölderlin, dann u.a. zu Goethe, Nietzsche, (dem späten) Rilke, Trakl, Hans Arp.
Als oberflächlich können alle diese Verbindungen nicht charakterisiert werden. So erweist sich ein Gedicht, das auf den ersten Blick nur wenig kabbalistische Züge hat, bei näherer Analyse als durch und durch kabbalistischer Text. Ein Miniatur-Gedicht über ein chinesisches Gemälde aus dem 13. Jahrhundert ist allein deshalb kein rein chinesisches Gedicht, weil es in niederländischer Sprache geschrieben ist. Experten auf dem Gebiet der bildenden Kunst gestehen ein, daß man durch Luceberts Fünfzehn-Zeilen-Gedicht „Moore“ ebenso viel Einblick in das Wesen von Moores Kunst erhält, wie wenn man seine Werke besichtigt und studiert oder sich durch eine halbe Bibliothek Bücher durchkämpft. Auch die japanischen Epigramme in der Anthologie sind Musterbeispiele für das, was man, weil Begriffe wie Adaption und Assimilation zu schwach dafür sind, am besten als (gelungene) „Mimikry“ bezeichnen kann. Der Kern von Luceberts Vielseitigkeit und Meisterschaft dürfte wohl seine Fähigkeit sein, sich so intensiv in einen Stil, ein Genre, eine Denkweise oder eine Mentalität einzuleben, daß er vorübergehend in ihr versinkt und in der Lage ist, aus dem Inneren einer solchen Mentalität zu dichten. Dies ist mehr als sie zu assimilieren und zu adaptieren. Weil es stets vorübergehend geschieht und aufgrund der Verschiedenartigkeit der Denkweisen und Geisteshaltungen, mit denen er sich auseinandersetzt, könnte sich erklären, warum es so schwierig ist, aus seinen Gedichten ein konsistentes Menschen- und Weltbild zu destillieren. Konsistenz fehlt da entweder ganz oder sie hat synkretistische Züge, was besagt, daß die Unterschiede und Widersprüche zwischen den Bestandteilen nicht aufgehoben werden. Dadurch kann die „eingenommene Haltung“ von Gedicht zu Gedicht verschieden sein, ein gnostisches Weltbild auf eine taoistische Lebensphilosophie folgen, ein buddhistischer Mönch neben dem Schauspieler in einem mittelalterlichen Mirakelspiel auftreten. Offenbar aber braucht der Leser keineswegs eine gute Kenntnis der Hintergründe und „Quellen“ zu haben, um die vorgestellte Auffassung als überzeugend zu erfahren. Rührt es daher, daß diese Auffassung in dem Maße authentischer wird wie die Metamorphose des Dichters vollkommener gelang?
Auf die hier skizzierte Situation kann eine Aussage Luceberts aus dem Jahr 1961 bezogen werden, die zwar in erster Instanz seine Art zu malen betrifft, aber auch seine Gedichte einschließt. Sie lautet:
Alles, was mir einfällt, male ich, ich zeichne und male alles auf alles, alle Ansichten respektiere ich in gleicher Weise, zwischen Motiven treffe ich keine Wahl und ich strebe nicht nach Synthesen, Widersprüche bleiben bei mir ruhig stehen und während sie mit einander im Konflikt liegen, übe ich keinen Widerstand, halte ich mich aus der Schußlinie heraus und erlebe ich die Freiheit, die nur sie mir geben, meine Gemälde, meine Gedichte, diese beglückenden Spielplätze, auf denen Wippen Schaukeln nicht verdrängen, auf denen in Sandkästen Saharas und große Ozeane zusammenfallen.
Übrigens tut sich Lucebert hier selbst Unrecht, indem er den Anschein erweckt, als ob seine Auswahl völlig unverbindlich sei. Das trifft sicher nicht zu. Welche seine übrigen Selektionskriterien auch sein mögen, er entscheidet in jedem Fall immer gegen Gewalt, gegen Macht in jeder Form, gegen Dummheit, und die Freiheit, für die er kämpft, ist nicht nur die eigene.
Wenn Lucebert nicht nach Synthese strebt, heißt dies nicht, daß in seinem Werk keine Einheit bestehe. Allein die Tatsache, daß jeder auch nur einigermaßen mit der niederländischen Literatur Vertraute ein Gedicht Luceberts sofort erkennen wird, zeigt, daß eine solche Einheit existiert: Das ganze Kaleidoskop von Auffassungen, von dem hier nur ein Ausschnitt gezeigt wurde, stellt Lucebert in den Dienst seines Dichtertums. Die Identifikationen und Metamorphosen des Dichters mögen noch so total sein, stets ist auch er selbst präsent. „Außerhalb der Schußlinie“, wie er selbst sagt, aber vielleicht ist es richtiger zu sagen als Beobachter, zugleich beteiligt und distanziert, der der eigenen Auffassung mißtraut, der den eigenen Einsatz relativiert und kritisiert. Auf diese Weise enthält jedes Gedicht zugleich seine eigene Kritik, und erhalten viele der Gedichte einen „dramatischen“ Charakter. Sie beschreiben eine Grenzsituation, ein labiles Gleichgewicht von Gegensätzlichem, das stets Gefahr läuft, gestört zu werden, aber als „kritische Situation“ nie wirklich aufgehoben wird.
In der Erforschung von Luceberts Universum bleibt noch viel zu tun: dabei ist viel zu erleben.
C. W. van de Watering, Übersetzung von Rolf Binner, Nachwort
Von Oktober bis November 1979 fand in Amsterdam eine große Übersichtsausstellung des spanischen Malers Antonio Saura statt, die anschließend von der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf übernommen wurde. Der Katalog enthielt einige Gedichte Luceberts für seinen Malerfreund Saura, die mich zur intensiveren Beschäftigung mit der Poesie Luceberts anregten.
In der Übertragung des inzwischen leider verstorbenen Ludwig Kunz, der sich um die Verbreitung der niederländischen Lyrik im deutschen Sprachraum sehr verdient gemacht hat, erschien bereits 1972 in der Bibliothek Suhrkamp der Band Wir sind Gesichter. Er enthält etwa fünfzig Gedichte Luceberts, die Anfang und Mitte der 50er Jahre entstanden sind.
Ich bin froh darüber, daß der Suhrkamp Verlag meinen Vorschlag, einen zweiten Band ausgewählter Gedichte Luceberts herauszubringen, spontan aufgriff und mir die Übersetzung anvertraute.
Von den insgesamt beinahe vierhundert Gedichten Luceberts sind vierundachtzig in diesen Band aufgenommen, die zum größten Teil seit Ende der 50er Jahre geschrieben wurden. Die Auswahl wurde in der Absicht getroffen, die Vielfalt der Lucebertschen Themen und Formen zur Geltung zu bringen. Ein wichtiges Kriterium bildete allerdings auch der Faktor der Übersetzbarkeit: Luceberts Lyrik zeichnet sich durch eine sprachliche Komplexität aus, die sich in Wortspielen, Ambiguität, Parodie, Paradoxie, in Archaisierungen und Neubildungen manifestiert. Viele Wörter und Wendungen können nicht übersetzt werden, ohne daß dabei die ursprüngliche Vielschichtigkeit verloren geht und das Poetische an Substanz einbüßt. Auf einige, für eine repräsentative Auswahl wichtige Gedichte mußte aus diesem Grund verzichtet werden.
Ein Beispiel für die Komplexität der Lucebertschen Sprache bildet das fünfte Gedicht des Zyklus „gedicht das sich eines kopfes bedient“. Die vierte Zeile lautet im Original: „smachtend naar prins paddevinder“. Die Neubildung „paddevinder“ setzt sich zusammen aus „pad“ (Weg), dem Suffix „de“ und „vinder“ (Finder). Das Wort erinnert an „padvinder“ (Pfadfinder), aber die Zufügung des Suffixes „de“, die das Wort ironisiert, evoziert die zweite Bedeutung des Wortes „pad“, nämlich „Kröte“. Diese Bedeutung „Kröte“ ist in der deutschen Übersetzung weggefallen, doch der Leser kann im Wort „Pfadfinder“ selbst eine Zweideutigkeit „finden“, wenn er beachtet, daß sich in der Aussprache ein Faden kaum noch von jenen Pfaden unterscheidet.
Eine besondere Problematik der Übersetzung aus dem Niederländischen ins Deutsche ist die oft trügerische Nähe der beiden Sprachen. Wenn der Leser die zweisprachig aufgenommenen Gedichte vergleicht, wird er sich fragen, warum er ein bekannt klingendes niederländisches Wort nicht auch im deutschen Text wiederfindet. Ein Beispiel dafür ist der Ausdruck „op kleine schaal“ im Gedicht „poesie ist kinderspiel“, der im allgemeinen „in kleinem, bescheidenem Umfang“ oder „auf kleinem Maßstab“ bedeutet. Das Wort „schaal“ in diesem Gedicht bezieht sich aber auf die Schale des Eies in der ersten Zeile. Im Deutschen geht mit der Wahl „Sphäre“ von beiden Aspekten etwas verloren, man denkt weder an Maßstäbliches noch an ein Ei. Die deutsche Übersetzung „in so kleiner Sphäre denken“ suggeriert aber ebenfalls die gewisse Beschränktheit, von der Lucebert ausgeht, und sein „Ei“ steht im Original auch für Erdkugel, bei der man sich „Sphärisches“ vorstellen kann.
Ich habe beim Übersetzen versucht, die Eigenart der Texte zu wahren, so daß die semantischen Aspekte dominieren. Luceberts Klangfülle, Alliteration und Rhythmik kommen in der deutschen Version dagegen manchmal zu kurz.
In der Typographie und Interpunktion habe ich keinerlei Eingriffe vorgenommen, da bei einem Malerdichter wie Lucebert der visuelle Aspekt von besonderer Bedeutung ist. Die Groß- bzw. Kleinschreibung und die Interpunktion wird vom Dichter selbst unterschiedlich gehandhabt, wobei er offenbar in seinen letzten Gedichten weniger auf Kleinschreibung besteht.
Die Gedichte sind strikt chronologisch angeordnet. Meine Textvorlagen waren dabei die Ausgabe der Verzamelde gedichten (bis 1974) und der Band Oogsten in de dwaaltuin (der 1981 erschienen ist).
Herzlich möchte ich an dieser Stelle Lucebert danken, der sich die Schwierigkeiten des Übersetzers zu eigen gemacht hat und immer bereit war zu helfen.
Rosemarie Still
selbst sagt über sein Werk und zu seiner Arbeitsmethode: „Manchmal fange ich zu schreiben an, weil ich es einfach schön finde, zu spielen, aber nicht selten wird aus dem Spiel bitterer Ernst. Dann habe ich das Gefühl, daß ich mir selbst mit dem, was ich schreibe, etwas antue. Poesie wird dann eine Form von emotionaler Selbstkritik… Ich bin bestimmt kein irdischer, anekdotischer, didaktischer oder moralisierender Dichter. Was die Poesie betrifft, so stehe ich schon ein bißchen auf der Seite der Ansteller und Wichtigtuer… Ich bin kein Nihilist, ich bin ein Mystiker, der alles relativiert, ein skeptischer Schweber, ein vorsichtiger Luftikus. Ich liebe Nonsens, aber Nonsens rückt für mich nicht nur die Sprache ins Ungewisse.“
Lubertus Jacobus Swaanswijk (Jahrgang 1924) dichtet und malt unter dem Pseudonym Lucebert, das er wie folgt erklärt: „Luce bedeutet Licht, und Bert bedeutet auch Licht. Es ist eine Umsetzung von Brecht, vergleiche das englische ,bright‘. Es ist also ein Pleonasmus. Ich heiße Lubertus Swaanswijk, ich halbe also nur ,ce‘ dazwischen gesetzt.“
Von Lucebert erschien 1972 in der BS eine Gedichtauswahl mit dem Titel Wir sind Gesichter in der Übersetzung von Ludwig Kunz. Die Anordnung des neuen Bandes erfolgt nach chronologischen Gesichtspunkten und möchte einen Überblick über alle Perioden des Dichters, d.h. die Zeit von 1950 bis 1980/81 geben.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1981
„Das ist möglich“ schrieb Lucebert Mitte der fünfziger Jahre. Das Gedicht bildet den Kern des Bandes amulet (1957), der eine tiefe Krise seines dichterischen Schaffens zum Ausdruck bringt. Ein knappes Jahrzehnt zuvor, als sein Debüt die politisch und kulturell konservativen Niederlande schockte, war Lyrik zu verfassen für Lucebert gleichbedeutend mit bewegt sein, in Bewegung bleiben und etwas bei anderen zu bewegen. Die Schrecken des Krieges und des Faschismus hatten für ihn die Sprache besudelt. Die herrschende (aus der Vorkriegszeit stammende) Ästhetik sah er als erstarrt und statisch an, völlig unzureichend, dem Bankrott der bürgerlichen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Er wollte die Sprache erneuern und dynamisieren. Er erneuerte damit die niederländische Lyrik.
In dem frühen Gedicht „romanze“ finden sich Spuren davon. In den Sprachbildern wie auch in der Syntax vollzieht sich ein Widerstreit zwischen Erstarrung und Bewegung – siehe die „bronznen flammen“ und den „steinernen strom“. Die Lektüre von Hans Arp war eines der Elemente, die Lucebert lehrten, auf „neuen harfen“ zu spielen. In den „alten musikmenschen“ ist Luceberts Faszination für Friedrich Hölderlin erkennbar. Sie erinnern an das romantische Bild des Dichters, der von alters her eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen hat.
Die kulturelle Elite hatte in den fünfziger Jahren bald wieder zu ihrer habituellen Gleichgültigkeit gegenüber den verpflichtenden Seiten der Kunst zurückgefunden. Diese Gleichgültigkeit macht jeden lyrischen Entwurf einer neuen Sprache zu einer individuellen Angelegenheit. Lucebert wollte diese Niederlage nicht aus seiner Lyrik verbannen. Deshalb ist diese gesellschaftliche Krise stets als Krise seiner Lyrik nachweisbar. Am deutlichsten zeigt sich das in amulet, da der Gedichtband als Versuch entstand, die Krise zu überwinden.
„das ist möglich“ kreiert in der Mitte des Bandes einen utopischen Raum. Lucebert präsentiert sich und seinen Lesern, mit denen er sich, wie aus den letzten Zeilen hervorgeht, identifiziert, das Bild des Spielmanns/Dichters, der selbst in Bewegung ist und andere zur Bewegung animiert. So leicht, wie dieser sakral tanzende und singende Dichterkönig ist, können auch „wir“ werden, wenn wir seiner Ordnung folgen. Er ist wie ein Mensch im Paradies – in einem vollkommen gleichwertigen Spiel mit Luft, Wasser, Erde und Feuer.
Die zweite Strophe formuliert in nuce Luceberts Poetik. „der weg des wortes“ beschreibt, wie er arbeitet, mit offenem Ohr und Auge für alle visuellen, akustischen und semantischen Möglichkeiten, die in Wörtern, Wortfragmenten und Wortkombinationen stecken. Dieses Spiel des Möglichen spielt die Sprache mit ihm, und er spielt das Spiel mit, indem er entschieden und unerwartet eine Auswahl trifft. Die von Gleichrangigkeit geprägte Wechselwirkung verleiht seiner Dichtkunst eine unerhörte Dynamik.
Luceberts Traum, diese dichterische Dynamik könne die korrumpierte Sprache der Nachkriegsgesellschaft dynamisieren, die rings um das Verschweigen der jüngsten Schrecknisse ins Stocken geraten war, erwies sich bald als unrealistisch. Was nach seiner Erkenntnis „möglich“ war und wonach es ihn verlangte – „durchsichtig sein“ – wurde nicht real. Es brachte seine Lyrik buchstäblich zum Stillstand. Anfang der sechziger Jahre setzte seine dichterische Hand aus. Fast zwei Jahrzehnte veröffentlichte er keinen Gedichtband mehr.
Das Geheimnis von Luceberts Doppelkünstlerschaft liegt darin, dass derselben Hand weiterhin ein nicht versiegender Strom Zeichnungen entsprang. Aus den Erinnerungen von Freunden und Kollegen wissen wir, dass er immer und überall zeichnete – anfangs auf Zettel, auf denen er auch Ansätze zu Gedichten notierte. Es war, als könne aus den ersten Linien auf dem Papier ebenso gut ein Gedicht wie eine Zeichnung erwachsen. Worauf es ankam, war, dass Auge, Hand und Ohr in Bewegung blieben.
Als die Lyrik aussetzte und Lucebert sich ganz der Malerei, den Lithos und Radierungen widmete, blieb er durch die Handschrift seiner Zeichnungen mit der Lyrik verbunden. Im Laufe der Jahre entstanden so neben Tausenden anderen auch Hunderte Zeichnungen, die den Eindruck einer nicht von der Konvention, sondern vom Zufall gesteuerten, höchstpersönlichen Kalligraphie vermitteln. Mitunter sind Rudimente des Alphabets zu erkennen, mit einer Vorliebe für den Buchstaben A, wie in der hier wiedergegebenen Zeichnung vom 17. Januar 1994 – sie wirkt wie ein stotternder Versuch, das Alphabet von Neuem zu beginnen und eine neue Sprache zu schreiben. Es erinnert an das, was er in seinem Debüt als Suche nach dem „analphabetischen Namen“ bezeichnet. Aber auch in den Zeichnungen, die in zahllosen Varianten das menschliche Drama von Macht, Gewalt, Angst und Verzweiflung aufführen, dominiert die Linie.
1981 endete die Phase des Schweigens. Im Kern der Gedichte der nun beginnenden letzten Phase bis zu seinem Tod im Jahr 1994 ist die positive Utopie des „das ist möglich“ einer negativen Utopie gewichen. Das ist der Raum der Erinnerung an die Unmöglichkeiten der Poesie und an die Niederlagen des Dichters; es ist der Raum der permanenten Krise der Kunst, der nur noch die Rolle eines Divertimentos zukommt. Dass sie diese Krise hartnäckig sichtbar macht, verhindert ihre Kapitulation vor der Unverbindlichkeit.
Das Gedicht „zwei wissen mehr als einer“ kann als Gedicht über die eigene Doppelkünstlerschaft gelesen werden, geht es darin doch um Bilder und Wörter. Es registriert zugleich die Ohnmacht der Lyrik – als Provokation für Leser und Dichter. In einem Gedicht kann die Sprache auf alle möglichen Arten in Bewegung gebracht werden, doch effektiv ist das nicht, der Effekt ist nur Schein: „scheinbar neu bereichert die sprache“.
Das Zeichnen, das in einem unübersehbaren täglichen Strom ein Leben lang ohne zu stocken weiterging, war für Lucebert der Raum, in dem er und seine sehende Hand weiterspielen, -tanzen und -singen konnten. Wie das Leben für ihn Zeichnen war und das Zeichnen leben, zeigt vielleicht ein seltsamer Sachverhalt. Lucebert zeichnete überall und immer, auch im Krankenhaus, das er Ende April 1994 wegen einer Operation aufsuchen musste. Nach seinem Tod am 10. Mai stellte sich heraus, dass er einige seiner letzten Zeichnungen auf einen Zeitpunkt nach der Operation datiert hatte, auf die er wartete und aus der er nicht mehr erwacht war.
Hans Groenewegen, die horen, Heft 236, 4. Quartal 2009
Aus dem Niederländischen von Rosemarie Still
Lucebert 1924–1994
Ich habe sie alle noch, die Gedichtbände von Lucebert, mit ihren spinnenhaften Zeichnungen, in denen ein großes Herz hing mit aufgeblähten Augen, die kleinen Tieren glichen, fröhliches Gekritzel mit Abgesandten aus der Monsterwelt, Traumfiguren aus Tinte, die lachend neben der Wirklichkeit herliefen auf dem Weg zu Festen und Melancholie.
bei dieser Neigung zu Tiergestalten
ist beherrschte Einkehr Frevel
meine Fingerspitzen fallen mir ab
wenn ich meine Augen berühre
mein rundes und dichtes All ein Grab
das zur geheimen Seite hin offensteht
Cees Nooteboom, in Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008
Ausstellung LUCEBERT | 100 JAHRE LICHT
Die Galerie,
Lucebert 100
Lyrikzeitung & Poetry News, 15.9.2024
Lucebert liest fünf seiner Gedichte.
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