Alfred Lichtensteins Gedicht „Ein Kavalier“

ALFRED LICHTENSTEIN

Ein Kavalier

Ein Kavalier ist unterwegs.
Noch sind ihm viele Mädchen Keks.
Noch ist ein Abend süß und lieb.
Ein Kavalier ist in Betrieb.

Bei Tage scheint die Sonne schön.
Ein Kavalier will sterben gehn:
Ein Kavalier hat seiner Braut
Die letzte Jungfernschaft geklaut.

1912

 

Konnotation

Vom Pathos seiner expressionistischen Dichterfreunde hat sich der promovierte Jurist und Dichter Alfred Lichtenstein (1887–1914) immer ferngehalten. Auf das prophetische Gebaren seiner Kollegen antwortete er demonstrativ mit Ironie. Die morbiden Sehnsüchte seiner Figuren hat er als komisches Spiel inszeniert.
In Lichtensteins Gedichten kommt es häufig zum kalkulierten Zusammenprall von Erhabenheit und Banalität, Ideal und Spleen. Auch sein „Kavalier“ aus dem Jahr 1912 ist ja eine tragikomische Figur nahe der Lächerlichkeit. Bewunderung bleibt dem Charmeur versagt, denn er spielt nur routiniert mit seinen Talenten: „Ein Kavalier ist in Betrieb.“ Ins erotische Ambiente schleichen sich plötzlich Todesahnungen ein, nach dem Raub der „letzten Jungfernschaft“ – ein paradoxes Bild – hat der Kavalier keine Funktion mehr. Die Todesahnungen Lichtensteins erfüllten sich am 25. September 1914: Er starb als Soldat an der Westfront.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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