Ludwig Harig: Zu Alfred Lichtensteins Gedicht „Die Schlacht bei Saarburg“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Alfred Lichtensteins Gedicht „Die Schlacht bei Saarburg“ aus Alfred Lichtenstein: Gesammelte Gedichte. –

 

 

 

 

ALFRED LICHTENSTEIN

Die Schlacht
bei Saarburg

Die Erde verschimmelt im Nebel.
Der Abend drückt wie Blei.
Rings reißt elektrisches Krachen
Und wimmernd bricht alles entzwei.

Wie schlechte Lumpen qualmen
Die Dörfer am Horizont.
Ich liege gottverlassen
In der knatternden Schützenfront.

Viel kupferne feindliche Vögelein
Surren um Herz und Hirn.
Ich stemme mich steil in das Graue
Und biete dem Tode die Stirn.

 

Trotzlied, nicht Heldengesang

Im Berliner Boersen-Courier vom 22. Februar 1915 konnte man Lichtensteins Gedicht zusammen mit seiner Todesnachricht zum erstenmal lesen. Lichtenstein war schon ein halbes Jahr tot. Der Einjährige im 2. Bayrischen Infanterieregiment mußte gleich nach der Mobilmachung an die Westfront abrücken, und schon in der ersten großen Schlacht des Krieges widerfuhr ihm, was er in seinen Soldatengedichten vorgeahnt hatte: der Spaß würde vorbei sein, nicht mehr in ein Buch würde er blicken, nicht mehr auf einer Wiese liegen, nicht mehr den Strohhut aufsetzen, jetzt würde es nur noch Frieren und Hungern, Zerknallen und Verbluten geben, das arme Hirn würde in einer Ecke des Schädels verrosten müssen.
Vor der Lothringer Schlacht schreibt er sein Abschiedsgedicht; es beginnt: „Vorm Sterben mache ich noch mein Gedicht“, und es endet: „Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot“; er schickt es an seinen Freund Peter Scher. Nach der Schlacht bei Saarburg schreibt er sein letztes Gedicht, er schickt es, eine Woche vor seinem Tod, an Franz Pfemfert, den Herausgeber der Zeitschrift Aktion.
Es ist das Gedicht eines Illusionslosen, eines jungen Dichters, der die verzückten Schreie seiner Zeitgenossen ins lapidare Lamento, ihr feierliches Pathos ins sachliche Sprechen zurücknimmt. Sie alle waren Expressionisten, in ekstatischen Bildern wollten sie ihr Welt- und Lebensgefühl ausdrücken, Lichtenstein nennt den Mond den „Mörder Mostrichtopf“ und sich selbst einen „blutenden Piepmatz“; auch in seinen knappen Versen glüht, verhalten zwar, das heftige Feuer, herrscht, gebändigt, der starke Ton. Doch immer auch blitzt die groteske Wendung, leuchtet das bizarre Bild auf: die Dörfer sind Lumpen, die Kugeln sind Vögel. Sein Schlachtgedicht ist schonungsloses Tableau und komödiantische Kulisse zugleich, noch im schrecklichsten Greuel höhnt der Sarkast, und man hört das Gelächter der Angst.
Ich habe das Gedicht nach dem letzten Krieg in Giedion-Welckers Anthologie der Abseitigen zu erstenmal gelesen, bis dahin kannte ich die Schlacht bei Saarburg aus Vaters illustrierter Kriegsgeschichte Die große Zeit, zwei blauen Leinenbänden in Großformat mit goldgeprägtem Titel und Reichsadler auf dem Einband. Ich stellte mir nach den Beschreibungen heitere lothringische Dörfer in der Sommersonne, ein fröhlich marschierendes Heer, siegestrunkene Helden mit blumengeschmückten Stahlhelmen vor: da auf einmal mit Lichtensteins Strophen, geriet ich in eine Landschaft des Grauens, alles ist in den fahlsten Farben gemalt, es fallen die Wörter Nebel, Blei, Lumpen, drücken, reißen, qualmen, wo Vaters Kriegsgeschichte erzählt: „Verluste bis zu fünfzig Prozent ertrugen die Truppen ohne Wanken,… man hörte kein Stöhnen, kein Wimmern“, heißt es bei Lichtenstein:

… und wimmernd bricht alles entzwei.

Wo ich eine ganze Jugendzeit hindurch gelesen hatte: „Der Feind war endlich einmal in Massen und in greifbarer Nähe,… drauf, koste es, was es wolle,… daß bis in die bayrischen Wälder hinein ein Hurra brauste“, da las ich auf einmal:

Ich liege gottverlassen
in der knatternden Schützenfront.

Der Dichter stemmt sich gegen den Tod, es geht nicht um Kaiser und Reich, um Ruhm und Ehre, wie es in den dicken Heroenbüchern heißt, es geht ums Überleben. Lichtensteins Gedicht ist ein Trotzlied, kein Heldengesang. Ich lernte aus ihm, nicht von meinem Vater, was Schützengraben, Sturmangriff, Grabenangst ist.
Lichtenstein fiel am 25. September 1914, fünfundzwanzigjährig, bei Vermandovillers an der Somme; sein irrwitziges Stoßgebet, es hatte nicht geholfen:

Sieh, ich bete gut und gerne
Täglich sieben Rosenkränze,
Wenn du, Gott, in deiner Gnade
Meinen Freund, den Huber oder
Meier, tötest, mich verschonst

Zwei Jahre später, am 13. Oktober 1916, trat mein Vater, zwanzigjährig, mit einem Flammenwerfer zum Sturm auf Ablaincourt an, zwei Kilometer östlich von Vermandovillers. Er blieb am Leben. Er hatte das Beten längst verlernt.

Ludwig Harigaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00